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Gauck: Erinnerung an Vertreibung leugnet nicht den Nazi-Terror

Joachim Gauck hält in der deutschen Erinnerungskultur eine stärkere Hinwendung zum Schicksal der Vertriebenen für gerechtfertigt. Schlesier, Pommern und Ostpreußen hätten für die nationalsozialistischen Verbrechen mehr bezahlt als Menschen in Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen, sagte der Vorsitzende des Vereins "Gegen Vergessen - für Demokratie" "Das kann man jetzt erinnern, ohne dass damit der Nazi-Terror oder auch die Schuld der Deutschen geleugnet würde", sagte Gauck.

Moderation: Elke Durak | 31.08.2006
    Elke Durak: Wie ist denn das mit uns? Haben wir es hier in Deutschland so schwer mit dem Erinnern an dunkle Zeiten in unserer Geschichte, oder machen wir es uns gelegentlich nur so schwer, und wenn ja, weshalb? Der stellvertretende Kulturstaatssekretär Hermann Schäfer, er hat sich entschuldigt, will es noch einmal tun beim Präsidenten des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora. Der Rücktritt von Schäfer wird aus dem politischen Raum indes weiter gefordert. Vor einem den Opfern des Vernichtungslagers Buchenwald gewidmeten Konzert hatte Schäfer gesprochen, allerdings vor allem über Flucht und Vertreibung von Deutschen, nichts oder kaum etwas zu den KZ-Opfern. Er sei kein Spezialist in Sachen Buchenwald, entschuldigte sich Schäfer, und hätte er gewusst, dass Überlebende im Saal waren, hätte er anders gesprochen.

    Joachim Gauck ist am Telefon. Er ist Vorsitzender des Vereins "Gegen Vergessen - für Demokratie". Herr Gauck, folgten wir dieser Logik, könnten sich die Deutschen bald ganz der eigenen, der deutschen Opfergeschichte zuwenden, wenn es nämlich bald keine Überlebenden mehr gibt. Dürfen wir das?

    Joachim Gauck: Nein, so wird das natürlich nicht geschehen und es ist schon sehr gut und auch sehr notwendig, dass Herr Schäfer sich entschuldigt und eine andere Position bezieht. Wir haben sicher in Deutschland Debatten über die Art unseres Erinnerns, aber bevor wir da tiefer einsteigen, müssen wir sagen, es ist ja nicht so, dass wir die Erinnerung generell wegschieben würden. Das nun kann man über die deutschen Zustände nicht sagen, sondern wir sind das Land, das sich nun nach anfänglichem Zögern nach dem Kriege, als wir die eigene Schuld weniger betrachteten, dann doch sehr intensiv mit eigener Schuld auseinandergesetzt hat, und das hält ja an.

    Sie haben ja vor den Nachrichten ein sehr schönes Beispiel dafür gebracht, dass eben die Themen wie Nazi-Diktatur, wie Krieg und die Art der Kriegsführung der Deutschen nicht in das Vergessen gebracht werden, sondern überall im Land gibt es Professionelle und Ehrenamtliche, die sich darum kümmern, dass das lebendig bleibt.

    Durak: Wie kommt es aber, Herr Gauck, dass Menschen wie Herr Schäfer, aber auch andere dann zu solchen Schlussfolgerungen kommen, auf dem Boden sozusagen oder in der Nähe des Konzentrationslagers nicht über die Opfer zu sprechen, weil - ich frage das jetzt mal - viele Menschen es satt haben, immer an dieses erinnert zu werden und ausschließlich an dieses?

    Gauck: Das gibt es natürlich, dieses Gefühl. Das ist seit Jahren greifbar. A haben sich viele Vertreter der jüngeren Generation an eine gewisse Übersättigung mit diesen Schuldthemen gewöhnt, und sie protestieren dagegen. Vielfach haben sehr hoch motivierte Menschen speziell der 68er-Generation - ich würde fast sagen, dass ich dazu gehöre - manchmal des Guten zu viel getan und junge unschuldige Menschen mit Schuld angesteckt. Das haben wir inzwischen vielfach besprochen und auch als Fehler erkannt, dass Schuld zu konkreten Personen gehört.

    Aber mit dem Element von Betroffenheit oder auch Überwältigung durch Schuld oder Scham hat man eine Art politischer Pädagogik oftmals bevorzugt, die auch auf Abwehr stößt. Psychologen könnten uns das ganz gut erklären. Deshalb gibt es dann so etwas wie eine gewisse Rückwendung von einer bestimmten Bevölkerungsgruppe von diesen eingeführten Themen der Erinnerungskultur. Deshalb brauchen wir oftmals neue Wege, uns alter Themen zu vergewissern, oder wir könnten auch sagen, die neue Generation braucht vielleicht auch neue Vermittlungselemente. Die klügeren Debattenteilnehmer sind dabei, solche Wege zu gehen in neuen Museumskonzeptionen oder auch in neuen Arten vielleicht, diesem Thema sich zu nähern. Es gibt Geschichtswerkstätten, die ganz unbekannten Verfolgten sich zuwenden in einer bestimmten Region, oder die ein altes Zwangsarbeitslager aufsuchen oder die Reste davon. Und dann kann man vielleicht Schüler wieder interessieren und weniger auf die Art und Weise von - wie soll ich das mal sagen - Überwältigung. Da gibt es eine Debatte; das ist schon richtig.

    Durak: Das ist ein Erinnern, ein eher offizielles Erinnern, Herr Gauck, mit Hilfe von Museen, Besuchen, Ausstellungen, Bildern, Büchern. Es gibt aber auch noch das sehr persönliche Erinnern auch vieler deutscher Familien. Und da haben viele - so hat man den Eindruck - den Eindruck, die Deutschen bleiben auf Ewigkeit die ewigen Täter und es wird die persönliche Erinnerung schlecht gemacht. Da kommen wir an die Leute nicht heran?

    Gauck: Wissen Sie, es ist so, dass vielfach - da haben Sie völlig Recht - eine Diskrepanz besteht zwischen dem, was wir offiziell anerkennen, jawohl, die Deutschen sind schuldig, und dann, wie es eine bekannte Veröffentlichung sagt, aber Opa war kein Nazi. Die meisten Opas waren aber Nazis und die meisten Omas auch oder jedenfalls unsäglich viele, mehr als die private Erinnerung hergibt. Deshalb bedürfen wir auch eines gewissen Respekts nun andererseits vor den Deutschen, die stärker als andere Opfer geworden sind. Ich halte das deshalb nicht für einen Paradigmenwechsel, wenn das Thema Vertreibung für eine neue Generation wieder zu einem Thema in Deutschland wird. Das ist etwas anderes als nach dem Krieg, als wir wegen unserer Vertriebenen, Gefangenen und den deutschen Opfern praktisch im Selbstmitleid verharrten und noch nicht Empathie entwickelt hatten für unsere Opfer. Das aber hat sich ja gewandelt in 40 Jahren Aufarbeitungsbemühung und -kultur. Und wenn heute nun Deutsche auch als Opfer erscheinen in diesem geplanten Zentrum gegen Vertreibung, oder wie es dann auch immer heißen mag, in dieser Ausstellung, die jetzt in Berlin zu sehen ist, oder auch in den Publikationen über die Bombenkriegsopfer, dann sehe ich das eher positiv, weil dadurch die Gesamtheit der Leiden in den Blick kommt, ohne dass wir nach 40 Jahren Aufarbeitungsbemühung uns sagen müssen, oh je, jetzt entsteht ein Paradigmenwechsel, wir wollen jetzt nicht mehr Täter sein. Das ist Unfug, und wer das meint belegen zu können, der irrt. Da entsteht oft wieder ein Rechts-Links-Schema, was gänzlich ungeeignet ist, wovor wir uns hüten müssen.

    Durak: Ich verstehe Sie so, Herr Gauck, dass die Mehrheit der Deutschen jetzt in dieser Zeit eher reif ist für auch die Hinwendung zu den eigenen Opfern, die Hinwendung zum Patriotischen?

    Gauck: So sehe ich das.

    Durak:! Wie kommt das?

    Gauck: Das hängt ja auch damit zusammen, dass neue Deutsche da sind. Die übergroße Mehrzahl der Menschen, die in Deutschland leben, ist ja nicht Schuld an diesen schrecklichen Gräueln. Wir können deshalb diesen Schock, der durch unser Land gegangen ist so in Wellen seit '68 - vielleicht begann es auch schon kurz davor -, besser verarbeiten, dass wir wirklich das ganze Ausmaß dieses Verbrechens der Nazi-Diktatur begriffen haben. Nachdem wir das verinnerlicht haben, sind wir auch - Sie haben das Wort reif gesagt; ich würde das auch sagen können - reif genug, diesen anderen Dingen Raum zu geben. Es gibt Menschen; die haben für die Nazi-Verbrechen mehr bezahlt als die Menschen in Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen. Das sind die Schlesier und die Pommern und die Ostpreußen, die alles verloren haben. Viele von uns anderen Deutschen haben manches verloren. Die haben dann ihre ganze Heimat verloren, und das kann man jetzt erinnern, ohne dass damit der Nazi-Terror oder auch die Schuld der Deutschen geleugnet würde. Das müssen wir erst mal lernen. Da gibt es auch Erinnerungsbesitzstände, die verteidigt werden von Menschen, denen daran liegt, ihre Deutungshoheit über die Geschichte zu behalten. Da müssen wir an den Fakten orientiert und an der Wahrheit orientiert offen sein auch für das Leid von Menschen aus unserem eigenen Land.

    Durak: Joachim Gauck, Vorsitzender des Vereins "Gegen Vergessen - für Demokratie". Dankeschön, Herr Gauck, für das Gespräch.