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Gauck-Rede zur Flüchtlingskrise
Das Herz ist weit, die Aufnahmefähigkeit begrenzt

Bundespräsident Joachim Gauck zeigte sich zum Auftakt der Interkullturellen Woche besorgt angesichts der Flüchtlingskrise. Das Staatsoberhaupt sagte bei der Eröffnung in Mainz: "Unsere Aufnahmekapazität ist begrenzt" und mahnte eine offene Diskussion auch über Konflikte bei der Aufnahme von Flüchtlingen an.

Von Anke Petermann | 28.09.2015
    Bundespräsident Joachim Gauck spricht am 27.09.2015 in der Staatskanzlei in Mainz (Rheinland-Pfalz).
    Bundespräsident Joachim Gauck appellierte an die Bevölkerung, weiter aufnahmebereit zu sein. (picture-alliance / dpa/ Frederik von ERichsen)
    Eine "Kraftanstrengung, wie sie die Bundesrepublik selten meistern musste" sieht Joachim Gauck in der Aufnahme vieler Flüchtlinge. In Mainz wird ein bundesweites Jubiläum gefeiert, das Vierzigjährige der Interkulturellen Woche, die 1975 als sogenannter "Tag des ausländischen Mitbürgers" begann. Doch der Bundespräsident will ausdrücklich keine Festrede halten, er mahnt und warnt. Denn als aktuelles Dilemma erkennt er:
    "Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich. Unser Asyl- und Flüchtlingsrecht bemisst sich nicht nach Zahlen, und doch wissen wir unsere Aufnahmekapazität ist begrenzt, auch wenn wir nicht genau wissen, wo die Grenzen liegen."
    Eine breite gesellschaftliche Debatte fordert Gauck darüber. Die entspinnt sich direkt nach seiner Rede. Auf der einen Seite diejenigen, die als schonungslose Offenheit begrüßen, dass der Bundespräsident die Erschöpfung der Helfer und die limitierte Aufnahmefähigkeit anspricht. Auf der anderen Seite diejenigen, die sich mehr Ermunterung und Zuversicht in schwieriger Lage gewünscht hätten.
    "Grenzen aufzumachen und nicht schließen, das finde ich wichtig."
    Ibtessam Beidoun kam vor dreißig Jahren aus Syrien nach Deutschland und arbeitet jetzt als ehrenamtliche Dolmetscherin in der Flüchtlingshilfe. Engagierte Zuwanderer wie sie würdigt der Bundespräsident besonders. Sie zeigten, wie Bürgersinn rund um gemeinsame Werte wachse. An die Adresse der Flüchtlinge, die in Deutschland bleiben, sagt Gauck:
    "Sie sind hier sicher. Die größte Tugend, die ihnen abverlangt wird, ist Geduld. Sie werden auch Frustrationen erleben. Die größte wird gewiss sein, wenn Sie erleben, dass nicht alle Menschen die ihnen nahe stehen, in Deutschland Aufnahme finden können."
    Nachdruck und Eindringlichkeit prägen die Rede
    Das allerdings hängt vom Aufenthaltsstatus des jeweiligen Flüchtlings ab. Gauck fährt fort mit der direkten Anrede:
    "Wir Deutsche erwarten und erhoffen etwas von Ihnen: Bringen Sie sich ein, in der Gesellschaft und hoffentlich bald auch am Arbeitsplatz. Überwinden Sie die Hürden des Beginns. Lernen Sie die Sprache und lassen Sie sich ein auf Ihre Nachbarn und Ihre neue Umgebung. Und vor allem: Machen sie sich eins bewusst: Wir leben hier in einem Land des Rechts und der Freiheit, der Menschenrechte und der Gleichberechtigung der Geschlechter. Es kann auch das Ihre werden."
    "Der wichtigste Auftritt seiner Amtszeit" kommentiert die Mitteldeutsche Zeitung aus Halle. Nachdruck und Eindringlichkeit prägen die Rede des Bundespräsidenten. Problemschwere statt augenzwinkernder Leichtigkeit. Lichtjahre entfernt scheint die Begeisterung, die den Flüchtlingen bei den Willkommensfesten an den Bahnhöfen entgegenschlug. Das "helle Deutschland" kommentierte Gauck vor drei Wochen. "Szenen, die sich nicht beliebig wiederholen lassen", ergänzt er in Mainz. Der Bundespräsident sieht sich in der Verantwortung, die Gefahr der Überforderungen zu benennen: "um die politische Vernunft zu aktivieren", formuliert er, aber ohne das Mitgefühl auszusetzen.
    "So werden wir bleiben, was wir geworden sind - ein Land der Zuversicht." Beifall.
    Die Festrede fiel aus, doch die Interkulturelle Woche, vor 40 Jahren als ökumenische Initiative Kirche von Katholiken, Protestanten und Griechisch-Orthodoxen gegründet, ist eröffnet. Start für Leseabende, und gemeinsames Kochen - Austausch auf Augenhöhe.
    "Sich begegnen", sagt Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. "Einander kennenlernen und gemeinsam Grundlagen finden – darum geht es jetzt."