Hideo Yokoyama: "50"

Im eigenen Leben eingesperrt

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Buchcover zu Hideo Yokoyamas "50".
Mit "50" ist nun auch das Romandebüt des japanischen Bestsellerautors Hideo Yokoyama hierzulande erschienen. © Atrium / Deutschlandradio
Von Kolja Mensing · 03.07.2020
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Gefangen zwischen starren Hierarchien und moralischen Verpflichtungen: Hideo Yokoyamas Krimi "50" spiegelt das Drama der japanischen Gesellschaft. Der Roman ist der höchste Neueinstieg auf unser Krimibestenliste für den Monat Juli.
Der Fall ist so eindeutig wie traurig. Der Polizeihauptwachtmeister Soichiro Kaji betritt am frühen Morgen das Kriminaldezernat und zeigt sich selbst an: Er hat seine Frau erwürgt.
Sie war an Alzheimer erkrankt und hatte ihren Mann gebeten, ihrem Leben ein Ende zu setzen, bevor sie völlig im Dunkeln der Krankheit verschwindet – und sie die Erinnerung an ihren vor Jahren verstorben Sohn verliert.

Kein Zweifel am Tathergang

Am Tathergang – "Tötung auf Verlangen" – gibt es keinen Zweifel. Doch beim Verhör stellt sich heraus, dass die Tat bereits drei Tage zurückliegt. Auf die Nachfrage des vernehmenden Beamten, warum Kaji sich erst jetzt stellt und was er gemacht hat, nachdem er seine Frau getötet hat, schweigt er beharrlich.
Auch seine Vorgesetzten bei der Polizei wollen es lieber nicht so genau wissen und die Angelegenheit schnell vor Gericht bringen.
"50" heißt der Debütroman des japanischen Schriftstellers und Bestseller-Autors Hideo Yokoyama, der mit seinem epischen, 800 Seiten langen Polizeiroman "64" auch in Deutschland bekannt geworden ist.
Sein erster Krimi ist dagegen vergleichsweise knapp gehalten, aber Yokoyama nimmt sich trotzdem Zeit: In einem ruhigen, langsamen Rhythmus schildert er, wie eine Handvoll Menschen versucht, das Rätsel um Kajis Schweigen zu lösen und herausfinden, was es mit der Kalligrafie auf sich hat, die in Kajis Wohnung an der Wand hängt und dem Roman in der deutschen Übersetzung den Titel gegeben hat: "Der Mensch lebt fünfzig Jahre." Kaji – muss man wissen – ist zum Zeitpunkt der Tat 49 Jahre alt.

Ein ausgesprochen japanischer Kriminalroman

"50" ist tatsächlich ein ausgesprochen japanischer Kriminalroman. Spannung erwächst hier nicht aus "Suspense"-Effekten und den psychischen Vorgängen im Innern der Protagonisten, sondern aus einem komplizierten Netz aus steinernen Hierarchien, moralischen Verpflichtungen und schuldhaften Verstrickungen, das nach und nach entrollt wird: Der Polizist Kazmasu Shiki rennt mit eisernem Pflichtbewusstsein gegen Wände an, der aufrechte Staatsanwalt Morio Sase kann den Geistern der eigenen Vergangenheit nicht entkommen, und der gescheiterte Journalist Yohei Nakao opfert sein berufliches Ethos, um im Karrieregefüge seiner Zeitung eine Chance zu bekommen.
Im Japanischen gibt es dafür den Begriff "giri". Auch Soichiro Kaji hat sich sein Leben lang vorbildlich in diesem engen, gesellschaftlich vorgegebenen Rahmen bewegt – und er tut es selbst dann noch, als er seine eigene Frau erwürgt.

Sein Verbrechen: Er verlässt das System

Erst danach, an den beiden Tagen nach ihrem Tod, kurz vor seinem 50. Geburtstag, bricht er aus. Das ist sein eigentliches Vergehen: Kaji verlässt das System.
Und das ist ein Verbrechen, das in Japan genauso geahndet wird wie im Rest der Welt: mit lebenslang.

Hideo Yokoyama: "50"
Aus dem Japanischen von Nora Bartels
Atrium Verlag, Zürich 2020
346 Seiten, 22 EUR

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