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Gay Talese: "Der Voyeur"
Aufzeichnungen eines Spanners

Gay Talese ist in den USA ein großer Name. Er hat den New Journalism miterfunden, fand seine Stoffe in der Realität und verknüpfte dokumentarischen Anspruch mit hoher Subjektivität. Sein neues Werk "Der Voyeur" lässt gerade dies vermissen: Es ist ein schlecht recherchiertes, voyeuristisches Buch.

Von Holger Heimann | 26.05.2017
    Cover des Buchs "Der Voyeur", im Hintergrund ein Brautpaar im Bett eines Hotelzimmers
    In dem neuen Buch "Der Voyer" stützt sich Autor Gay Talese auf die Aufzeichnungen eines Motelbesitzers. (Tempo / imago/imagebroker / Collage: Deutschlandradio)
    Ohne penible Recherche ging für die Stars des New Journalism gar nichts. Bevor Gay Talese seine Großreportage über die sexuelle Revolution in Amerika mit dem Titel "Du sollst begehren" schrieb, war er jahrelang in Swingerclubs und im Rotlichtmilieu unterwegs. Sein neues Buch "Der Voyeur" knüpft thematisch an den zum Klassiker gewordenen Bestseller an und ist auch zeitlich mit diesem verbunden. Der Reporter und Schriftsteller war gerade mit den letzten Arbeiten für "Du sollst begehren" beschäftigt, als ihn Anfang 1980 der Brief eines anonymen Absenders erreichte:
    "Sehr geehrter Mr. Talese,
    ich habe von Ihrer landesweiten Studie zum Sexualleben der Amerikaner erfahren. Ich schreibe Ihnen, weil ich glaube, über wichtige Informationen zu verfügen, die ich beizusteuern hätte. Ich bin Eigentümer eines kleinen Motels mit 21 Zimmern im Großraum Denver. Erworben habe ich dieses Motel, um meine voyeuristischen Neigungen zu befriedigen und mein obsessives Interesse am Menschen in all seinen Aspekten zu stillen, in gesellschaftlicher wie in geschlechtlicher Hinsicht, wie auch, um die alte Frage zu beantworten, wie Menschen sich wirklich sexuell verhalten, also privat in den eigenen vier Wänden des Schlafzimmers."
    Eintönige Notizen, banale Einschätzungen
    Taleses Neugier war geweckt. Wenige Wochen später traf er sich mit dem Mann, der sich als Gerald Foos vorstellte, und ließ sich das Motel zeigen. Foos hatte die Zimmer so umgebaut, dass er durch getarnte Deckenöffnungen seinen Gästen beim Sex zusehen konnte. Seine Beobachtungen hielt er akribisch in einem Tagebuch fest. Foos überließ die Aufzeichnungen dem Schriftsteller, aber erst 2013 stimmte er zu, sie auch öffentlich zu machen.
    Was sich Talese von der Publikation versprochen hat, wird nicht recht klar. Nahezu die Hälfte des Buches füllen die ziemlich eintönigen Notizen von Foos über die sexuellen Praktiken seiner Gäste. Er hält die diversen Bettgeschichten genüsslich en détail fest. Am meisten in Wallung aber bringt ihn oft genug, dass Besucher in den Hotelbetten essen und ihre Finger am Bettzeug abwischen. Die Einträge enden häufig mit banalen Einschätzungen dieser Art:
    "Fazit: Unglücklicherweise scheint das sexuelle Bedürfnis der Eheleute von sehr unterschiedlicher Intensität zu sein. Auf einer Skala von eins bis zehn rangiert er vermutlich bei zwei und sie bei sieben. Aufgrund dieser Differenz - ungeachtet des höflichen Umgangs, den sie miteinander pflegen - stehen dieser Ehe in der Zukunft schwere Zeiten bevor."
    Wie fragwürdig ist das Ausspionieren von Gästen?
    Der Spanner sieht sich selbst als Analytiker des Zwischenmenschlichen, gar als "Pionier der Sexualforschung". Der Erkenntniswert seiner Aufzeichnungen ist jedoch sehr überschaubar. Dennoch übernimmt Talese zumindest in Teilen Foos Selbsteinschätzung. Das Tagebuch würde den "Wandel sozialer Verhaltensmuster" beleuchten und wichtige demographische Veränderungen widerspiegeln, schreibt Talese.
    Das ist - zurückhaltend gesagt - eine gewagte These. Aber irgendwie musste Talese schließlich zu erklären versuchen, weshalb er den bloß von billiger Neugier angetriebenen Motelbesitzer immer wieder über viele Seiten ausführlich zu Wort kommen lässt.
    Weitaus interessanter wäre es indes gewesen, genauer darauf einzugehen, wie fragwürdig das Ausspionieren von Gästen ist, über die sich der spießige Beobachter gern moralisch erhebt. Talese äußert deswegen zwar Bedenken, doch dabei belässt er es. Foos beschreibt Szenen von Vergewaltigung und Missbrauch, aber Talese kümmert das kaum.
    Berichte von Mord und Vergewaltigungen
    Die Fassung verliert er auch keineswegs gänzlich, als er davon liest, dass der Voyeur beobachtet haben will, wie ein Drogendealer seine Freundin ermordet, nachdem Foos zuvor die im Zimmer versteckten Drogen heimlich die Toilette hinuntergespült hatte. Über seinen Gemütszustand schreibt Talese:
    "Die Sache bereitete mir einige schlaflose Nächte, in denen ich mich fragte, ob ich Foos anzeigen sollte. Doch obwohl er durch das Vernichten der Drogen in gewisser Weise den Tod der jungen Frau verschuldet hatte und nicht eingeschritten war, als der Freund sie würgte und obendrein - da sich ihre Brust vermeintlich hob und senkte - kaltschnäuzig bis zum nächsten Tag gewartet hatte, um Hilfe zu holen, hielt ich Gerald Foos nicht für einen Mörder."
    Zweifel an der Glaubwürdigkeit
    Oft wirkt es so, als habe Talese selbst nicht viel Interesse für sein Buch aufbringen können, so ungenau formuliert er, so wenig Mühe verwendet er darauf, Gerald Foos wirklich näherzukommen und sein eigenes Verhältnis zu dem Motelbesitzer zu hinterfragen. "Der Voyeur" ist nicht nur ein dürftiges, sondern in vieler Hinsicht auch zweifelhaftes Buch. Talese liefert keine erhellende Studie über einen Voyeur, sondern selbst einen voyeuristischen Text.
    Die "Washington Post" hat überdies nach dem Erscheinen in den USA aufgedeckt, dass Foos das Motel 1980, kurz nach dem Treffen mit Talese, verkaufte, aber trotzdem weiter Berichte an den Schriftsteller schickte. Für den Mordfall fanden sich bei der Polizei keinerlei Anhaltspunkte. Talese scheinen zwar zuweilen selbst Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Gerald Foos gekommen zu sein, aber zu ausgiebigen Recherchen fühlte er sich deswegen nicht ermuntert. Das haben für ihn später andere erledigt. Talese hat das Buch trotzdem nicht zurückgezogen, aus seiner Sicht bestand dazu schlichtweg keine Notwendigkeit.
    Gay Talese: "Der Voyeur"
    Aus dem amerikanischen Englisch von Alexander Weber
    Verlag Tempo bei Hoffmann und Campe, Hamburg 2017, 224 Seiten, 20 Euro