Hans Ulrich Gumbrecht: "Crowds. Das Stadion als Ritual von Intensität"

Euphorie in der "gelben Wand"

14:51 Minuten
ARCHIV - Dicht gedrängt stehen Fans des Fußballclubs Borussia Dortmund am 27. April 2019 in der sogenannten Gelben Wand, der Südtribüne des Stadions schwenken gelbe Fahne und Schals.
Mit Gleichgesinnten feiern, bangen, hoffen und jubeln: Dortmunder Fans können das besonders gut. © imago images / VI Images
Hans Ulrich Gumbrecht im Gespräch mit Frank Meyer · 23.06.2020
Audio herunterladen
Sie sind manipulierbar und gefährlich: Dieses Bild von Massen herrscht in der Geistesgeschichte vor. Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht hält mit seinem Buch "Crowds" dagegen. Grundlage sind seine eigenen Stadionerlebnisse als Fan des BVB.
Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht bringt sein neues Buch mit ganz besonderem Timing auf den Markt: Die Fußballstadien sind leer, es gibt nur noch Geisterspiele. Und in diese Leere hinein veröffentlicht der 72-jährige emeritierte Stanford-Professor "Crowds. Das Stadion als Ritual von Intensität" – ein Buch über die Massen im Stadion.
Gumbrecht ist einer der prägenden Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker der vergangenen Jahrzehnte. Immer wieder hat er über Körperertüchtigung geschrieben, beispielsweise in "Lob des Sports".

Als BVB-Fan in der "Gelben Wand"

Sein Buch "Crowds" basiert nun auf Gumbrechts eigenen Stadionerfahrungen, zum Beispiel als Borussia-Dortmund-Fan in der "Süd", der "gelben Wand", wo die eingefleischtesten BVB-Anhänger stehen. Er erlebe dort eine "besondere Art von Euphorie", die vom Ergebnis des Spiels letztlich unabhängig sei, sagt Gumbrecht.
Geschrieben habe er das Buch – wie geplant - im April und Mai dieses Jahres. Durch Corona habe das Thema dann einen anderen Stellenwert bekommen und er habe auch mit einer anderen Intensität darüber schreiben können.
Angesichts der Situation mit dem Virus sei ihm "schneller und vielleicht in einer anderen Komplexität aufgegangen", dass große Gruppen heute im Vergleich etwa zu den 30er-Jahren nicht mehr so präsent seien, sagt Gumbrecht. Überall auf der Welt seien damals große Reden von Politikern vor manchmal 30.000 Zuschauern üblich gewesen. "Das gibt es heute sehr selten."

Positive Erfahrungen in der Masse

Der Grund, das Buch zu schreiben, sei für ihn gewesen, dass es für die positive Erfahrung in der Masse kaum eine Entsprechung in der Geistesgeschichte gebe, erklärt Gumbrecht. Stattdessen herrsche eine große Tradition der Verachtung der Massen vor.
Im späten 19. Jahrhundert habe der Franzose Gustave Le Bon das erste große Buch über die Massen geschrieben. Die zentrale These sei gewesen: "Wenn man als Individuum in einer Masse steht - und das hat sich fortgesetzt, dieses Urteil - dann setzt die Intelligenz aus, und man wird gefährlich." Sigmund Freud habe das rezipiert. Vom zeitgenössischen Philosophen Peter Sloterdijk stamme die Formel "Die Verachtung der Massen".
Gumbrecht betont: "Ich versuche nicht zu behaupten, dass Massen nicht zur Gewalt neigen und nicht gefährlich sind. Ich sage nur: In einer Masse zu stehen, impliziert auch - und nicht allein für mich - eine positive Erfahrung, von der noch niemand geredet hat."

Übertragbar auf politische Massenproteste

Was er über die Massen in Stadien geschrieben habe, sei auch auf andere Massen – etwa bei Demonstrationen, wie sie in den vergangenen Wochen gegen Rassismus in den USA stattgefunden haben – übertragbar, meint der Literaturwissenschaftler.
Hier spielt für ihn auch die "Ambivalenz der Masse" und das Potenzial zur Gewalt eine Rolle. Die Hoffnung, dass es beim Thema Rassismus zu einer Zäsur in den USA kommen möge, sei mit einer "ganz eigenartigen Komponente verbunden, die zu artikulieren skandalös ist, aber trotzdem möchte ich es sagen", so Gumbrecht. "Diese Proteste brauchen zumindest ein Potenzial von Gewalt, eine Bedrohung. Wenn ihr jetzt nicht was macht, dann wird das langfristig gesehen vielleicht nicht zu einer bürgerkriegsähnlichen Situation, aber zu einer Situation führen, in der sich die wirtschaftlich Privilegierten schützen müssen oder in einer gewissen Angst leben."
(abr)

Hans Ulrich Gumbrecht: "Crowds. Das Stadion als Ritual von Intensität"
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt / Main 2020
154 Seiten, 14,80 Euro

Mehr zum Thema