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Geburt und Tod

Das Wunder der Entstehung von Leben - und Trauer auf dem Weg in den Tod sind zwei Seiten derselben Medaille. James MacMillan schrieb - womöglich inspiriert von der Erfahrung, selbst Vater geworden zu sein, mit "Quickening" eine große, populistische Musik über das Leben. Das zweite Werk ist vom Sujet her geradezu komplementär: Bernd Alois Zimmermanns Endzeit-Stück "Requiem für einen jungen Dichter" dokumentiert Krieg und Tod.

22.02.2009
    Zwei Themen beschäftigen uns: das Wunder der Entstehung von Leben - und Trauer und Ratlosigkeit auf dem Weg in den Tod. Ich stelle Ihnen zwei neue chorsinfonische Aufnahmen vor - mit Werken von Bernd Alois Zimmermann und von James MacMillan.

    Musik 01: MacMillan, Quickening
    The Hilliard Ensembles, City of Birmingham Symphony Chors, BBC Philharmonic
    CD Chandos CHSA 5072, LC 7038
    Take 05


    Die Stimme, schnell aufgespalten in vier, wiederholt kunstvoll, für die Reise gerüstet zu sein. Darauf setzt sich das Orchester in Gang, eine zunächst pastorale Geste hebt an, dann steigt die Flut, das instrumentale Gewebe verdichtet sich, Schlagwerk tritt auf den Plan, eine immens schwillende, hämmernde Energiewoge rollt, um sich wiederum zu entladen.

    Auf diese Art illustriert der schottische Komponist James MacMillan mit den Mitteln eines Orchesters den Vorgang einer Geburt, beziehungsweise wie er sich solcherlei vorstellt. MacMillan, Jahrgang 1959, zugehörig zum Orden der Dominikaner, betritt damit Neuland: das Sujet ist originär - die ästhetischen Mittel und das mit ihrer Hilfe Übermittelte sind es weit weniger. Womöglich nicht allein die private Erfahrung, selbst Vater geworden zu sein, sondern auch ein Auftrag der Londoner Proms für das Jahr 1998 inspirierten MacMillan zu einem großen, populistischen Wurf, der viele Gemüter erreicht und nicht eben klein besetzt ist. Ein sinfonischer Chor, ein Kinderchor, ein Herrenquartett und ein Orchester sind mit von der Partie, um das Werden menschlichen Lebens zwischen Zeugung, Geburt und sofortiger existenzieller Bedrohung hernach in Klänge zu setzen, die ein traditionelles Publikum nicht sofort verschrecken.

    Quickening heißt das Werk, im Booklet des Labels Chandos mit Lebenszeichen deutsch übersetzt. Librettist Michael Symmons Roberts hat für die vier Sätze gleichwohl poetische wie verklärende Verse notiert; der Komponist, der zur großen Geste und ins Neotonale tendiert - vertont sie professionell, streckenweise gar ein wenig apart.

    Von Schlagwerk dominierte Orchesterpassagen illustrieren zunächst ein fantastisch-tierhaftes Stadium; ein murmelnder Kinderchor, von kleiner Orgel begleitet, suggeriert das Werden einer Vorexistenz, die im A-capella-Quartett - hier: The Hillard Ensemble - zu eigener Sprache gelangt. Die Botschaft ist geschlechterpolitisch konservativ: Was heranwächst und Mensch wird, ist männlich; was im Mutterleib reift, wird - die Stimmlage zeigt es - ein Mann. Wer sonst, Fragezeichen!

    Nicht, dass es keine Weiblichkeit in Quickening gäbe - MacMillan und Roberts positionieren sie im Chor der Ammen, der Geburtshelferinnen, dem Typus archaischer Urmütterlichkeit - musikalisch charakterisiert durch Chor-Altistinnen und tiefes Blech.

    Musik 02: MacMillan, Quickening
    The Hilliard Ensembles, City of Birmingham Symphony Chors, BBC Philharmonic
    CD Chandos CHSA 5072, LC 7038
    Take 05



    James MacMillan, ein Schüler von John Casken und Rita McAlister, ist musikalisch beheimatet in der Kirchenmusik. Die Handschrift der deutlichen Geste, die Sicherheit im Umgang mit großen Besetzungen, nicht zuletzt der Positionsbezug zum genannten Sujet hier verweisen darauf. Gleichwohl ist Quickening kein Werk in Sakraltradition. Vielmehr artikuliert sich ein romantisierender Geist, der sich auf verschiedene Referenzen beruft. Biblische Figuren zum Beispiel werden gestreift: Maria, Herodes, Pilatus, Johannes der Täufer. Ein Assoziationsfeld scheint auf - suggerierend, jeder Mensch durchliefe Geburt, Leben und Leiden Christi, oder anders herum: dieses spiegele sich gleichnishaft in jeder Biographie. Musikalisch geht der Blick zurück in
    A-cappella-Passagen bis ins Vokabular von Renaissance und Barock, andererseits scheinen Mahlers Sinfonie Nr. 4 und Brittens War Requiem Pate zu stehen. - Unüberhörbar tendiert MacMillans Opus ins Hymnische; es mischt die Auferstehungs-Thematik mit romantischer Kunst-Religion und endet apotheotisch: in höchsten Tönen, orpheisch, als Violinkonzert.
    Musik 03: MacMillan, Quickening
    The Hilliard Ensembles, City of Birmingham Symphony Chors, BBC Philharmonic
    CD Chandos CHSA 5072, LC 7038
    Take 07

    James MacMillan, Quickening. Hier in einer musikalisch opulenten, technisch perfekten Einspielung mit dem Hilliard Ensemble, mit Chor und Kinderchor der City of Birmingham sowie dem BBC Philharmonic unter der Gesamtleitung von Fionnuala Hunt. Die März 2007 getätigte Produktion ist beim Label Chandos als Super Audio-CD veröffentlicht; ergänzt um drei Interludien aus MacMillans Oper The Sacrifice.

    Die zweite CD, das zweite Werk, das ich Ihnen heute früh anspielen will, ist vom Sujet her geradezu komplementär. Es ist ein Endzeit-Stück, und es trägt Sakraltradition schon im Titel - dennoch erklingt alles andere als Kirchenmusik:

    Musik 04: B.A. Zimmermann, Requiem für einen jungen Dichter
    Tschechischer Philharmonischer Chor Brno, Slowakischer Philharmonischer Chor, Europa-choralakademie, Holland Sinfonia, Joao Rafael (Klangregie), ML: Bernhard Kontarski.
    CD Cybele SACD 860501, LC 3738
    Take 06

    Beethovens Sinfonie Nr.9, ein Beatles-Song, Goebbels im Sportpalast, Stalin, Hitler, Churchill auf BBC und unter allem das Agnus Dei der katholischen Messe ... Ein Jahrhundert passiert hier Revue, präziser gerechnet: ein menschliches Leben darin - festgemacht an historischen Rundfunkaufnahmen, deren Botschaften sich kontrovers überlagern.

    Komponist Bernd Alois Zimmermann, Jahrgang 1918, artikuliert in diesem Lamento nicht mehr und nicht weniger als die Erfahrung seiner eigenen Generation. Krieg inklusive Ostfronterlebnis war das zentrale Ereignis darin. Dessen Nachklang sowie das Wissen um neuerliches Töten hernach, lassen es an Hoffnung, eine Welt ohne Krieg sei überhaupt vorstellbar, eindeutig mangeln.

    Der Lamento-Satz ist Teil des 1967/68 entstandenen Requiem für einen jungen Dichter, das zugleich eine der letzten Arbeiten des Komponisten darstellt. Politisch als auch ästhetisch artikuliert sich Zimmermann darin radikal. Live musiziert wird erst am Schluss, weite Strecken kommen von Tonbändern, sind von elektroakustischen Klängen grundiert. Phasenweise wird nur gesprochen.

    Das Werk ist eine Sprachkomposition; darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit Sprache in deren Doppelfunktion, die Welt zu erfassen und zu manipulieren. In diesem Zusammenhang sind Politikerworte von Goebbels und Chamberlain bis Papandreou und Dubcek Versen von Joyce, Camus, Ezra Pound und Konrad Bayer gegenüber gestellt. Zimmermanns Dramaturgie der Collage verhindert ein moralisch belehrendes Urteil; klar wird jedoch, dass allein Lyrik und christliche Ethik die Welt nicht humanisieren. Auch in diesem Werk übrigens fehlt die weibliche Hälfte der Welt. Im Mittelpunkt des Lamento stehen die zwei sowjet-russischen Dichter Jessenin und Majakowski, die sich beide für den Freitod entschieden. Der Künstler als verzweifelter Rufer, den niemand erhört, da war für Bernd Alois Zimmermann auch ein Selbstresümee. Als er sich 1970, im Jahr nach der Uraufführung des Werks, selbst das Leben nahm, sah er für sich und für die Welt keinerlei sinnvollen Weg.

    Musik 05: B.A. Zimmermann, Requiem für einen jungen Dichter
    Tschechischer Philharmonischer Chor Brno, Slowakischer Philharmonischer Chor, Europa-choralakademie, Holland Sinfonia, Joao Rafael (Klangregie), ML: Bernhard Kontarski.
    CD Cybele SACD 860501, LC 3738
    Take 01


    Bernd Alois Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter - hier dokumentiert in einer niederländischen Aufführung mit Claudia Barainsky (Sopran) David Pittman-Jennings (Bariton), den Sprechern Lutz Lansemann und Michael Rotschopf, den Philharmonischen Chören aus Brünn und Bratislava sowie der Holland Symfonia unter der Gesamtleitung von Bernhard Kontarsky vom Sommer 2005. Die Ende letzten Jahres erschienene Superaudio-Aufnahme des Düsseldorfer Labels CYBELE wurde inzwischen mit dem Vierteljahres-Votum der Deutschen Schallplattenkritik gewürdigt. Allerdings dokumentiert die technisch tadellos gemachte CD auch die Historizität der Komposition. Das meint nicht allein den unüberhörbar vor-digitalen Stand der elektroakustischen Produktion; Zimmermann dokumentiert mit diesem Werk nicht weniger als das Ende einer Ära. Politisch wie künstlerisch tritt zeitgleich eine neue Generation auf den Plan. Was allein das Jahr '68 Deutschland an Impulsen verlieh, wie und wohin sich die Welt danach zu entwickeln begann, Zimmermanns Stück hat das nicht im Visier. - Requiem für einen jungen Dichter - Ende 2008 neu erschienen bei CYBELE. Zuvor habe ich Ihnen James MacMillans chorsinfonische Arbeit Quickening angespielt, die in diesem Jahr beim britischen Labels CHANDOS erschien. Soweit für heute unsere Sendung DIE NEUE PLATTE, ausgewählt von Frank Kämpfer.