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Geburtsstunde der weltweit größten Demokratie

Trotz einiger Konflikte zwischen verschiedenen Ethnien und Religionen gilt Indien bis heute als toleranter, multireligiöser und multikultureller Staat. Grundlage für die Gleichheit aller Religionen im Land ist die Verfassung, die vor 60 Jahren verabschiedet wurde.

Von Gerhard Klas | 26.01.2010
    Der Tag der Republik wird in Indien jedes Jahr am 26. Januar mit einer Militärparade in der Hauptstadt Neu Delhi gefeiert. 1950 trat an diesem Tag die Verfassung des unabhängigen Indien in Kraft. Sie ist mit 395 Artikeln die längste Verfassung der Welt. Sie enthält eine Grundrechtecharta, in der die klassischen Menschenrechte verankert sind, definiert sogar soziale Staatsziele. Sie legt die föderale Struktur und - nach britischem Vorbild - das Zweikammer-System fest und natürlich die Nationalhymne.

    In der Präambel heißt es:
    Wir, das indische Volk, haben feierlich beschlossen, Indien als souveräne, sozialistische, säkulare und demokratische Republik zu konstituieren.

    Die verfassungsgebende Versammlung wurde von den Provinzparlamenten gewählt. In ihr befanden sich nicht nur Hindus, sondern Angehörige unterschiedlicher Kasten und verschiedener religiöser Minderheiten: Muslime, Sikhs, Christen, Parsen und natürlich auch Atheisten wie der erste Indische Premierminister Jawaharlal Nehru. Eine Staatsreligion oder Leitkultur zu definieren lag den Mitgliedern der Versammlung fern. Die Wertvorstellungen der Versammlungsmitglieder gründeten auf den Gleichheitsidealen der Französischen Revolution, dem Kampf gegen die britischen Kolonialherren, dem Prinzip der Gewaltenteilung und der Rechtsstaatlichkeit.

    In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit gebot die weite, allumfassende Vorstellung von einer indischen Identität, die während des langen Freiheitskampfes entstanden war, radikale Loyalität,

    …. schreibt der indische Nobelpreisträger Amartya Sen. Auch die Teilung des Subkontinents in Pakistan und Indien, die 1947 mit der Unabhängigkeit einherging und mindestens eine Million Menschenleben forderte, prägte die indische Identität und die Verhandlungen für die Verfassung.

    Die Entschlossenheit, diese umfassende Identität zu bewahren, wurde durch das starke Gefühl für die Tragödie, die die Teilung des Subkontinents bedeutete, noch verstärkt. Eine wichtige Rolle spielte in dem Zusammenhang der beträchtliche Nationalstolz darüber, dass trotz des politischen Drucks, die "Menschen auszutauschen", die große Mehrheit der moslemischen Bevölkerung nach der Unabhängigkeit lieber in Indien blieb, statt nach Pakistan zu gehen. Diese allumfassende Identität ging mit der eisernen Weigerung einher, unter den verschiedenen religiösen Gemeinschaften Prioritäten zu setzen.

    Heute befürchten viele politische Beobachter eine "Hinduisierung" der Politik, seit Anfang der 90er-Jahre die Indische Volkspartei BJP, der politische Arm der Hindunationalisten, zur zweitstärksten Partei geworden ist. Die BJP arbeitet darauf hin, Angehörige religiöser Minderheiten - vor allem die 140 Millionen indischen Muslime - zu Bürgern zweiter Klasse zu machen, meint Amartya Sen.
    Auch wenn es stimmt, dass die Hindus statistisch gesehen in der Mehrheit sind, basiert die statistische Argumentation, die Indien in erster Linie als hinduistisches Land sieht, auf einer Begriffsverwirrung: Die Religion ist weder unsere einzige Identität, noch ist sie unbedingt diejenige Identität, der wir die größte Bedeutung zumessen.

    Als die BJP von 1998 bis 2004 die Regierungskoalition in Neu-Delhi anführte, setzte sie eine Kommission ein, die die indische Verfassung grundlegend überarbeiten sollte. Viele indische Bürger - Hindus und Nicht-Hindus - protestierten. Sie sahen das säkulare Verfassungsprinzip gefährdet. Auch wenn die BJP die letzten beiden Wahlen zum indischen Unterhaus verloren hat, ist die Gefahr längst nicht gebannt, meint auch Achin Vanaik, Dekan der politischen Fakultät der Universität Delhi.

    "Bei Wahlen mag die BJP ihre Potenziale erschöpft haben. Aber man sollte den langsamen, manchmal unstetigen Vormarsch der Hindunationalisten nicht unterschätzen. Die Hindunationalisten sind in der indischen Zivilgesellschaft verwurzelt, sie sind in die Poren dieser Gesellschaft tiefer eingedrungen als jede andere politische Kraft."

    Die Verfassung, die der Schriftsteller Shashi Tharoor einmal als "den Traum der indischen Gründungsväter" bezeichnete, prägt zwar nach wie vor die indische Identität. Aber die darin formulierten Staatsziele sind nicht nur durch die Hindunationalisten infrage gestellt, sondern auch durch die Ausweitung der Marktwirtschaft Anfang der 90er-Jahre. Die Verfassungsziele des sozialen Ausgleichs rücken damit in weite Ferne, die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft sich.