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Gedächtnisforschung
Tür auf, Erinnerung weg

Das menschliche Gehirn sortiert die unwichtigen Informationen aus und speichert die wichtigen – ohne, dass uns das bewusst wird. Eine Studie hat nun einen Auslöser der Vergesslichkeit ausfindig gemacht: Türen. Doch Vergesslichkeit muss nicht immer etwas Schlechtes sein.

Von Jennifer Rieger | 11.05.2015
    Eine Türklinke einer weiß gestrichenen Tür.
    Türen beeinflussen unsere Gedächtnisleistung in beide Richtungen. (imago/McPHOTO)
    Was wollte ich eigentlich hier?
    Das ist sicher jedem schon mal passiert: Man läuft in die Küche, um sich, sagen wir, ein Glas Saft zu holen – doch kaum dort angekommen, ist die Erinnerung an den Plan wie weggeblasen. Zurück im Wohnzimmer fällt es einem plötzlich wieder ein: Saftdurst!
    Gabriel Radvansky, Professor für Psychologie an der University of Notre Dame im US-Bundesstaat Indiana, beschäftigt sich wissenschaftlich mit diesem Phänomen. In einer Reihe von Experimenten hat er den Auslöser der Vergesslichkeit ausfindig gemacht: Türen. Es müssen nicht mal echte Türen sein. Auch beim Durchqueren virtueller Räume oder wenn man sich nur vorstellt, durch eine Tür zu treten, vergisst man mehr als bliebe man im selben Raum.
    Gabriel Radvansky:
    "In diesen Studien geben wir den Probanden Aufgaben: Sie sollen Gegenstände entweder durch einen großen Raum tragen oder von einem Raum in einen anderen. Die meisten Experimente machen wir in virtuellen Räumen, so haben wir mehr Kontrolle über die Versuchsbedingungen."
    Raumorientierung ist wichtig
    Bei den Objekten handelte es sich um abstrakte Dinge: einen blauen Würfel oder eine rote Kugel. Die Testpersonen konnten sie sich ansehen, danach verschwanden die Gegenstände – entweder vom Bildschirm oder in einem Schuhkarton. Anschließend mussten die Versuchsteilnehmer eine reale oder virtuelle Wegstrecke zurücklegen.
    Gabriel Radvansky:
    "Die Wegdauer blieb gleich, in der echten Welt und in der virtuellen. Wir haben beobachtet, dass Menschen sich schlechter daran erinnern konnten, welche Objekte sie in der Hand hatten, wenn sie durch eine Tür von einem Raum in den nächsten gingen, als wenn sie nur einen einzigen Raum durchquerten. Wir glauben nicht, dass das nur daran liegt, dass die Zimmer unterschiedlich aussehen. Es hat etwas damit zu tun, wie wir uns im Raum orientieren.
    Vergessen muss nicht schlecht sein
    Die Probanden wurden nicht plötzlich extrem vergesslich, so Radvansky.
    Gabriel Radvansky:
    "Aber die Fehlerrate war messbar. Die Probanden lagen doppelt bis dreimal so oft falsch, wenn sie einen neuen Raum betreten hatten. Und der Effekt verstärkte sich noch, wenn sie durch mehrere Türen liefen."
    Mit beginnender Senilität oder Zerstreutheit habe das aber nichts zu tun, sagt Radvansky.
    Gabriel Radvansky:
    "Die meisten Leute denken, das Vergessen sei schlecht. Das ist es aber nicht."
    Der Psychologe hat mehrere Theorien, welchen Zweck das Vergessen erfüllen könnte:
    Gabriel Radvansky:
    "Ich denke es gibt zwei Gründe dafür. Erstens sind an verschiedenen Orten meistens unterschiedliche Informationen relevant. "
    Zum Beispiel tun wir im Arbeitszimmer andere Dinge, als in der Küche. Auch im Wald verhalten wir uns anders, als auf einer Wiese.
    Neuer Ort macht alte Informationen obsolet
    Gabriel Radvansky:
    "Am neuen Ort sind die alten Informationen dann nicht mehr relevant, also fängt man an, sie aus dem aktiven Gedächtnis rauszuwerfen. Meistens ist das nützlich. Nur wenn es mal nicht nützlich ist, fällt es uns auf und wir machen uns dann Sorgen um unser Gedächtnis."
    Der zweite Grund ist subtiler: Der blaue Würfel oder die rote Kugel werden im Gedächtnis mit beiden Räumen verknüpft, es gibt dann zwei mentale Repräsentationen der Objekte.
    Gabriel Radvansky:
    "Wir nennen das "Ereignismodelle". Beide dieser Modelle beinhalten das Objekt und wenn man versucht, auf die Objektinformation zuzugreifen, dann werden beide Repräsentationen abgerufen und sie konkurrieren miteinander. Auch wenn beide auf die gleiche Antwort hinweisen. Dieser Konflikt verschlechtert das Gedächtnis."
    Der Türeneffekt kann aber auch dabei helfen, sich Dinge zu merken. Weil die Objekte in Radvanskys Experimenten keinen konkreten Nutzen hatten, wirkten sich Türen negativ auf das Gedächtnis aus. Wenn die Probanden aber Wortketten behalten sollten, half es ihnen, von einem Raum in den anderen zu gehen: Sie verknüpften die unterschiedlichen Wörter mit den jeweiligen Orten. In so einem Fall hilft offenbar das Durchschreiten der Räume dabei, die Informationen zu strukturieren.