Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Gedächtnisspuren

In einer Villa über dem Meer hat sich Æosiæs Ich, ein alter einsamer Schriftsteller, wie in einer Festung verbarrikadiert. Dieser Erzähler ist auf der Flucht vor der Außenwelt und spürt sich selbst nach, genauer gesagt, den verschiedenen, einander fremden Schichten seiner selbst. Immer wieder beschreibt er die Schwierigkeiten, die ihm dabei widerfahren.

Von Martin Sander | 11.11.2004
    Der Mensch lebt eigentlich vom Vergessen. Das ist die große Vorratskammer des Unbewussten, wo wir alles ablegen, was wir vergessen, wie in ein Regal, in eine Speisekammer. Und dann muss dieser Professor aus Wien kommen, um etwas davon herauszuholen und zu sagen: "Das gehört Ihnen". Das ist so, wie wenn unsere Mutter Wintervorräte eingemacht hat, und irgendwann später wird dann der Augenblick kommen, wo wir das probieren werden.

    Der serbische Schriftsteller Bora Æosiæ unternimmt in seinem neuen Roman das, was ein Erzähler mit Vorliebe zu tun pflegt. Er gräbt in den Tiefen des Gedächtnisses, um seine Geschichte ans Licht zu bringen. Doch geht es Æosiæ dabei nicht um die vordergründige Rekonstruktion erlebter Welt. Stattdessen wendet sich sein Ich-Erzähler den Lücken, Täuschungen und Merkwürdigkeiten des Gedächtnisses zu - und webt gerade daraus seinen Stoff.

    Das Land Null handelt von den Fallstricken der Erinnerung. Konsequent bewegt sich dieser Roman durch ein Labyrinth beklemmender, bizarr-grotesker und gelegentlich komischer Wahrnehmungen. Es sind Wahrnehmungen, hinter denen keine unzweifelhafte Wirklichkeit existiert. Unzweifelhaft erscheint allerdings soviel: In einer Villa über dem Meer hat sich Æosiæs Ich, ein alter einsamer Schriftsteller, wie in einer Festung verbarrikadiert. Dieser Erzähler ist auf der Flucht vor der Außenwelt und spürt sich selbst nach, genauer gesagt, den verschiedenen, einander fremden Schichten seiner selbst. Immer wieder beschreibt er die Schwierigkeiten, die ihm dabei widerfahren.

    Alles, was noch in meine Erinnerung hineingeht, ist der Werbespot, den ich nachträglich drehe, um für mich selbst Reklame zu machen. Als wäre ich eine Firma, der es in letzter Zeit nicht besonders gut geht, so dass man eine kurze Sache ausarbeiten muss, die Kunden anlocken wird. Dann stelle ich mir vor, dass ein Mensch, der sich erinnert, das gleiche tut wie ein Regisseur mit einer Mütze, deren Schirm aus Zelluloid ist, der durch das Studio geht, das Filmstudio, und alle anschreit. Ich schreie mich schon seit Tagen an, als wollte ich mit meinem Schreien diese Reklamesache über mich zuwege bringen, so gut wie möglich. Ich habe keine Mitarbeiter, nur mich selbst, in vielen einzelnen Personen, wie ich sie zu dieser oder jener Zeit gewesen bin. Aber ein Mensch, der sich erinnert, kann nur ein Verrückter sein, wenn auch in äußerst geringem Maße. Denn in dieser verrückten Vorstellung, wieder all das zu sein, was er einmal war, findet sich genügend Material für eine Diagnose in Charenton.

    Doch aller Verrücktheit zum Trotz hält der Erzähler an seinem Erinnerungsplan fest. Zweifelnd und grübelnd versinkt er immer tiefer in Raum und Zeit. Bald ist er dort angekommen, wo einst die Weichen für sein künstlerisches Dasein gestellt wurden: in seiner Jugend, einer belastenden Zeit.

    Und so gehe ich erneut durch meine Straße, die schwere Last meiner zwanzig Jahre mit mir tragend, als lieferte ich irgendwem bestellte Ware. Und wenn ich bei der Adresse ankomme, werde ich ihm die Last meiner Jugend aushändigen, er wird den Empfang bestätigen, und ich werde fröhlich die Treppe hinunterrennen, für immer befreit. Denn jeder Mensch hat seine Ware, seine große Lebensware, auf dem Rücken und steht im Dienst einer großen Firma, die die Sendung an jemanden liefert. Dort steht die ordnungsgemäße Adresse des Bestellers, nur dass man in den dritten oder fünften Stock hinaufsteigen muss in einem Gebäude ohne Lift. Und dann fehlt gerade noch, dass der idiotische Besteller nicht daheim ist! Mir ist es gerade passiert, dass ich den Zettel mit dem Besteller verloren habe und nicht weiß, wo ich die Last meines Schicksals abliefern soll.

    Die Jugend im "Land null" ist wie alles in diesem Buch vieldeutig, schimmernd. Immerhin läßt sie sich auch als Nachkriegsjugend in der autoritären Frühphase von Titos sozialistischem Jugoslawien deuten. Der serbische Schriftsteller Bora Æosiæ wurde 1932 in Zagreb geboren und wuchs in Belgrad auf. Die Umstände von Titos Machtübernahme hat er Ende der sechziger Jahre in dem satirischen Roman "Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution" beschrieben. Das Buch gilt heute als Klassiker der jugoslawischen Nachkriegsliteratur. Es löste damals begeisterte Zustimmung beim einheimischen Publikum, aber auch Repressionen durch Titos Staatsapparat aus, der sich - nicht zu Unrecht - ins Lächerliche gezogen sah. Zuvor, in den fünfziger Jahren, hatte Æosiæ Philosophie studiert und unter dem Einfluaa von Existentialismus und Surrealismus zu schreiben begonnen. Diese Jugend ist die Zeit, in die er im "Land Null" immer wieder eindringt, die er geradezu ins Allgemeingültige verwandelt - und die er im Gespräch wie im Roman als leeren Raum bezeichnet.

    Meine Sicht ist folgende: eine kleine kurze Straße in Belgrad, die leergeräumt ist, in der der Staat keine Macht ausübt oder in der es ihn nicht interessiert, wie die "normalen" Menschen leben. Und diese Menschen, die nicht verreisen können, weil sie keinen Pass haben, die sich nicht richtig versorgen können, weil die Geschäfte leer sind, diese Menschen, vor allem junge Menschen, wenden sich sich selber zu. Also lasen wir westliche Literatur und griechische Klassiker und studierten Philosophie. Das war unser Widerstand gegen die Unterdrückung, die irgendwo stattfand, aber wer weiß wo - außerhalb von uns. Also in dieser kleinen Straße von Belgrad gab es keinen Terror, aber es gab auch sonst nichts.

    Im letzten der sieben Kapitel des "Landes Null" wechselt der Erzähler dann doch beinahe überraschend noch einmal seinen Ausgangspunkt. Der einsame Erzähler verläßt die Villa am Meer und findet sich in Berlin wieder. Das ist dann fast so wie im wahren Leben des serbischen Autors Bora Æosiæ. Æosiæ veröffentlichte nach der "Rolle meiner Familie in der Weltrevolution" noch etliche im In- und Ausland vielbeachtete Bücher. Anfang der neunziger Jahre verließ er Belgrad. Er kehrte Serbien den Rücken, um mit diesem Schritt gegen das nationalistische Regime von Slobodan Miloševiæ zu protestieren, ließ sich zunächst in seinem Sommerhaus in der kroatischen Stadt Rovinj an der Adria nieder und ging dann nach Berlin, wo er bis heute die meiste Zeit als freier Schriftsteller verbringt. Das letzte von sieben unverkennbar autobiographisch gefärbten Kapiteln des "Landes Null" heißt "Ausweg". Es handelt von den Nöten des Erzählers im selbstgewählten Exil Berlin.

    Über all das muss ich meinen Bericht in dieser Gegend verfassen. Doch meine Taschen sind leer, und ich habe nicht einmal einen Stift dabei, um etwas zu notieren. Das ist meine Geistesverfassung. Denn ich repräsentiere das Land, aus dem ich gekommen bin, ein entleertes Land. Und ich habe auch kein besonderes Gepäck, außer dem Urkoffer, dem Koffer meiner dortigen Einöde. Ich gehe dann durch diese Straßen und schleppe in mir selbst, wie in einem riesigen Koffer, die Leere des Landes im Süden herum, als schleifte ich einen Eisberg hinter mir her. Der ebenfalls auf den ersten Blick unsichtbar und völlig durchsichtig ist, aber schwer. Ich weiß noch nicht, wo ich diese Last, die ich die Straßen des Kantons Charlottenburg hinunterschleppe, verstauen werde, auf der Suche nach einer Gelegenheit, sie jemandem anzuhängen oder unterzujubeln, in irgendeinem Hof. Denn ich muß meine Last irgendwo verwahren, die Scholle der Heimat in ihrer ganzen Schwere.

    Das Land Null ist ein Alterswerk. Der Autor folgt darin mit beträchtlicher Melancholie dem eigenen Gedächtnis, ohne dessen Verführungskraft jemals zu erliegen. Man liest mit diesem Roman das philosophische Manifest eines Flüchtenden, vertrieben aus seinem Land und verfolgt von seiner Geschichte. Æosiæ gelingt es, seine grotesken Denkbewegungen immer wieder auf die Wurzeln einer absurden Wirklichkeit des Menschen zu lenken. Das macht dieses Buch - in der ausgezeichneten Übertragung von Katharina Wolf-Grießhaber - zu einer ebenso anstrengenden wie aufregenden Lektüre.

    Bora Æosiæ
    Das Land Null
    Suhrkamp, 306 S., EUR 24,80