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Gedanklicher Weltenbaumeister

Dreh- und Angelpunkt der Sloterdijkschen Kunst des Philosophierens sind für den Schriftsteller und Publizisten Hans-Jürgen Heinrichs das Orientieren am Unmöglichen, das Ekstatische, das Staunen.

Von Annette Brüggemann | 05.05.2011
    Über einen Lebenden zu schreiben ist nicht leicht. Noch dazu einen Lebenden, mit dem man seit Jahren in einem ununterbrochenen Dialog steht. Hinzu kommt, dass es sich bei dem zu betrachtenden Subjekt um einen Philosophen handelt, dessen Philosophie auf das "Unbegrenzte", "Wandelbare", "Sichausweitende" und "Sichvernetzende" setzt: Peter Sloterdijk. Er, der sich vereinfachenden Kohärenzen schon immer geschickt zu entziehen wusste, ist nicht nur der Schöpfer der "Sphärologie", sondern ein Sprachakrobat Sondergleichen.

    Wie dessen metaphorischen Furor bündeln und in eine eigene Sprache übersetzen? Wie durch "Globen", "Blasen" und "Schäume" hindurchordnende Schneisen schlagen? Wie da eine Charakteristik heraus modellieren, ohne dem banalen Bären des Biographischen aufzusitzen?
    Hans-Jürgen Heinrichs probiert es mit einer Annäherung, die das Geheimnis der Philosophie Peter Sloterdijks bewahren will:

    "Dieses Denken beinhaltet das Versprechen, dem anfänglichen "Zauber" des Daseins einen angemessenen Ort in der Philosophie zu geben, ja mehr noch: ihn mit den Mitteln der Reflexion, der Einfühlung und Sprache auszugestalten. Der Mensch hat sich im Verlauf seiner Geschichte vom Magischen distanziert. Aber ist er damit – und Sloterdijks Philosophie fordert dazu auf, sich dies zu fragen – schon aus dem Bannkreis des Geheimnisvollen herausgefallen, nur weil er dem Aufklärungswillen stärker nachgegeben hat?

    Sloterdijks Denken enthält im Kern die Fantasie, das Ungreifbare und Entziehende, denen sich das welterschließende Kind gegenübersteht, als wesentliche Erfahrungsmodalitäten für die Philosophie zurückzugewinnen. Diesem Impuls verdankt sich der auf die Erzählung, den Überschwang und das Pathos setzende Duktus seines Werks. Es will dem Abenteuer eines sich atmosphärisch in die Welt einschwingenden Wesens eine Bühne bieten."


    Hans-Jürgen Heinrichs öffnet den Vorhang zur philosophischen Weltenbühne Peter Sloterdijks. Er gliedert sein Buch in drei Hauptstücke und steigert diese dramaturgisch von "Bausteinen" über "Kontexte" hin zu "Sphären".

    "Bausteine", das sind für Heinrichs biographische Hintergründe. Die äußere und innere Verwüstung der Kriegsgeneration – spürbar nah für den 1947 geborenen Peter Sloterdijk. Das Erleben der Mutter, ihr Erzittern unter den Bombendrohungen, habe sich, so hat er es selbst formuliert, auch in sein Körpergedächtnis und seine Seele eingeschrieben.

    Heinrichs beschreibt seinen Weg, im Vakuum der Nachkriegsjahre, vaterlos, hin zu Adorno, zur Verführungskraft der kritischen Theorie. Sloterdijk springt zwar auf den Streitwagen der Frankfurter Schule auf, wird diesen aber als "strukturell stupide Position" abtun, da er von negativen Momenten und einem Ressentiment gegen das Schöpferische angetrieben werde. Der zornige Geist der Frankfurter Schule war für ihn aus der Flasche.

    Die "Kritik der zynischen Vernunft" ist seine Antwort. Der linke Konformismus wird für immer sein Feindbild bleiben. Lieber impft er der Philosophie erneut den Wahnsinn Nietzsches ein. Und setzt das Programm Adornos in die Tat um: er schreibt eine ästhetische Philosophie, aus dem Impuls der künstlerischen Inspiration.
    In Ecce Homo beschreibt Nietzsche diesen Impuls als einen "Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume und Formen überspannt." Von dort aus expandierte sein Denken – vertikal und horizontal. Lou Andreas-Salomé wird Nietzsches Philosophie als ein großes "Durchforschen der Menschenseele nach unentdeckten Welten, nach ihren 'noch unausgetrunkenen Möglichkeiten'" beschreiben.

    Das Orientieren am Unmöglichen, das Ekstatische, das Staunen sind auch für Hans-Jürgen Heinrichs Dreh- und Angelpunkt der Sloterdijkschen Kunst des Philosophierens. Sprich: Wer ihn mit gewöhnlichen Verstandesaugen liest, fällt in seinen "Sphären" tief hinab. Sein in luftigen Höhen balancierendes Schreiben wird Sloterdijk einige Missverständnisse und die Kritik der Wirklichkeitsferne eintragen - vor allem, wenn es um seine Einmischung in aktuelle politische Fragen geht. Genau da tut sich ein Paradox auf, das Hans-Jürgen Heinrichs in dem Streit rund um Sloterdijks FAZ- Artikel "Die Revolution der gebenden Hand" aus dem Jahr 2009 nur streift. Darin hatte Sloterdijk eine neue Steuerpolitik gefordert, eine "Abschaffung der Zwangssteuern" und "deren Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit". Vielleicht könnte man es so formulieren: Sloterdijk lässt im Zuge seiner philosophischen Autopoesie die wildesten Misteln im Baum der Erkenntnis wachsen und provoziert zwischendurch derart, dass wir irritiert hinaufstarren. Jedoch bleibt es beim verwunderten Augenreiben.

    Hingegen mehr als beeindruckend: Sloterdijks Durchdringung anderer Philosophen, das breite Koordinatensystem seiner Bezüge. Wer, wenn nicht Peter Sloterdijk ist ein brillanter Exeget unserer Philosophiegeschichte - in seiner Kritik an der abendländischen Philosophie wie in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen philosophischen Strömungen. Hans-Jürgen Heinrichs fächert Sloterdijks Kontexte auf: Heidegger, Derrida, Cioran, Musik und Poesie. Musik gemeint als eine dionysische "Unterströmung des Philosophierens" und Poesie als Möglichkeit, den Sprachklang von der Semantik zu befreien.

    Sloterdijks Philosophie hat erstarrte, akademische Strukturen in Bewegung gebracht. Folglich lässt sich für ihn unser "In-der- Welt-Sein" am besten von seiner schwächsten, dunkelsten Stelle aus denken und begreifen, von der Nacht, vom "Homo nocturnus" her. Da ist er ganz bei der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras, die von ihrem Schreiben als einem "offenen Buch" sprach, das vor allem Nacht bedeute - und Einsamkeit.

    Und so wird auch Jürgen Heinrichs Annäherung zu einer unabschließbaren Meditation:

    "Der eine Beobachtungs- und Deutungsstandort außerhalb von Sloterdijks Denken ist schwerer als in anderen Philosophien zu erfassen und festzuhalten. Deswegen sind es offene Expeditionen, ohne eine klar angebbare Route, die man auf seinen Spuren unternimmt. Man schärft dabei stärker den Blick für das Unmögliche als für das Mögliche einer Biographie generell und im Besonderen in diesem Fall. Es ist ja auch kennzeichnend, dass das Interesse an Peter Sloterdijk mindestens ebenso intensiv auf den Wunsch gerichtet ist zu verstehen, wie er denkt, wie auf das, was er denkt, worauf seine Deutungen hinauslaufen. Das, was man als Zentrum seiner Philosophie ausmacht, verändert sich ständig bei der Lektüre seines Gesamtwerks.

    Von seiner Studie "Du musst Dein Leben ändern" aus gesehen, würde man die Anthropotechnik als Disziplin und die Explikation als Verfahren in den Vordergrund stellen. Explikation als Offenlegung des Verborgenen, dessen, was den Menschen konstitutiv ausmacht: als eines von Grund auf aktiven und meditativen Wesens. Damit hat er auch einen Schritt in eine Richtung getan, die der Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux so vehement forderte, als er beklagte, dass die Humanwissenschaften allzu oft den Eindruck vermittelten, als hätten sie es gar nicht mit lebendigen Menschen zu tun."


    Jürgen Heinrichs denkt mit Peter Sloterdijk, ihm entgegen. Er macht keinen Hehl aus seiner Befangenheit als Interpret, versucht Linien im Geflecht von Sloterdijks Denken sichtbar zu machen und aus diesen ein Wesen heraus zu lesen – mit allen Brüchen und Fragen. Nur hängt er sehr am Original, so dass Echos hörbar werden. Bisweilen fehlen Distanz und eine weite, klare Sicht.
    Dafür zollt er dem Respekt, was unübersetzbar bleibt. Und zeigt, dass niemand das Recht hat, sich irgendeiner Sache sicher zu sein. Hans Jürgen Heinrichs geht nicht dahin, wo - wie Sloterdijk sagen würde – "der Teufel wohnt": ins gefällige Land des Verstehens, wo einfältige Deutungen blühen. Schließlich hat Sloterdijk selbst sich mit seiner Kunst des Philosophierens gegen Vereinnahmungen immunisiert.

    Zum Schluss, auf der Höhe seiner Exerzitien angelangt, bringt Hans-Jürgen Heinrichs den "Weltenbaumeister" auf den Boden der Tatsachen zurück. In einem Gespräch mit ihm erläutert Sloterdijk seine Haltung zum Sterben und zum Tod. Vermutlich würde er einfach irgendwann vom Fahrrad fallen, bekennt der leidenschaftliche Radfahrer. Und so schließt sich der Vorhang zur philosophischen Weltenbühne Peter Sloterdijks – mit einer kurzen biographischen Skizze und den wichtigsten Lebensdaten als Coda.

    Hans-Jürgen Heinrichs: "Peter Sloterdijk". Carl Hanser Verlag, München, 368 Seiten, 24,90 Euro.