Donnerstag, 28. März 2024

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Lernort Schule
"Kaum höhere Formen der Digitalisierung vorhanden"

Die Digitalisierung sei bislang wenig in deutschen Schulen angekommen, meint Ekkehard Winter von der Telekom Stiftung. Sie hat eine Studie darüber in Auftrag gegeben, wie junge Menschen heute lernen. Virtuelle Klassenräume gibt es demnach kaum, Digitalisierung heißt im Wesentlichen Versand von Arbeitsblättern per E-Mail.

Ekkehard Winter im Gespräch mit Thekla Jahn | 17.06.2020
Kind hängt genervt vorm Laptop
Die Schule hat bei deutschen Schülern kein gutes Image, digitale Lernmittel allerdings auch nicht (imago / Westend61)
Wie lernen Kinder und Jugendliche heute? Was interessiert sie? Und welche Rolle spielen Schule, Eltern oder außerschulische Lernorte? Die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung unter Schülern der Klassen 5 bis 10 und ihren Eltern wurde heute in Berlin veröffentlicht - aber sie beziehen sich auf die Zeit vor dem Corona-Lockdown.
Wir besprechen sie mit Dr. Ekkehard Winter, dem Gechäftsführer der Telekom Stiftung, die die repräsentative Studie beim Institut für Demoskopie Allensbach beauftragt hat und die Ergebnisse dann auch in Bezug setzte zu dem, was sich während der Schulschließungen und des Homeschooling über das Lernen lernen ließ.
Seit Jahren ist Ekkehard Winter im Bildungs- und Wissenschaftsbereich tätig und hat den Überblick über die aktuelle Forschungslage.
Thekla Jahn: Herr Dr. Winter, wie lernen Kinder und Jugendliche heute?
Ekkehard Winter: Ja, das ist ein weites Feld, deswegen will ich da nur auf vielleicht drei Punkte eingehen. In der Wahrnehmung der Jugendlichen ist Lernen gleichgesetzt mit Schule. Sie bemerken gar nicht, dass sie natürlich auch an vielen anderen Lernorten lernen können und tatsächlich auch lernen, natürlich im Internet, aber auch in Schülerlaboren, Museen, Bibliotheken, Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit, aber in der Wahrnehmung ist Lernen gleich Schule. Das macht einen doch etwas nachdenklich: Zwei Drittel der Befragten haben keine Freude am schulischen Lernen. Die Motivation ist da sehr extrinsisch, also nicht, ich möchte etwas wissen, sondern eigentlich von außen aufgeprägt, nicht der eigene Antrieb. Das verbessert sich stark, wenn die Schülerinnen und Schüler Mitsprache haben, was sie lernen wollen.
"Die Rolle der Eltern ist massiv"
Der zweite wichtige Befund ist, die Eltern sind bei Weitem die wichtigsten Lernunterstützer. Die Rolle der Eltern ist massiv, und ganz erstaunlich, wie stark das ausgeprägt ist. Auf der anderen Seite haben Eltern aber ein extrem konservatives Bild von Schule, nämlich, dass da Faktenwissen vermittelt wird. Also von 21st-Century-Skills ist da wenig die Rede.
Das Dritte ist – auch das vielleicht etwas überraschend –, dass weniger als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler digitales Lernen präferieren. Also viele lernen schon – gerade Mädchen – lieber analog, und sie schätzen auch höherwertige digitale Kompetenzen sehr gering. Also, das ist mehr so Bedienkompetenz, das ist wichtig, aber dass man Quellen prüfen kann, wie man im Internet recherchiert oder gar Programmieren – kommt als Allerletztes –, das fällt den Jugendlichen nicht ein. Obwohl sie sagen, ich lerne vor allem, weil ich später für den Beruf das brauche, sind diese MINT-Fächer aus Sicht der jungen Menschen überhaupt nicht wichtig.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Jahn: Wie gefährlich ist dieser Befund?
Winter: Also, dieser Befund ist schon sehr gefährlich und spiegelt auch wieder, was wir aus internationalen Vergleichsstudien wissen, dass in Deutschland die Schülerinnen und Schüler bestenfalls so eine Art Bedienkompetenz haben. Das schätzen sie auch selber sehr, sehr hoch ein, das ist ihnen sehr wichtig. Das ist sozusagen das Zweitwichtigste.
"Mitsprachemöglichkeit motiviert"
Aber wenn es dann wirklich darum geht, in die Tiefen einzudringen, also die Urteilsfähigkeit über Informationen aus Medien, Internet, das ganze Fake-News-Thema, was sind gute Quellen, das wird ganz gering eingeschätzt in seiner Bedeutung. Programmieren können im weitesten Sinne, also wirklich aktiv Gestalter zu sein dieser digitalen Welt, ist auf dem allerletzten Platz gelandet in der Befragung.
Also, das spiegelt genau wieder, dass die höherwertigen digitalen Kompetenzen weder vorhanden sind noch auch gesehen werden. Das ist insofern schon ein bedenklicher Befund. Da muss man wirklich sehr dran arbeiten, damit auch die jungen Menschen nicht in den Tiefen von Falschmeldungen versinken.
Jahn: Gehen wir jetzt mal die verschiedenen Punkte, die Sie angesprochen haben, durch. Auffällig ist ja, dass Sie sagen, die meisten, also zwei Drittel, haben keine Lust, zu lernen. Was haben Sie herausgefunden, wann lernen die Kinder und Jugendlichen denn gerne? Was ist Ihnen wichtig, was motiviert sie?
Winter: Also, was Sie motiviert, ist, wenn sie etwas Mitsprachemöglichkeit haben. Also wenn sie in modernen Lernformen ein großes Themenfeld vor sich haben, wo sie dann aber das, was sie genau bearbeiten wollen in einem Projekt, mit anderen zusammen, dann näher anschauen, dazu recherchieren sollen, dann motiviert das ungemein. Moderne Formen des Lehrens und Lernens haben das auch längst in den Blick genommen. Selber etwas tun, selber als Akteur und nicht passiv zu sein, das ist zentral.
Ein Prozentsatz, um den man sich sorgen muss
Jahn: Also mehr Mitsprache führt zu mehr Lust am Lernen. Das ist das eine Ergebnis. Jetzt das Zweite, das Sie angesprochen haben, waren die Eltern, dass die Eltern sehr wichtig sind. Wir haben gerade während des Corona-Lockdowns oder -Shutdowns gemerkt, dass die Eltern eine ganz zentrale Rolle auch für den Lernerfolg der Kinder spielen. Die Kinder, die Eltern haben, die ihnen nicht so viel helfen können, sei es aus zeitlichen Gründen oder auch weil der Bildungshintergrund ein anderer ist, die haben das Nachsehen. War das auch schon vor Corona der Fall?
Winter: Das haben wir so dort nicht abgefragt, sondern tatsächlich erst in einer zweiten Studie während der Coronazeit, wie die Belastungssituation ist, von der wir ja vor Corona so noch nicht ausgehen konnten. Da war nur die Feststellung, dass Eltern auch in ganz normalen Zeiten die Hauptansprechpartner, aber auch die Vertrauensperson sind, an die man sich wendet, weit vor Freunden, weit vor vor allen Dingen Lehrkräften.
Also die Eltern sind von zentraler Bedeutung. Das hat sich natürlich in der Homeschooling-Phase noch mal gesteigert gezeigt. Auch dort bestätigen dann in anderen Studien auch unsere eigene zweite Studie, bestätigt sich das. Positiv kann man sagen, es hat dort eigentlich für alle Gruppen keine generelle Überforderung gegeben. Also die weit überwiegende Mehrheit ist mit der Situation auch gut klargekommen. Die Eltern sind da sehr engagiert, die Schülerinnen und Schüler kommen da gut mit zurecht, aber Sie haben einen ganz wichtigen Punkt angesprochen, der einen sehr nachdenklich stimmen muss: Es gibt natürlich eine Gruppe von irgendwie zehn bis zwanzig Prozent Schülerinnen und Schüler, die von zu Hause keine oder wenig Unterstützung haben, und um die muss man sich große Sorgen machen.
"Kaum höhere Formen der Digitalisierung vorhanden"
Jahn: Sie hatten einen dritten Punkt angesprochen, der auch interessant ist, dass das Digitale gar nicht unbedingt das ist, was alle Schüler gerne tun. Manche lernen lieber analog. Das hat sich auch während der Corona-Zeit gezeigt, dass viele gesagt haben, hm, nur digitales Lernen am Bildschirm, das gefällt mir gar nicht so gut.
Winter: Das ist absolut richtig. Natürlich vermissen Schülerinnen und Schüler ihre Peers, also die anderen Kinder und Jugendlichen. Man muss aber aufpassen, wenn man über Digitalisierung spricht, was man dann eigentlich meint. Also wenn wir jetzt zu den Corona-Befunden da kommen, dann stellt man ja fest, Digitalisierung meint im Wesentlichen Versand von E-Mails mit Arbeitsblättern durch die Lehrkräfte. Also, es sind ja kaum die höheren Formen der Digitalisierung vorhanden, also dass Lehrkräfte tatsächlich einen virtuellen Klassenraum gestalten, wo dann die Schülerinnen und Schüler sich auch mit den Lehrkräften tatsächlich treffen. Dafür gibt es ja durchaus technische Unterstützung. Das findet kaum statt. Also insofern muss man genau hingucken, was Digitalisierung meint und wie das dann entsprechend bei den jungen Menschen auch ankommt.
Ein Mädchen packt ein Tablet in ihren Schulranzen
Digitaler Unterricht bleibt die Herausforderung
Die Corona-Pandemie hat die deutschen Schulen in die digitale Krise gestürzt. Je näher die Sommerferien rücken, desto dringender wird die Planung des nächsten Schuljahrs. Wie können die Schulen dann wieder öffnen und welche Rolle muss digitaler Unterricht spielen?
Jahn: Wir werden sicherlich nicht wieder zum Status quo ante zurückkehren, also zu der Situation vor dem Corona-Shutdown. Was lässt sich aus den Ergebnissen Ihrer verschiedenen Studien und auch anderer Studien, die Sie überblicken können, lernen für das Lernen allgemein, aber auch für die Zukunft der Bildungsinstitution Schule?
Winter: Also, ich glaube auch, dass wir nicht auf den Status vor der Krise zurückfallen werden, aber wenn man so diese Zweiteilung hat, Schule ist für Faktenwissen verantwortlich, die außerschulischen Lernorte machen die eigentlich spannenden Sachen, das kann nicht die Zukunft sein, sondern eigentlich muss es darum gehen, die Verbindung von Schule, die Öffnen von Schule hin zu außerschulischen Lernorten tief im Curriculum zu verankern.
Ansätze des deeper learning
Es gibt da wirklich gute Ansätze, die leider vor allen Dingen im Ausland zu betrachten sind unter der Überschrift deeper learning, wo wirklich sehr viel projektförmiges Lernen stattfindet. Wir müssen einfach aus dieser Krisensituation rauskommen und jetzt in eine neue Phase eintreten, wo wir schauen, wie kommen wir jetzt eigentlich nach der Krise mit dem, was wir da gelernt haben und was anders ist, in neue Formen des Lehrens und Lernens hinein. Da zählen sicher nicht nur die Schulen dazu, sondern auch dieses ganze Spektrum der außerschulischen Lernorte um Schulen herum.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.