Aus den Feuilletons

Wer darf was und wenn ja wie viele?

06:13 Minuten
Stühle stehen in einem wegen des Coronavirus noch geschlossenen Biergarten an die Tische gelehnt.
Noch darf in Bayern niemand in den Biergarten. Ab 18. Mai werden diese Stühle gerückt. © dpa
Von Ulrike Timm · 09.05.2020
Audio herunterladen
Die Woche hat gezeigt: Aufmachen ist schwieriger als Zumachen, Lockerungen sorgen für mehr Diskussionen als Verbote. Und die vielen W-Fragen werden auch noch in jedem Bundesland ein bisschen anders beantwortet.
"Der Mensch will raus!" titelt die ZEIT und zeigt ein Grüppchen fröhlich strampelnd kopfüber im Wasser – im Feuilleton der ZEIT geht die Diskussion um die Corona-Regeln dann deutlich schwermütiger vonstatten: Was zählt bei der Bekämpfung der Pandemie mehr, der Lebensschutz oder die Freiheit? Und lassen sich Grundrechte überhaupt gegeneinander abwägen? Darüber tauschen sich der Philosoph Jürgen Habermas und der Rechtstheoretiker Klaus Günther aus.

Die Notwendigkeit, abzuwägen

Habermas meint, ihn beunruhige, "wie nun auch Juristen in den Chor derer einstimmen, die den im zweiten Satz des zweiten Artikels unseres Grundgesetzes gewährleisteten ‚Lebensschutz‘ gegenüber der in Artikel 1 genannten, gewissermaßen über allen thronenden ‚Menschenwürde‘ relativieren und zur ‚Abwägung‘ mit allen übrigen Freiheits- und Teilnahmerechten gewissermaßen freigeben."
Etwas pragmatischer sieht und formuliert es Klaus Günther, der sich mit Habermas in der ZEIT austauscht. Er meint: "Die Notwendigkeit, Grundrechte abzuwägen, ergibt sich aus dem Umstand, dass es mehr als ein Grundrecht gibt und kein Grundrecht grenzenlos gilt. Sie können miteinander kollidieren. Daher dürfen auch die meisten Grundrechte (wie Leben und Freiheit) ausdrücklich durch Gesetze eingeschränkt werden, nicht nur, um vorhersehbare Kollisionen zu verhindern, sondern auch, um andere verfassungsrechtlich legitimierte Ziele zu erreichen."
Uff. Wenn Sie also nun wieder fröhlich ohne Körperkontakt sporteln, Verwandte in gerader Linie treffen – Bayern! – oder unterm Kastanienbaum ein Bier ordern – möglich in Berlin ab 15.5. in Niedersachsen ab 11.5., in Rheinland Pfalz ab 13.5., in Bayern aber erst ab 18.5. – ….dann passen Sie also bloß auf, dass Sie nicht zu viel verkehrt machen! Alles richtig geht sowieso nicht.
Zu den verdienstvollen Beiträgen der Woche gehört "Das virologische Zahlenwirrwarr – entheddert." Der TAGESSPIEGEL liefert einen "Erklärungsversuch" der Kennziffern zur Pandemie, von Wachstumsfaktor und Wachstumsrate über Nowcasting bis Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner, die "in einer Region unter 50 pro 100 000 Einwohner beziehungsweise 35 pro 100 000 Einwohnern in Großstädten" bleiben müssen, damit es mit dem Bier unterm Kastanienbaum nicht gleich wieder vorbei ist.

Wollen wir Fußball so wirklich sehen?

Bleibt die Sache mit dem Bundesligafußball – die wird zwar überall erklärt und kommentiert, von Sport bis Feuilleton, aber so richtig verstehen tut das wohl trotzdem keiner. Geisterspiele ab nächstes Wochenende, Tore sind weiter erlaubt, Torjubel aber nur per kurzem Ellbogen-Bump oder freudigem Füßeln. Wollen wir das wirklich sehen? Zumal, wenn der Nachbarjunge im Sportverein um die Ecke nicht den Ball treten darf?
Und uns Salomon Kalou von Hertha BSC gezeigt hat, wie es zugeht unter stinkreichen Profis in der Kabine? Die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG wird ironisch: "Kalou (...) hätte jetzt zum Helden wider Willen werden können. Denn hätten Sport und Politik die naheliegenden Schlüsse aus dem Video gezogen, hätte Kalous Verhalten einem Geisterspiele zumindest vorerst erspart."
"Ich habe manchmal eine Stinkwut" – in einem Gespräch mit der FRANKFURTER ALLGEMEINEN zieht die Bratschistin und Siemens-Musikpreisträgerin Tabea Zimmermann so fröhlich wie ehrlich vom Leder. Ihre Rage gilt Konzertveranstaltern, die für Jugendliche keine verbilligten Karten rausrücken, Festivals, die sich von russischen Oligarchen finanziell abhängig machen oder Fragen wie: "Okay, Sie wollen ein Bartok-Quartett spielen? Dann müssen Sie die GEMA Gebühren selbst zahlen."
Was wünscht sie jungen Musikern? "Den Mut, sich selbst zu sagen, dass sie nicht überall dabei sein müssen", so Tabea Zimmermann, und weiter: "Man muss sehr früh lernen abzuschätzen: was tut mir gut, was tut mir nicht gut? Wenn mir eine Person mit Macht und Einfluss in irgendeiner Weise nicht guttut, dann muss ich mich fernhalten, auch wenn dabei ein Konzert weniger für mich herausspringt."

Keine generelle Virusgefahr durch Klassik

So viel Gradlinigkeit wünscht man sich öfter. In jeder Kunst. Und nicht nur da. Aber erstmal muss es ja überhaupt wieder Konzerte geben, nicht nur Bundesliga-Spiele. Deshalb haben führende Sinfonieorchester bei Fachleuten der Berliner Charité eine Studie in Auftrag gegeben. "Der Corona-Nebel lichtet sich", die Bläser eines Sinfonieorchesters sind wider Erwarten keine gefährlichen Virenschleudern, stellte sich heraus. Querflöten pusten deutlich weniger heiße Luft um sich herum als gedacht. "Selbst beim Horn gab es keine Wirbel", freut sich die WELT.
"Trompeter blasen keine Kerzen aus", "während das selbst ein Kleinkind mit einem Puster hinbekommt", das lesen wir in der FAZ. Von Vorteil wider die Coronaverbreitung ist weiter, dass Musiker auf der Bühne hinter- und nebeneinander sitzen, und dass beim Musizieren niemand spricht. Die Gesundheitsexperten empfehlen den Orchestern wie den Kulturpolitikern, "den Start in die Normalisierung zu beginnen". Jetzt geht es also darum, wie es geht. Wahrscheinlich lange Zeit mit kleineren Besetzungen. Aber die generelle "Virusgefahr durch Klassik", die ist wohl keine.
Bloß - ein Hackbrettsolo bei einer Liebesszene, das bitte denn doch nicht. Auf indischen Bühnen ist das üblich. Das hat Theaterintendant Christian Stückl der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG erzählt, auch er auf der Suche nach viruskompatiblen Bühnenlösungen. Auf indischen Theaterbühnen sind Kusszenen verboten, "und ein Hackbrettsignal zeige an, das man sich Nähe nun denken müsse."
Mehr zum Thema