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Gedichte
Bilder für eine verkehrte Welt

Klaus Merz ist ein Meister der Kürze: 80 Seiten ein Roman, zwölf Wörter ein Gedicht. Früher habe er längere Texte mühevoll gekürzt, sagt Merz. Heute kommt nur aufs Papier, was lange abgewogen wurde.

Von Matthias Kußmann | 13.02.2014
    Im rückwärtigen Raum
    Was alles so wächst
    in uns und um uns:
    Einsicht und Ekel
    mit Glück auch die Liebe
    noch vor den Tumoren.
    Die Enkel wachsen, die
    Lichtung im Haar und
    hinter den Fußballtoren
    der unendliche Raum.
    So beginnt Klaus Merz' neuer Gedichtband. Er heißt "Unerwarteter Verlauf", und tatsächlich begegnet einem darin Unerwartetes. Nicht nur, dass Merz, der bislang nicht gerade als Fußballfan galt, plötzlich über "Fußballtore" schreibt und sie auch noch kühn auf "Tumore" reimt. Ihm gelingt es auch, in die Gedichte überraschende Wendungen einzubauen, Sprachspiele, Mehrdeutigkeiten, die die Texte, so lakonisch sie sind, zugleich öffnen, weiten.
    "Die Sprache abklopfen, abhören … Die ist so alt und trägt ja vieles mit sich. Dem immer wieder auf die Spur zu kommen, oder auf die Schliche! Das gehört zu meinem Metier, gehört auch zu meiner Passion. Das ist das, was auch am Schreiben abenteuerlich ist im Grunde genommen, obwohl schreiben am Tisch stattfindet."
    "Hinter den Fußballtoren / der unendliche Raum", heißt es im eingangs zitierten Gedicht. Wer nur auf den Platz glotzt und die Wahrheit zwischen den Pfosten sucht, "Tor oder nicht Tor?", sieht zu wenig. Merz geht es um das Öffnen von Räumen, gegen Engherzigkeit und Engstirnigkeit.
    Still leben
    Der Welt um mich
    geht langsam die Luft aus.
    Ich atme noch, ohne Gier.
    Und lasse den Blick
    für die Wirklichkeit fahren
    die es nicht gibt.
    "Ja, ich hab's immer ein wenig gewusst und im Lauf der Jahrzehnte immer mehr erfahren, dass es nur Wirklichkeiten gibt und nicht die Wirklichkeit. Das empfinde ich wiederum als eine Erweiterung des Raumes, des eigenen Raumes. Das hat nicht so viel zu tun mit äußerem Reisen, aber mit innerem Unterwegssein. Da reicht einfach eine Wirklichkeit nicht aus … Ich höre gern zu, bin nicht nur ein Erzähler, sondern, glaube ich, auch ein Zuhörer. Da merke ich, da melden sich ja andere, manchmal nur leicht verschobene, aber andere Wirklichkeiten ..."
    Diesen verschiedenen Wirklichkeiten spürt der 68-jährige Schweizer Autor nach, sensibel, zugewandt, doch auch kritisch, ironisch. Er schreibt über Reisen und Musik, Begegnungen mit anderen Menschen, Liebe, Krankheit, Alter und Tod - vor nicht allzu langer Zeit hat er selbst eine schwere Krankheit überwunden. Es geht um Liebende, die nur das "Auseinanderhalten" zusammenhält; um den "heißen Frieden" eines Jazzkonzerts; um den rasenden "Zug der Zeit", in dem wir sitzen, Knöpfe im Ohr, über Tastaturen gebeugt, während draußen die Welt "zerstiebt". Und es gibt schlagende - im Wortsinn schlagende - Bilder für eine aus den Fugen geratene, verkehrte Welt.
    Aus der Forschung
    Der Meister kriegt Schläge
    sein Herz ist wund.
    Er fletscht die Zähne
    und beißt den Hund.
    "Die Wörter haben diese Kraft, zu verzeihen - oder zu bezichtigen. Beides liegt ganz nahe beieinander und es ist ganz wichtig, dass man da jeweils Bilanz zieht."
    Klaus Merz ist ein Meister der Kürze. Es gibt nur wenige Autoren, die ihre Sprache so sehr verdichten - egal ob in Lyrik oder Prosa. Seine Romane, etwa der mehrfach preisgekrönte Roman "Jakob schläft", umfassen meist nur 80, 90 Seiten, und sind trotzdem reich an Welt, Figuren, sinnlichen Wahrnehmungen. Seine Gedichte konzentriert Merz teilweise bis auf zehn, zwölf Wörter, drei oder vier Verse. Früher habe er sehr viel längere Texte mühevoll gekürzt, sagt er, heute arbeite er anders:
    "Man hat mir zuhause immer gesagt, meine mittlerweile erwachsenen Kinder und meine Frau: Wenn man mich hinterrücks beobachte am Tisch, wenn ich am Schreiben bin, dann würde ich immer den Kopf leicht bewegen, als ob ich etwas in meiner Hirnschale rumrollen ließe ... Bei mir entstehen die Dinge zuerst mit dem Kopf abwägend, bis es mal aufs Papier kommt. "
    Merz' Gedichte sind bei aller Verknappung nie abstrakt, sondern anschaulich. Zudem haben sie Klang und Rhythmus. Endreime gibt es selten, dafür spielt der Autor mit Assonanzen, Konsonanzen und Binnenreimen. Und immer wieder richtet er den Blick aufs Kleine, vermeintlich Unwichtige - denn nichts ist banal im Rahmen eines großen Ganzen. Es kommt nur darauf an, wie man es wahrnimmt. Auch hier sind Räume zu öffnen.
    Borderline
    Die Tankstellen dösen
    das Zollhaus zerfällt
    wir wechseln das Land.
    Hier wache ich, warnt
    drüben ein Schild
    kein Hund gibt Laut.
    Da bringt ein Käfer
    die Erde ins Rutschen:
    Es werden Zeugen gesucht.
    Mindestens ein Zeuge wurde gefunden: der Autor Klaus Merz.
    Klaus Merz: "Unerwarteter Verlauf. Gedichte"
    Haymon Verlag, Innsbruck und Wien, 77 Seiten, 16,90 Euro