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Gedichte von Charles Simic
Das Unfassbare direkt vor unserer Nase

Den Zweiten Weltkrieg erlebte der Dichter Charles Simic in seiner Heimat Jugoslawien. In den 60er-Jahren diente er in der US-Armee. Beides hat seine Dichtung geprägt, in der sich Realismus mit Groteske und Metaphysik mischen. Jetzt liegen seine noch unveröffentlichten Gedichte aus den letzten 50 Jahren in zweisprachiger Ausgabe vor.

Von Nadja Küchenmeister | 27.12.2016
    Der Autor Charles Simic
    Der Autor Charles Simic. (Deutschlandradio / Sandra Ketterer)
    Es war ein langer Weg, den der Dichter Charles Simic zurücklegen musste, um der zu werden, der er heute ist. Das gilt natürlich für jeden Menschen, doch nicht jeder hat im Laufe seines Lebens eine Kindheit in zwei Diktaturen erlebt, seine Heimat verlassen und als Jugendlicher eine neue Sprache lernen müssen. Als der 1938 in Belgrad geborene Charles Simic nach Amerika kam, war er 16 Jahre alt. Zunächst in Paris gestrandet, reiste er mit seiner Mutter auf der berühmten Queen Mary dem Vater nach, der in Belgrad mehrfach verhaftet worden und schließlich über Italien nach Amerika geflohen war.
    Wohl niemals hätte es sich der junge Charly träumen lassen, in der neuen Heimat zu einem der bedeutendsten Dichter seiner Generation zu werden. Was von außen betrachtet zunächst wie ein Verlust von Identität anmuten mag, trug in Wirklichkeit zur Ich-Werdung eines Schriftstellers bei, der, wie er selbst einmal sagte, fortan mit einem Akzent schreiben und träumen sollte und der Amerika vom ersten Tag an liebte.
    Eigentlich hatte Charly, der Highschool-Schüler, andere Pläne: Er wollte Maler werden. Doch in Chicago, wo die Familie inzwischen lebte, begann er mit dem Schreiben von Gedichten. Zu Beginn noch stark beeinflusst von Carl Sandburg und Vachel Lindsay, entdeckte er bald T.S. Eliot, Ezra Pound und Walt Whitman für sich, später begeisterte er sich für Hart Crane, Wallace Stevens, Theodore Roethke und allen voran für Emily Dickinson.
    Kaum erwachsen geworden, zog er von Chicago nach New York, wo er sich mit kleinen Jobs über Wasser hielt, bevor er Anfang der 60er-Jahre in der Armee diente, davon zwei Jahre in Deutschland und Frankreich. Simic vernichtete in dieser Zeit seine frühen Gedichte. Konfrontiert mit dem Leben, das er nun zu führen gezwungen war, erschienen sie ihm literarisch wertlos. Verlassen von allem, verlangte ihm danach, etwas zu finden, das nur ihm selbst gehörte, etwas, das real war, das er ganz und gar verstand.
    "Über das zu sprechen, was man liebt"
    "Es ist nicht einfach über das zu sprechen, was man liebt", erklärte er in einem Interview aus dem Jahr 1972, "es brauchte Zeit. Ich strebte Genauigkeit an – jedes Wort sollte so gebraucht werden, als wäre es Teil eines erotischen Vorgangs. Ich war von dem Glauben durchdrungen, dass das Unfassbare direkt vor unserer Nase liegt, dass jedes Ding mit Leben erfüllt ist."
    Mit dieser Erkenntnis im Gepäck veränderte sich sein Leben. Er studierte Literatur, veröffentlichte in rascher Folge mehrere Gedichtbände, wurde schließlich Professor für amerikanische Literatur und Kreatives Schreiben, schrieb Essays, übersetzte große Dichter wie Ivan Lalić und Vasko Popa und wurde mit wichtigen Preisen bedacht. Bis heute reist der inzwischen 78-Jährige als gefragter Schriftsteller um die Welt.
    Im Hanser Verlag ist nun das Buch "Picknick in der Nacht" erschienen, das seine hierzulande noch unveröffentlichten Gedichte aus den letzten fünfzig Jahren in einer zweisprachigen Ausgabe präsentiert, übersetzt von Wiebke Meier.
    Abendspaziergang
    Ihr gebt euch den Anschein, als lauschtet ihr
    Meinen Gedanken, O Bäume,
    Zur Straße geneigt, über die ich
    An einem Spätsommerabend gehe,
    Wenn jeder von euch eine steile Treppe ist,
    Auf der die Nacht langsam herabsteigt.
    Die Blätter oben in ewigem Zittern
    Wie die Lippen meiner Mutter, unentschlossen,
    Denn es geht ein leichter Wind,
    Und es ist, als hörte man Stimmen
    Oder einen Mund voll gedämpften Lachens,
    Einen großen dunklen Mund mit Raum für uns alle,
    Plötzlich von einer Hand bedeckt.
    Alles still. Das Licht
    Eines anderen Abends zieht voraus,
    Ein Abend vor langer Zeit mit Seidenkleidern,
    Nackten Füßen, gelösten, fallenden Haaren.
    Glückliches Herz, welche schweren Schritte tust du,
    Als du ihnen in die Schatten nachfolgst.
    Der Himmel am Straßenende wolkenlos blau.
    Die Nachtvögel wie Kinder,
    Die nicht zum Essen kommen.
    Verirrte Kinder in dunkelnden Wäldern
    Wer über Simic’ Gedichte spricht, kommt an den Gegenständen nicht vorbei. An den Schuhen, Gabeln, Streichhölzern, Bleistiften, an den Kaffeetassen, Brotkrusten, Pelzmänteln und Rasierspiegeln, die es einem leicht machen, in den Raum seiner Gedichte einzutreten. Sie sind ausgestattet mit dem, was wir aus unserem alltäglichen Leben kennen, und sie benennen Orte, die wir aufsuchen: Landschaften, Städte, Innenräume. Auch in "Picknick in der Nacht" begegnet uns all das wieder. Doch schildert Sidmic die vermeintliche Realität niemals ungebrochen: Einrichten wie in einem gemütlichen Wohnzimmer sollen wir uns nicht darin. Vielmehr erinnert er uns stets daran, wie wenig Halt das so leicht Fassbare verspricht:
    Ich streife durch die alte Nachbarschaft auf der Suche nach Freunden,
    Trete in zugemüllte Hinterhöfe, wo Bäume
    Wie Kriegskrüppel auf Krücken aussehen,
    Halte an einem Baumstumpf, wo Großmama
    Gockel und Hühner kopflos herumlaufen ließ.
    Aus einer Erinnerung an seine Kindheit im ehemaligen Jugoslawien wird ein Requiem. Und die Katze, die ihm im Gedicht Fortlebende Geister um die Beine streift und zur Führerin durch die dunkle Nacht wird, "... auf dieser Straße mit den fehlenden Gebäuden, /Fehlenden Gesichtern", entsteigt sie nicht einer uralten Zeit, in der die Tiere, die Simic nur allzu gern beschwört, noch ausgestattet waren mit Eigenschaften, die heute vielfach vergessen sind?
    Den Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien erlebt
    Nicht ohne Grund ist es eine schwarze Katze, die durch das verlassene Reich der Kindheit geleitet, nur ein paar fortlebende Geister künden noch von dieser untergegangenen Welt. Er habe den Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien erlebt, sagte Simic einmal, und die damit verbundenen furchteinflößenden Erfahrungen gemacht. Zwangsläufig dränge etwas aus dieser Zeit in seine Gedichte ein.
    Die Form, die ihm erlaube, etwas zu erschaffen, gehöre nicht ihm, sie gehöre dieser Erinnerung an damals und vermutlich noch seinen Vorfahren. In Simics Gedichten wimmelt es nur so von mythischen Anspielungen. Er ist bei den europäischen Surrealisten in die Schule gegangen, seinen handfesten grotesken Humor bezieht er aus Volks-und Kinderliedern sowie Nonsensversen und Abzählreimen, die ebenfalls immer wieder Eingang in sein Werk finden. Wie direkt dieser Schriftsteller auch nach den Dingen greifen mag, sie vor uns hinstellt in das klare Licht seiner einfachen Sprache, die von den endlos weiten Himmeln Amerikas ebenso durchdrungen ist wie von den brennenden Himmeln seiner jugoslawischen Kindheit: Die Hintergrundstrahlung unserer Existenz, die Metaphysik, die Vergänglichkeit denkt er in seinen Gedichten immer mit. Und so verleiht er dem Irdischen Ewigkeit, denn es ist ihm ebenso rätselhaft wie das Vergehen der Zeit, die Frage nach dem Göttlichen und die Seele samt ihres Verlöschens.
    Das Gefühl des Erstaunens
    "Es ist für mich seltsam, dass wir nicht mehr darüber erstaunt sind, am Leben zu sein", lässt uns der Dichter wissen. "Erstaunen wird zu einem immer selteneren Gefühl. Deshalb ist es auch nicht überraschend, dass die jüngsten wissenschaftlichen Entdeckungen für die meisten von uns bedeutungslos bleiben. Ehrfurcht könnte sie uns näherbringen, aber wir haben vergessen, wie sich Ehrfurcht anfühlt, wie wir auch so viel anderes vergessen haben."
    Charles Simic, das zeigt auch der nun vorliegende Gedichtband, erinnert sich und uns seit Jahrzehnten an das Rätsel, das wir sind. Antworten bleibt er zum Glück schuldig. Um Antworten geht es in der Dichtung auch gar nicht.
    Als man Charles Simic im selben Interview fragte, er war damals gerade einmal 34 Jahre alt, was er als sterbender Mann von 70 Jahren einem jungen Lyriker mit auf den Weg geben würde, antwortete er:
    "Lebe und finde heraus, wer du bist." Mit seinen bald 80 Jahren scheint er es auch selbst noch immer herausfinden zu wollen. Möge er lange auf diesem Weg unterwegs bleiben.
    Großvaters Zauberworte
    Ich hasse es, wenn Vögel singen,
    der Frühling kommt, der Wald grün wird
    Und kleine Blumen entlang
    der Landstraße sprießen.
    Öde Himmel, kurze Tage
    Und lange Nächte mag ich am liebsten.
    Ich sondere mich gerne ab und
    Sehe meine Gedanken umherschweifen
    Wie eine heimatlose Familie,
    Die ihre Kinder festhält und
    Ihre wenigen Besitztümer,
    Bei der Suche nach einem Dach für die Nacht.
    Und am schönsten ist es zu wissen,
    heute bin ich hier, morgen fort,
    Das Dunkel schleicht an mich heran,
    Um das Streichholz in meiner Hand zu löschen.
    Charles Simic: Picknick in der Nacht.
    Gedichte 1962–2015. Hanser Verlag, München 2016, 280 Seiten, 22,90 Euro.