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Gefährliche Recherche in der Türkei
Journalisten in der Schusslinie

Die türkische Armee hat gestern Abend ihre Angriffe auf kurdisch kontrollierte Gebiete im Norden Syrien noch einmal verstärkt. Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter. Im Kreuzfeuer der türkischen Angriffe stehen aber nicht nur bewaffnete kurdische Rebellen, sondern auch kurdische Journalisten.

Von Reinhard Baumgarten | 19.02.2016
    Ein türkisches Kampfflugzeug startet am 28.07.2015 vom Stützpunkt Incirlik.
    Ein türkisches Kampfflugzeug startet am 28.07.2015 vom Stützpunkt Incirlik. (AFP / Str)
    Es ist ein Job wie viele dieser Tage, denkt Refik Tekin am 21. Januar. Doch dieser Tage im Südosten der Türkei als Journalist zu arbeiten, ist alles andere als Routine. Refik Tekin arbeitet für die kurdische Medienagentur IMC TV. Er schnappt sich seine Kamera und zieht los. Eine kleine Gruppe von Aktivisten wartet in Cizre bereits auf ihn. Tekin ist Teil einer heiklen Mission und soll diese mit seiner Kamera dokumentieren.
    "Wir sind zu dem betroffenen Stadtteil gegangen. Vorneweg zogen Leute mit einer weißen Fahne. Verletzte und Tote wurden eingesammelt und dann haben wir uns auf den Rückweg gemacht."
    Seit 37 Tagen galt da bereits schon ein verschärfter Ausnahmezustand in Cizre – eine Stadt mit gut 100.000 Einwohnern unweit der irakischen Grenze. Es hatte wieder Tote und Verletzte gegeben. Die Sicherheitskräfte sprachen von Terroristen. Die Aktivisten wollten sie bergen.
    "Beim Rückweg sind wir zur Nusaybin-Straße gekommen, die Cizre zweiteilt. Da waren mit bloßem Auge erkennbar Panzer und gepanzerte Fahrzeuge zu sehen. Die Leute mit der weißen Fahne gingen wieder voraus. Dann wurde das Feuer auf uns eröffnet."
    Beschuss trotz weißer Fahnen
    Es habe keine Vorwarnung gegeben, sagt der 36-Jährige. Niemand habe aufgrund der weißen Fahne damit gerechnet, beschossen zu werden.
    "Um mich herum sind Leute gestürzt. Ich habe dann gespürt, dass mein Bein heiß wird und das einen Schmerz im ganzen Körper auslöst, wenn ich es berühre. Da habe ich gemerkt, dass ich verletzt war. Ich habe mich auf den Boden gelegt und mich dann in Richtung eines Ladens geschleppt, wo ich sicherer war."
    Journalist mit verletztem Bein.
    Refik Tekin mit verletztem Bein. (ARD / Reinhard Baumgarten)
    Refik Tekins rechtes Schienbein wird von einer Kugel zerschmettert. In den türkischen Mainstream-Medien ist über diesen blutigen Zwischenfall in Cizre nichts zu erfahren. Das Schweigen hat Methode, erklärt Emma Sinclair-Webb von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
    "Im Südosten (der Türkei) hast du eine neblige Situation. Oft wird das als Kriegsnebel beschrieben. Du kannst die Umstände nicht kennen, unter denen in den Stadtzentren gekämpft wird."
    Der von Ankara sogenannte Krieg gegen den Terrorismus findet weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Zehntausende sind geflohen, Hunderte Tote soll es gegeben haben. In den weitgehend regierungstreuen Medien ist selten von zivilen Opfern die Rede. Getötete Sicherheitskräfte werden Şehitler genannt – Märtyrer. Die anderen Toten werden als Terroristen bezeichnet.
    "Was wir hier in der Türkei oft sehen, sind Knebelverordnungen. Wenn Grausamkeiten geschehen, dann werden Nachrichtensperren verhängt. Über die Untersuchungen darf dann auch nicht berichtet werden. Wer solche Untersuchungen öffentlich diskutiert, wird häufig kriminalisiert."
    Refik Tekin wird ins Krankenhaus gebracht. Eigenen Angaben zufolge wird er auf dem Weg dorthin von Sicherheitskräften beschimpft, beleidigt, geschlagen. Sein rechtes Bein wird jetzt durch Schrauben und eine Platinplatte zusammengehalten. Zwei Monate kann Tekin nicht arbeiten. Dann will er trotz aller Widrigkeiten weitermachen.
    "Vonseiten des Staates - ob Polizei, Gendarmerie oder der Sonderpolizei - wird jede Form von Behinderung an den Tag gelegt. Wir werden beleidigt, beschimpft, bedroht. Wir werden wie Terroristen behandelt. Gegen mich haben sie auch einen Prozess wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation eingeleitet."
    Wer Terrorist ist, bestimmt der Staat
    Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer. Im Südosten der Türkei führt Ankara nach eigenem Bekunden Krieg gegen Terroristen. Wer Terrorist ist, bestimmen der Staat und die Sicherheitskräfte, meint Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch.
    "Die politischen Führer der Türkei und insbesondere der Präsident haben im vergangenen Jahr eine beispiellose Bereitschaft an den Tag gelegt, ein Klima der Angst für ihre Kritiker zu schaffen und ihre Gegner zu dämonisieren."
    Zu den Gegnern gehören offenkundig auch kritische Journalisten wie Refik Tekin.