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Gefängnis der Kindheit

Von außen betrachtet lebt sie wie ein gewöhnliches Mädchen im Korea der 60er Jahre: Sie geht zur Schule und hilft der Großmutter bei der Hausarbeit, sie verliebt sich und bekommt ihren ersten BH. Das klingt so gewöhnlich wie harmlos, ist es aber nicht. Denn Jinhi simuliert nur das Leben einer normalen 12-Jähren. Als kleines Kind wurde Jinhi von ihrer Mutter an einen Pfahl gebunden und verlassen. Dieses Trauma bestimmt untergründig Jinhis ganzes Leben.

Von Katharina Borchardt | 08.08.2005
    Jacques Prévert:
    Ein Geschenk des Vogels
    Ein uralter Papagei brachte ihm seine Sonnenblumenkerne
    und die Sonne brach ein in das Gefängnis der Kindheit.


    Der uralte Papagei mag wohl die Großmutter sein, bei der die 12-jährige Jinhi untergekommen ist. Als kleines Kind wurde Jinhi von ihrer Mutter an einen Pfahl gebunden und verlassen. Ihre Großmutter aber sorgt gut für sie. Auch ihre 20-jährige Tante Yongok und ihr Onkel Yonghun sind immer um sie. Das Trauma aber, von der Mutter verlassen worden zu sein, bestimmt untergründig Jinhis ganzes Wesen.

    "Wenn mich jemand ansieht, teile ich mich in zwei Ichs. Das eine Ich bleibt einfach in meinem Körper verborgen, und das andere, das von meinem wirklichen Ich abgetrennt ist, tritt nach außen und spielt meine Rolle. Das Ich, das meinen Körper verlassen hat, setzt sich anderen Menschen aus und verhält sich so, als wäre es ich selbst, aber mein wirkliches Ich bleibt zurück und betrachtet das andere. […] Ich teile mich in ein "sichtbares" und ein "sehendes Ich"."

    So wird es auch der erwachsenen Jinhi noch gehen, die Mitte der 90er Jahre auf ihr Leben zurückblickt. Dieser Rückblick bildet die schmale Rahmenerzählung des Romans. Die restlichen etwa 300 Seiten aber beschreiben die Gedankenwelt der 12-jährigen Jinhi, die in den 60er Jahren bei Großmutter, Tante und Onkel in einem kleinen südkoreanischen Dorf aufwächst.

    Von außen betrachtet lebt sie wie ein gewöhnliches Mädchen: Sie geht zur Schule und hilft der Großmutter bei der Hausarbeit, sie verliebt sich und bekommt ihren ersten BH. Das klingt so gewöhnlich wie harmlos, ist es aber nicht. Denn Jinhi simuliert nur das Leben einer normalen 12jähren. Nach dem Schock des Verlassenwerdens intellektuell ausgereift, analysiert sie die Menschen in ihrer Umgebung schonungslos. Die Erwachsenden ahnen nicht, dass sie Studienobjekte für Jinhi sind.

    "Ich habe zu den Geheimnissen der Erwachsenen leichten Zugang, weil ich ein Kind bin. Genauer gesagt, weil ich als Kind wahrgenommen werde. […] Kinder, die wie ich die Welt schnell durchschauen, können sich viel überzeugender als die, die sich wirklich nur auf Kinderniveau befinden, so kindlich verhalten, wie Erwachsene es sich wünschen."

    Jinhi durchschaut sie alle: die missgünstige Nachbarin wie auch die kokette Miss Lee oder die herzensgute, aber verzagte Besitzerin der Schneiderei. Ihr Lieblingsobjekt aber ist ihre Tante Yongok. Die kichert albern herum, verliebt sich in einen Dummkopf und übt theatralische Gesten vor dem Spiegel. Die Großmutter schimpft oft mit Yongok und sagt, sie benehme sich wie Sodongsong aus der Tang-Dynastie eine Art Prinzessin auf der Erbse. Jinhi hingegen verhält sich mustergültig: Sie ist fleißig und hilfsbereit, was seine Gründe hat:

    "In der Liebe meiner Großmutter gilt die wohlwollende Zuneigung mir, während die missbilligende Zuneigung selbstverständlich Tante Yongok gilt. Weil meine Tante unmöglich Großmutters wohlwollende Zuneigung gewinnen kann, habe eigentlich nur ich Aussicht auf ihre vollkommene Liebe. Aber ich kann mir nicht einmal vorstellen, etwas zu tun, was meiner Großmutter missfallen könnte, um auch ihre missbilligende Zuneigung zu gewinnen. Ich habe nicht das nötige Selbstvertrauen. Vielleicht ist missbilligende Zuneigung ein tieferes Gefühl, das sich viel schwerer wecken lässt als wohlwollende."

    Die Großmutter ist ruhig und gesetzt. Sie führt den Haushalt und ist der ruhende Punkt in Jinhis Leben. Sie ist auch die einzige Person, die nicht von Jinhi psychologisch durchleuchtet wird.

    Die dörfliche Welt der 60er Jahre, in der das Mädchen lebt, ist klein und wirkt fast wie die begrenzte Kulisse eines Theaterstücks. Das Zentrum des dörflichen Lebens bildet der Brunnen. Es gibt noch keinen Fernseher, nur ein Radio. Die Kleider kommen aus der Schneiderei und nicht von der Stange. Doch die Zeiten ändern sich - die Moderne hält Einzug: Im Nachbarort wurde unlängst eine Waschmittelfabrik gebaut. Mit dem Besuch von Sok, einem Studienfreund von Jinhis Onkel, dringt auch die politische Situation der späten 60er Jahre ein. Sok berichtet von Studentendemonstrationen gegen den diktatorisch agierenden Präsidenten Park Chunghee in der Hauptstadt Seoul. Für die Autorin Eun Heekyung hat sich ihr Land in den späten 60er Jahren sehr verändert:

    "Das Jahr 1969 ist ein sehr wichtiges Jahr. In diesem Jahr ist die Apollo 11 auf dem Mond gelandet. Die Menschheit war ganz und gar zukunftsorientiert, aber in Korea sah die Realität anders aus: Hier fing die Diktatur an. Und durch die Industrialisierung verließen viele Menschen das Land und gingen in die Städte. Viele Leute mussten um ihre Existenz kämpfen. Dieses Problem wollte ich aus einem distanzierten Blickwinkel erzählen."

    Dies ist der Blickwinkel der 12-jährigen Jinhi. In den 60er Jahren hat sich Korea in der Tat sehr verändert. Die Zeit der japanischen Besatzung war vorbei, ebenso der Korea-Krieg. Das Land war nun definitiv geteilt. Im Norden herrschte nach sowjetischem und chinesischem Vorbild der Sozialismus; im Süden orientierte man sich am kapitalistischen Westen, vor allem an den USA. Hier wie dort wurde das bäuerliche Land industrialisiert. Heute leben etwa 80% der Südkoreaner in einigen wenigen Großstädten, 12 Millionen allein in Seoul. Die rasante Modernisierung bildet den Hintergrund der Erzählung und verleiht dem Roman über seine psychologische Tiefe hinaus auch eine historische Dimension.

    Krieg und Militärdiktatur wurden bislang sehr explizit von gestandenen männlichen Schriftstellern thematisiert. Seit den 80er Jahren veröffentlichen jedoch auch zunehmend Frauen Bücher und sind damit sehr erfolgreich. Eun Heekyung ist eine der radikalsten unter ihnen.

    "Am Anfang hatten die älteren, männlichen Autoren durchaus Probleme damit, dass immer mehr Frauen geschrieben haben und auch akzeptiert wurden. Allerdings denke ich, dass diese Veränderung nicht allein in Korea stattgefunden hat, sondern weltweit. Aber mittlerweile haben sie erkannt, dass ein wichtiger Teil der Literatur darin besteht, den Menschen zu erforschen und dies darzustellen. Und jetzt ist es so, dass die beiden Parteien - also einerseits diese männliche, kraftvolle Art, diese kämpferische Art, Probleme anzugehen und andererseits die weibliche Seite, mit komplexeren Problemen sehr differenziert umzugehen und sie so zu lösen, dass diese beiden Seiten einander nicht mehr bekämpfen, sondern zusammen existieren."

    Die jüngere Generation thematisiert eher die Probleme der Moderne: das Leben in der Großstadt und die Einsamkeit des einzelnen Menschen, der nicht mehr in traditionelle Familienstrukturen eingebunden ist. Insofern kann man Jinhis Geschichte auch als die Personifikation der Geschichte des ganzen Landes verstehen: Was bei Jinhi der Verlust der Mutter und ihr beherrschender Intellekt sind, mögen für Korea der weitgehende Verlust der Tradition und seine technische Hochrüstung sein. So wie das Kind seinen eigenen Körper ausblendet, ist vielleicht auch dem Land der Bezug zu seiner ländlichen Herkunft verloren gegangen. Die Autorin Eun Heekyung untersucht in ihrem Roman die Wurzeln dieser Moderne:

    "Ich finde, dass Jinhi insofern den Prototyp des heutigen Menschen darstellt, als dass sie wie alle Menschen innerlich sehr schwach ist und sich nach anderen Menschen sehnt, aber sie kann es nicht, und das ist in unserem Leben eben auch so, dass wir nicht alles haben können, wonach wir uns sehnen. Jinhi versucht, ihre innere Schwäche durch Kühlheit nach außen hin wie eine Stärke aussehen zu lassen."

    Durch den analytischen Blick der 12jährigen Jinhi arbeitet die Autorin die Charaktere der Figuren außerordentlich differenziert aus. Von besonderer Tiefe sind die Frauenfiguren im Buch: die unverbesserlich naive Tante etwa oder die ständig neidische Nachbarin und natürlich Jinhi selbst. Eun Heekyung gibt sich in ihrem Roman aber auch gar keiner Illusion über den Menschen hin: Sie beschreibt Missgunst, die mit einem Lächeln daherkommt, die Unterdrückung der Frauen und den Verrat in Freundschaft und Liebe. Sie verweigert sich konsequent einer romantischen Schönfärberei menschlicher Beziehungen.

    Das Ende der Geschichte ist wie ihr Anfang. Auf ein Happy End braucht man nicht zu hoffen, denn die Wirklichkeit ist eben die Wirklichkeit und kein koreanischer Schmachtfetzen, wie ihn sich Jinhis Tante so gerne im Kino ansieht. Aber es gibt Figuren und Situationen, die ein wenig Licht ins Gefängnis von Jinhis Kindheit bringen. Ein herausragend ehrliches Buch, nicht nur für Korea, sondern auch für uns.

    Jacques Prévert:
    Ein Geschenk des Vogels
    Ein uralter Papagei brachte ihm seine Sonnenblumenkerne
    und die Sonne brach ein in das Gefängnis der Kindheit.


    "Ein Geschenk des Vogels
    Von Eun Heekyung
    Pendragon Verlag