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Gefahr von Megawellen
Der Tsunami im Alpensee

Im Jahr 1601 löste ein Erdbeben im Vierwaldstätter See in der Schweiz einen Tsunami aus, der mehrere Todesopfer forderte. Mehr als 400 Jahre später untersuchen Geologen nun die damals abgerutschten Schlammmassen des Gewässers.

Von Dagmar Röhrlich | 29.04.2014
    Blick auf den Vierwaldstätter See bei Luzern.
    Der Vierwaldstätter See: Auch in Gewässern wie diesen sind Tsunamis gar nicht so selten. (picture alliance / Hinrich Bäsemann)
    Es geschah am 18. September 1601, um 3 Uhr in der Früh: Ein Erdbeben der Magnitude 5,9 erschütterte die Gegend um Luzern - und löste im Vierwaldstätter See einen Tsunami aus, erzählt Flavio Anselmetti von der Universität Bern:
    "Wir haben historische Quellen, die berichten, dass an gewissen Stellen das Wasser bis 1000 Schritt oder drei Büchsenschüsse weit aufs Land kam. Jetzt: Wie weit ist das? Vielleicht 500 Meter, das ist eindrücklich. An anderen Orten berichten diese Quellen, dass man Treibgut in den Bäumen fand, das bis zu zwei Hellebarden hoch war. Wie hoch ist eine Hellebarde? Vielleicht zwei Meter. Wir gehen durchaus von einer Welle von vier bis fünf Metern Höhe aus, die dann nach diesem Erdbeben über den See ging und auch zu Toten geführt hat."
    Der Grund: Das Beben hatte im See Millionen Kubikmeter Schlamm ins Rutschen gebracht: Eine Unterwasser-Lawine raste den Hang auf den Seeboden hinab, verdrängte das Wasser und löste so eine Tsunamiwelle aus. Die schwappte mehrmals im See hin und her, riss an den Ufern Menschen in den Tod und zerstörte Häuser. Nun untersuchen Geologen mehr als 400 Jahre später die damals abgerutschten Schlammmassen, und die Daten fließen in Computersimulationen ein:
    "Wenn wir dann diese Filme anschauen, dann sehen wir, dass das ganz ähnlich ist wie in Indonesien oder in Japan: Das kommt in verschiedenen Wellen an. Im Ozean sind das Hunderte Kilometer, in den Seen sind das noch ein, zwei Kilometer. Das Wasser kommt und kommt vielleicht während einer halben Minute, Minute, steigt einfach an und nachher fließt es auch wieder weg, aber die Wellenhöhe, die kann vier bis fünf Meter sein."
    Frühwarnsystem bei kleinen Seen wenig sinnvoll
    Damals wie heute könnten Menschen mitgerissen werden, Häuser unterspült und zerstört. Deshalb hatten die Geologen über ein Frühwarnsystem nachgedacht:
    "Das ist natürlich eine Frage der Zeit: Wir haben ein oder zwei Minuten für die naheliegenden Gebiete, und das ist nicht realistisch."
    Es sei sinnvoller, den Menschen die Naturgefahr bewusst zu machen: Bebe die Erde, müsse man sofort weg vom Ufer. Um das Tsunamirisiko besser abschätzen zu können, erarbeiten die Geologen Unterwassergefahrenkarten für die schweizerischen Seen:
    "Wir untersuchen den Seeboden, wir schauen, an welchen Hängen in welcher Steilheit sitzen wie viel Meter Schlamm. Wir untersuchen die geotechnischen Eigenschaften dieses Schlammes, und wir können ziemlich gut berechnen, wie viel ich schütteln muss, um einen Hangrutsch auszulösen. Und dann wiederum können wir mit unserem Modell berechnen, wie die Welle ausschauen wird."
    Ziel sei es, die gefährdeten Bereiche auszumachen. Außerdem nutzen die Geologen die Hangrutsche zur Abschätzung des Erdbebenrisikos. Zwar gehen Unterwasser-Schlammlawinen auch aus anderen Gründen ab. Etwa wenn sich in einem Flussdelta im Lauf von Jahrzehnten oder Jahrhunderten zuviel Sediment abgelagert hat. Wird dieser Hang instabil, kann auch das einen Tsunami auslösen. Aber wenn sich in einem See mehrere Rutschungen gleichzeitig ereignet haben, lasse das auf ein prähistorisches Erdbeben schließen, erklärt Flavio Anselmetti:
    "Die Seen, die sind für uns wie die prähistorischen Seismografen. Instrumentell komme ich 50 Jahre zurück, historisch vielleicht 1.000 Jahre. Und wenn ich längere Zeiträume anschauen möchte - weil die Starkbeben, die finden im Alpenraum nur alle 2000, 3000 Jahre an einem Ort statt -, dann muss ich in die geologischen Archive gehen, und deshalb sind diese Rutschungen wunderbar für uns, also so schlimm das tönt, aber sie zeichnen für uns die vergangenen Erdbeben auf, die wir dann mit Bohrungen datieren können."
    So kennen die Geologen inzwischen drei Erdbeben, die gleichzeitig im Vierwaldstätter See und in dem rund 50 Kilometer entfernten Zürich-See Hangrutsche ausgelöst haben:
    "Da waren wir sehr überrascht, denn wenn wir das nachrechnen, dann kommen wir nicht unter eine Magnitude für diese drei Ereignisse von 6,2, 6,3 in einer Gegend, wo man solche Beben historisch nicht kennt. Und deshalb versuchen wir, das weiter zu verfeinern, sprich: verschiedene Seen anzuschauen, um so ein besseres Regionalverständnis der Lage dieser Starkbeben zu kriegen."
    Das gilt für alle Alpenseen, die damit eine besondere Art von Erdbebenkatalog bieten: Allerdings keinen vollständigen, weil sich nach einem Hangrutsch erst einmal wieder genügend Sediment ansammeln muss, ehe die nächste Unterwasser-Lawine ausgelöst werden kann. Aber die mögliche Größe seltener Beben lässt sich sehr viel besser abschätzen. An diese Informationen können dann beispielsweise die Vorschriften für erdbebensicheres Bauen angepasst werden - und auch das Tsunamirisiko für die Bauten in Ufernähe lässt sich berücksichtigen.