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Gefangen in der eigenen Apathie

Seit mehr als 20 Jahren bereist Rolf Bauerdick die Siedlungsgebiete der Roma in Osteuropa. In seinem Buch schildert er ihren von Ausgrenzung und sozialer Not bestimmten Alltag. Doch statt ziganes Selbstbewusstsein aufzubauen, hätten sie vielerorts ihren Opferstatus perpetuiert.

Von Sabine Pamperrien | 23.05.2013
    Ein Kritiker schrieb über den preisgekrönten Debütroman des Journalisten Rolf Bauerdick euphorisiert, er wirke, als hätten Gabriel Garcia Marquez und Emir Kosturica gemeinsam im Rausch diese Geschichte ausgeheckt. Bauerdick ist ein leidenschaftlicher Erzähler. Auch der nun vorgelegte Reportageband über Zigeuner ist geschichtensatt und lebensprall. Hinzu kommt eine geradezu unbändige Streitlust.

    Schon der Titel "Zigeuner" ist eine Provokation. Soeben hat der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal den Leipziger Buchpreis für europäische Integration für seine überragende Studie "Europa erfindet die Zigeuner" bekommen. "Zigeuner" ist seit Hunderten von Jahren ein pejorativer Begriff, sagt der Hochschullehrer, angelegt auf Verachtung und Ausgrenzung, vermittelt durch falsche Zuschreibungen. Bauerdick findet Bogdals These falsch. Zigeuner sind ein Volk, gefangen in der eigenen Apathie, so der Autor:

    "Ich war von Anfang an von diesem Volk sehr angetan. Von der Humorigkeit, der Aufrichtigkeit, der Gastfreundschaft. Diese Herzlichkeit ist etwas, das wir vielleicht in unserem Kulturkreis vermissen. Auf der einen Seite ist eine große Zuneigung meinerseits. Auf der anderen Seite muss ich aber auch sagen, dass so eine gewisse Frustration in den letzten Jahren hinzugekommen ist. Wenn man sieht, dass Entwicklungen zum Besseren hin nur sehr sehr langsam voranschreiten oder sich teilweise sogar ins Gegenteil verkehren. Wenn man zum Beispiel sieht, dass in Rumänien die Roma in manchen Dörfern schlechter leben als noch vor zwanzig Jahren."

    In vierzehn Kapiteln zeigt der Autor weit mehr als nur die Lebensbedingungen seiner Protagonisten. Er ordnet ein, zeichnet nach – und legt den Finger in die Wunde. Bauerdick hat mit ihnen gelebt, Freundschaften geknüpft, sich mit allen Aspekten ihres Daseins auseinandergesetzt. Mit viel Herz erzählt er davon: vom Stamm der Kalderasch, die über Jahrhunderte als Kesselflicker Ansehen für ihre handwerklichen Fähigkeiten genossen und nun wegen billiger China-Importe ihr Auskommen verlieren. Von traditionellen Pilzsammlern, die wegen des Klimawandels keine Pilze mehr finden. Von den Ursari, die nicht begreifen, dass die Welt keine Tanzbären mehr sehen mag.

    Für die Roma in Osteuropa hatte das Ende des Kommunismus durchweg negative Folgen, berichtet er. Sie waren die Ersten, die ihre Jobs verloren. Die Armut, die Bauerdick beschreibt, ist vielfach grauenhaft: Leben im Müll. Babies, denen von Ratten die Zehen abgefressen wurden. Menschen, die sich um verwesende Tierkadaver streiten. Es sind Endzeitbilder, die im Gedächtnis haften bleiben. Parallel zur zunehmenden Verwahrlosung nehmen Diskriminierung und Hass in den osteuropäischen Ländern ständig zu. Dass die Roma nur Opfer sind, weist Bauerdick vehement zurück.

    "Es gibt auch eine andere Wahrheit. Ich erinnere kaum einen Rom, der für die Wurzel seiner Misere ein Stück Verantwortung bei sich selber gesucht, geschweige denn gefunden hätte."

    Die Ausbeutung durch die eigenen Leute hält der Autor für das größte Problem der Roma. Zinswucherer zwingen ihre Schuldner oder deren Angehörige unter massiven Drohungen zu Prostitution, Bettelei und Diebstahl. Schlepper bringen sie zu diesem Zweck nach Westeuropa. Die problematischen Auswirkungen, die deutsche Städte wie Duisburg, Dortmund oder auch Berlin durch den Zuzug osteuropäischer Roma erleben, haben unmittelbar mit diesen innerethnischen Strukturen zu tun.

    Gebildete Roma wie die ungarische Journalistin und ehemalige Parlamentsabgeordnete Victoria Mohácsi, mit der der Journalist immer wieder durch das Land reiste, bestätigen im Buch diese Sicht. Bauerdick hat mit vielen Roma-Intellektuellen gesprochen, die sich sehr kritisch über die eigene Ethnie äußern. Dies tun sie insbesondere auch vor dem Hintergrund des wachsenden Rassismus in Osteuropa. Attila Lakatos ist selbst Rom und Wojwode in einer der dicht besiedelsten Roma-Gegenden Ungarns. Bauerdick erlebte ihn als einsamen Kämpfer gegen andere Zigeunerführer.

    "Immer wieder hatte Attila Lakatos die Verelendung seines Volkes angeprangert, weil er einsah, dass die soziale Katastrophe allein durch die Eingliederung der Roma in die schulischen Bildungs- und ökonomischen Arbeitsprozesse zu beenden ist. Er wetterte gegen die ausufernde Straffälligkeit in den eigenen Reihen. Irgendwann würden es die Magyaren nicht mehr hinnehmen, ständig bestohlen zu werden."

    Bauerdick erkennt das explosive Potenzial solcher Selbstbezichtigungen durchaus. Seine Recherchen bestätigen nämlich auch, dass in Ungarn ethnische Konflikte staatlicherseits bewusst angefacht werden. Den ebenfalls dramatisch anwachsenden ungarischen Antisemitismus analysiert Bauerdick nicht. Ein Manko: Was fehlt, ist das klare Bekenntnis, dass Rassismus sich durch nichts rational rechtfertigen lässt. Dass es Gewaltexzesse auch von ungarischen Roma gibt, ändert daran nichts.

    Bauerdick dokumentiert schier unerträgliche Gewalt auf beiden Seiten: Menschenjagden, bei denen ein achtjähriger Rom durch eine Schrotladung ins Gesicht ermordet wird, ein beliebter ungarischer Handballspieler, der erstochen wird, als er eine Kellnerin vor pöbelnden Roma beschützen will, alte Menschen, die von ihnen zu Tode gefoltert werden.

    "Oft wurden die Opfer von Überfällen gequält und erniedrigt. Immer öfter wurden Menschen nach harmlosen Verkehrsunfällen angegriffen, schwer verletzt, totgeschlagen gar. Selbst Polizisten, Ärzte und Rettungssanitäter. Auch Kindergärtnerinnen und Lehrer wurden von wütenden Roma beschimpft und verprügelt."

    In Deutschland würden Berichte über Gewalt und Straftaten von Roma als Produkte antiziganistischer Vorurteile oder von Rassenwahn eingeordnet, beklagt Bauerdick. Wie ein roter Faden durchzieht Polemik gegen den in Deutschland geführten Diskurs das Buch. Der Autor prangert einen "inflationären Rekurs auf den Völkermord unter den Nationalsozialisten" als "Standardrepertoire grobschlächtiger Totschlagargumente an" und belegt das recht einleuchtend mit zahlreichen öffentlichen Debatten.
    Den gehemmten Umgang mit längst manifesten Problemen kreidet Bauerdick besonders dem deutschen Zentralrat der Sinti und Roma an. Der okkupiert den Alleinvertretungsanspruch und fokussiert die öffentliche Debatte auf Diskriminierung und Geschichtsaufarbeitung, findet Bauerdick. Viele andersdenkende deutsche Sinti kommen bei ihm zu Wort. Ganz schlecht kommen bei der Bestandsaufnahme die Antiziganismusforscher weg, die oft viel zu eng mit dem Zentralrat verbandelt seien. Vom Leben der Zigeuner hätten diese Wissenschaftler keine Ahnung, meint der Autor:

    "Der keimfreie Diskurs über die "Sinti und Roma" wird heute weitgehend von Antiziganismusforschern bestimmt, die Jahre in Bibliotheken und am Schreibtisch verbringen, aber keinen einzigen Tag ihres Lebens mit den Zigeunern auf osteuropäischen Müllkippen teilen; die von Kongress zu Kongress reisen, doch albanische, bulgarische oder ukrainische Elendsviertel nicht einmal vom Hörensagen kennen."

    Mehr noch: Ihre Diskurshoheit bringe jene zum Schweigen, die auf Missstände aufmerksam machen könnten. Praktiker, die reale Probleme mit zuziehenden Roma zu lösen hätten, würden meist nur noch offen sprechen, wenn er ihnen Anonymität zusichert, berichtet Bauerdick. Zu groß sei die Furcht vor den persönlichen Folgen einer reflexhaft anti-antiziganistischen öffentlichen Erregung.

    Bauerdick dokumentiert dazu etliche Fälle. Kommunalpolitiker, die Maßnahmen gegen Roma verantworteten, waren Shitstorms in einer sich schnell bildenden Öffentlichkeit ausgesetzt. Anlass für Bauerdicks Buch war besonders das: In manchen Kommunen sind die Probleme mit zuziehenden Roma inzwischen so groß, dass der Deutsche Städtetag einen Hilferuf aussandte. Etwas läuft gründlich schief. Die Einseitigkeit der Auseinandersetzung hat ganz konkrete Auswirkungen auf Problemlösungsansätze. Bauerdick:

    "Der Völkerkundler Rüdiger Benninghaus wie auch das bulgarische Forscherpaar Elena Maruschiakova und Vesselin Popov beargwöhnen eine europaweit aufgeblähte und ausufernde Gypsy-Industry, in der immer mehr Organisationen um Fördermittel und Projektbudgets buhlen. Auch der Kriminologe Szilveszter Póczik bemerkt, dass allein in Ungarn im Umfeld humanitärer Einrichtungen ungezählte, oft lukrative Stellen geschaffen wurden, um sich den Roma-Fragen "von der eher gedanklichen Seite zu nähern", statt reale Probleme zu lösen."

    Die Konsequenz ist dramatisch, weil vorwiegend diese Experten die politischen Entscheidungen über Förder- und Integrationsmaßnahmen beeinflussen. Die Folge: Alle staatlichen Versuche, die Roma zu integrieren, laufen falsch, so der Autor. Auch die "Europäische Dekade der Roma-Inklusion", die im Jahr 2005 von der EU ausgerufen wurde, hält er für kontraproduktiv.

    "Alle, die sich intensiv mit Roma beschäftigt haben, haben, als diese Dekade ausgerufen wurde, gleich gesagt, das geht völlig den Bach runter. Und genauso ist es gekommen. Es liegt daran, dass man die Roma gar nicht ernst nimmt. Man will sie unterstützen, ohne von ihnen selber etwas abzuverlangen. So verhält man sich gegenüber Menschen, denen man nichts zutraut. Das ist für mich die perfideste Form der Diskriminierung und Ausgrenzung überhaupt."

    Bauerdicks Philippika fehlt gelegentlich die Trennschärfe. Die ist - politisch korrekt hin oder her - zwingend, wo es etwa um die Einordnung der Kriminalität geht. Ja, es gibt unter Roma erhöhte Kriminalität. Doch der Nachweis, dass es sich etwa bei Taschendiebstahl oder Mundraub um ein ethnisches Phänomen handelt, lässt sich angesichts der Depravation der Täter gar nicht führen. Zunächst einmal sind Armutsfolgen zu verhandeln.

    Rolf Bauerdick: Zigeuner. Begegnungen mit einem ungeliebten Volk
    DVA 2013, 22,99 Euro

    Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner: Eine Geschichte von Faszination und Verachtung
    Suhrkamp 2011, 24,90 Euro