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Gefühlswelten von Gesellschaften im Umbruch

Im weißrussischen Minsk und in Budapest spielt Martin von Arndts Roman "Oktoberplatz oder Meine großen dunklen Pferde". Komisch und ernst zugleich erzählt er darin von der schwierigen Suche seiner Protagonisten nach einer neuen Sicht vom Leben in Osteuropa nach 1989.

Von Lerke von Saalfeld | 29.05.2012
    "Ich war als Kind mit meinen Eltern, wenn andere auf Mallorca oder in Rimini waren, dann musste ich mit meinen Eltern nach Ungarn oder nach Rumänien. Ich fand das als Kind ganz fürchterlich, ich fand das ganz schlimm, weil alle anderen haben von traumhaften Stränden erzählt und ich war am Plattensee. Es war langweilig und es hat geregnet und es war blöd. Dann habe ich gemerkt, so mit fünfzehn / sechzehn, dass mich das Ungarische nicht nur negativ heimholt, sondern auch sehr positiv. Ich habe daraus auch eine gewisse Kraft bezogen aus dieser Sozialisation und seitdem verfolgen mich die Themen, deswegen wahrscheinlich auch die grundsätzliche Affinität zu Belarus, deswegen meine Einwilligung mir das vor Ort anzuschauen, was unter Lukaschenko passiert ist, wie sich das Leben vor Ort anfühlt…. Ich glaube, es liegt tatsächlich an meinen Eltern, dass meine Augen so ein bisschen geöffnet wurden für diese Themen, obwohl ich im Westen sozialisiert worden bin."

    Martin von Arndt wurde 1968 als Sohn ungarischer Eltern in Ludwigsburg geboren und lebt heute unweit davon in Markgröningen. Er hat in Religionswissenschaften promoviert, hat sich in tiefenpsychologische Bibelexegese und Fußballmarketing vertieft, hat einen Mysterienkrimi verfasst, ist Saxofonist in einer Band und hat nun seinen dritten Roman vorgelegt mit dem Titel "Oktoberplatz". Anfang der neunziger Jahre war Martin von Arndt zum ersten Mal in Weißrussland, weil seine Freundin dort in der Hauptstadt Minsk studierte, 2008 kehrte er zurück, neugierig darauf, was sich unter dem neuen Diktator Lukaschenko im Land verändert hatte. Nicht nur eine familiär-emotionale Bindung an den Osten leitete ihn, es kam noch ein anderes Grundgefühl dazu:

    "Ich suche Menschen, die verloren sind, Figuren, die ähnlich verloren sind wie ich mich selber bisweilen fühle. Ich gehöre, so wie Kleist es einmal gesagt hat, er hat 'Fluchtreisen von Furien gehetzt' – ich würde jetzt nicht ganz so große Worte bemühen, aber ich fühle mich sehr ähnlich. Ich habe so eine Grund-Unbehaustheit in meinem Leben. Suche deswegen auch so ähnliche Figuren, denen es auch so geht, in die ich dann etwas projizieren kann, und bin ja trotzdem auch aus dem Westen, das heißt, es gibt auch im Westen sehr viele, die sich nicht so richtig beheimatet fühlen in dem Hier und Jetzt."

    Der Roman spielt hauptsächlich in Minsk, mit einem Abstecher nach Budapest - hier wollte Martin von Arndt einfangen, was die Wende von 1989 bewirkt hat, welche Hoffnungen eingelöst oder enttäuscht wurden. Gewählt hat er dafür einen programmatischen Titel: "Oktoberplatz".

    "Weil der Oktoberplatz für mich ein ganz wichtiger symbolischer Ort ist. Zum einen natürlich, weil er den Oktober im Titel trägt und damit verweist auf das heute noch in Weißrussland allgegenwärtige sowjetische Erbe, das ist ganz wichtig. Zum Zweiten, weil es das Stadtzentrum von Minsk ist, unter dem Oktoberplatz kreuzen sich die beiden Stadtbahnen, U-Bahnen, deswegen war da letztes Jahr auch dieser verheerende Bombenanschlag mit 17 Toten. Und zum Dritten, weil das der Platz ist, wo seit einiger Zeit die Oppositionellen immer nach den gefälschten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ihre Zeltstädte aufschlagen. Der Platz ist heimgeholt worden von den Paraden früher, die man auf dem Oktoberplatz abgehalten hat, von den sowjetischen Paraden, ist es jetzt zu einem Zentrum auch der Oppositionellen in Weißrussland geworden durch diese Zeltstädte, durch diese Proteststätten, die dort entstehen gegen Lukaschenko. Deswegen war es für mich auch ein ganz wichtiger symbolischer Titel. Im Oktoberplatz steckt für mich schon die Opposition gegen Lukaschenko drin, in diesem Titel."

    Zunächst geht es in diesem Roman jedoch gar nicht um Politik. Der Hauptheld, Wasil, 30 Jahre alt, bastelt an einem Pürierstab:

    "Ich habe Draht gekauft. Draht zum Überbrücken der Sicherung. Und einen Pürierstab, dieselbe Marke, dasselbe Modell, das mein Tantchen dazu benutzt, um ihren Tag mit einem Bananen-Shake zu beginnen."

    Ein kecker und etwas verwirrender Anfang, denn erst langsam schält sich heraus, dass das Tantchen sogar zwei Jahre jünger ist als Wasil, diesen wegen seiner Liebesaffäre mit ihrer Schwester, auch eine der Tanten von Wasil, unter Druck setzen will und seine Liebesdienste erpresst, und die will er nun mit dem manipulierten Pürierstab ins Jenseits befördern. 'Elektrokution' heißt das Stichwort. Das eifersüchtige Tantchen Alezja ist lästig geworden und soll das Zeitliche segnen. Freilich ein kaltblütiger Mörder ist Wasil nicht; eher komisch und ein wenig täppisch wirkt sein geplanter Mordversuch, der ihn aus einer prekären familiären Situation befreien soll, denn Wasil treibt es nicht nur mit Tantchen Tatsiana, die gleich alt wie er ist, dann gezwungenermaßen parallel mit Alezja, und schließlich auch mit dem jüngsten Tantchen Marya. Da fällt es Wasil schwer, den Überblick zu behalten und die Koordination hinzubekommen. Man könnte also vermuten, der Autor will den Leser in eine kuriose, mit viel Witz erzählte Inzestgeschichte führen. Weit gefehlt:

    "Es ist kein Inzestroman, darum ging es mir überhaupt nicht, sonst wäre die Inzestproblematik auf eine sehr ungute Weise abgehandelt. Der Inzest ist für mich in erster Linie ein übertragener, symbolhafter Moment in diesem Buch. Es ist für mich Symbol für den homo sovieticus, für den sowjetischen Menschen, der gerade nach dem Fall der Sowjetunion, dem Fall des Eisernen Vorhangs, sich immer wieder auf die eigene Familie zurückzieht im Sinne von er zieht sich immer wieder auf die alten Positionen zurück, wenn es eigentlich darum geht, den neuen Fragestellungen mit neuen Antworten zu begegnen. Man zieht sich immer wieder auf die alten Positionen zurück, und das hat etwas Inzestuöses. Das ist auch als Bild häufig in den weißrussischen Medien vorhanden, dieses Inzestbild, speziell natürlich die oppositionellen Medien, die immer wieder vorwerfen, dass der in Weißrussland sehr ausgeprägte homo sovieticus inzestuös mit dem alten System verkehrt und deswegen war für mich klar, ich würde das als Symbol einsetzen."

    Wasil kämpft um eine neue Sicht vom Leben jenseits der osteuropäischen Diktatur, aber er ist schwach und voller Skepsis, denn er beobachtet, die neue Politik ist nicht überzeugend. In Budapest, wohin er sich zeitweise flüchtet, herrscht ein gnadenloser Kapitalismus, der nichts von den versprochenen Freiheiten einlöst, im Gegenteil, die Armut wächst und wird immer sichtbarer. Zurück als Student in Minsk erlebt er die Diktatur Lukaschenkos und stellt fest, jeder will nur seine Schäfchen ins Trockene bringen und das Beste für sich herausholen. Wasil ist eine typische Figur seiner Generation, die verloren und sich einsam fühlend in Ost-Mitteleuropa vor den Scherben des Alten steht und für die Zukunft keine Perspektive sieht. Misstrauen und Zynismus sind seine hilflose Antwort, er zögert, sich zu engagieren, denn er fürchtet, wieder betrogen zu werden. Als Gegenfigur hat Martin von Arndt seinen Freund Stanislau eingeführt. Der schließt sich der Opposition an, demonstriert auf dem Oktoberplatz, wird verhaftet, und will seinen alten Kumpel überzeugen, sich aus der Lethargie, dem Rückzug ins Private zu befreien.

    Und dann gibt es noch eine Person, die sich wie eine Leitfigur durch den Roman zieht, Wasils ungarischer Großvater István. Der verkörpert im Positiven wie im Negativen das alte Bild des Bolschewiken:

    "Für mich ist er eine gebrochene Figur natürlich. In ihm ist eine ganz starke Hoffnung aus seiner Kindheit und Jugend. Er ist selbst in die Schule gegangen bei einem Kommunisten, es ist diese ganz starke Hoffnung bei ihm verknüpft, dass man mit dem Kommunismus in den zwanziger Jahren eine neue, friedliche Weltordnung errichten kann, Als Teenager geht er mit auf die Barrikaden in Budapest, dann wird das Ganze zerschossen damals von Miklós Horthy, dem ungarischen Reichsverweser, die Revolution scheitert in Ungarn. Er schafft es dann wieder sich zu seiner Familie nach Hause zu schlagen und lebt mehr oder weniger vor sich hin. Im Zweiten Weltkrieg entkommt er knapp den Nazis, geht dann in die Sowjetunion, weil er sich sagt, ‚na ja wenn irgendwo der Kommunismus aufgebaut wird, dann hier', um dann festzustellen, dass eben diese Kommunisten seine geliebten Ungarn 1956 genau so beschießen, wie es vorher die Nazis gemacht haben, von genau denselben Stellen ihre Panzer schießen lassen, und damit ist für ihn die Welt zerbrochen, und er flüchtet sich in den Alkoholismus und in die Sexualität. Ich glaube, er geht zum ersten Mal wieder aus sich heraus, als er seinen Enkel Wasil erlebt und zum ersten Mal denkt, das könnte jetzt der Sohn sein, den ich mir immer gewünscht habe, weil mit seinem eigenen Sohn war er sehr unzufrieden. Und er versucht, den Wasil zu beeinflussen in diesem Sinne seines kommunistischen Traums und gibt sehr viel an den Wasil weiter. Und ich hab so ein bisschen das Gefühl, wenn es den nicht gäbe, dann wäre mein Wasil in der Kindheit schon mehr oder weniger emotional verhungert. Er bekommt ganz viel Anerkennung und Liebe von ihm und begleitet ihn sogar über seinen Tod hinaus."

    Der Großvater stirbt als Wasil 14 Jahre alt ist, aber er bleibt als Schemen immer präsent, begleitet Wasil nach Budapest und ist als Geist auch an seiner Seite, als Wasil über die Grenze fliehen muss, weil sein Mordanschlag am Tantchen, womit der Roman beginnt, doch fast gelingt - allerdings aus Missgeschick bei der falschen Tante, der jüngsten der drei Tanten-Schwestern, die Wasil aufrichtig liebt.

    Mit "Oktoberplatz" ist Martin von Arndt ein rasanter, vielschichtiger, ein komischer und zugleich ernster Roman gelungen, der auf faszinierende Weise die Atmosphäre und die Gefühlswelten von Gesellschaften und privaten Verhältnisse im Umbruch einfängt und brillant in Worte fasst.

    Martin von Arndt: "Oktoberplatz oder Meine großen dunklen Pferde"
    Verlag Klöpfer & Meyer, 275 Seiten, 19,90 Euro