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Gefühlt ein Teil Europas

In drei Monaten wird Kroatien der Europäischen Union beitreten. Die Kulturlandschaft, die Beziehungen zu den Nachbarn und das Verhältnis zu der eigenen Vergangenheit sind ein Thema mit vielen Facetten - eine Bestandsaufnahme.

Von Martin Sander | 07.04.2013
    Utrine ist ein Wohnschlafviertel aus Titos Zeiten, unweit der Autobahnabfahrt Zagreb Süd. "Ausfahrt Zagreb Süd", so heißt der erste, auch ins Deutsche übersetzte Roman des 1957 in Bosnien geborenen Kroaten Edo Popovic. In seinen Büchern erzählt Popovic von Gabelstaplerfahrern, die im Jugoslawienkrieg über Nacht zum General aufsteigen und später unter dem ersten Präsidenten des unabhängigen Kroatien Franjo Tudjman ihren Platz in der Wirtschaftsmafia finden – oder Popovic beschreibt den kroatischen Staat der Zukunft als Holding, deren Boss sich das Staatsparlament zur Privatvilla umbaut. Der Schriftsteller Edo Popovic, der in Utrine wohnt, hat beim Referendum 2012 für den Beitritt Kroatiens zur EU gestimmt. Doch seine Begeisterung hält sich in Grenzen.

    "Die Europäische Union ist kein Raum, der für irgendwen auf der Welt Vorbild sein könnte, auch nicht für unser kleines Kroatien. Wenn diese Union Kroatien mit allen seinen Missständen aufnimmt, mit all unserer korrupten Politik, mit unserer korrupten Justiz, dann frage ich mich: Was ist das für eine Gemeinschaft, die Kroatien da aufnimmt? Ich denke, sie unterscheidet sich nicht von uns, wobei in der EU, in Deutschland und den anderen Ländern, Korruption und Kriminalität in einem schöneren Gewand auftreten. Hier ist das alles viel sichtbarer."

    Viele Künstler und Intellektuelle Kroatiens betrachten die Zukunft ihres Landes in der EU ohne Enthusiasmus, sehen aber keine Alternative zum Beitritt. Die geistige Elite Kroatiens, das einst zu Venedig und zur Habsburger Monarchie gehörte hatte, fühlt sich als Teil Europas – ohne Einschränkungen. Auf die Zugehörigkeit zu Europa pochte indes auch der Gründer des unabhängigen kroatischen Staates Franjo Tudjman. In der Kriegs- und Nachkriegszeit der 90er-Jahre herrschte Tudjman als autoritär-nationaler Populist. Die engen kulturellen Verflechtungen der Kroaten mit ihren Nachbarn, insbesondere mit den Serben, wurden damals tabuisiert. Titos Vielvölkerstaat Jugoslawien galt als Völkergefängnis.

    Inzwischen, dreizehn Jahre nach Tudjmans Tod und unter einer sozialliberalen Regierung, ist die großkroatische, antijugoslawische Ideologie des Staatsgründers in den Hintergrund getreten. Verschwunden ist es aber nicht. Das Verhältnis der kroatischen Gesellschaft zum Tudjmanerbe sei zwiespältig, sagt Jurica Pavicic. Der Schriftsteller und Kolumnist der führenden Tageszeitung "Jutarnji list" lebt in Split, der Metropole Dalmatiens:

    "Es gibt zwei Ebenen. In der Praxis sind die Werte, für die sich der Tudjmanismus einsetzte, besiegt. Die Gesellschaft ist demokratisch geworden, offener zu Minderheiten, liberaler. Auf der anderen Seite hat die Diskussion über viele Mythen noch gar nicht begonnen. Immer noch werden Denkmäler für Franjo Tudjman errichtet. Gerade haben wir hier in Split eine Debatte über den Bau so eines Denkmals. Und konservative Parteien berufen sich immer noch auf Tudjman als nationale Autorität."

    In der Tudjman-Ära wurde der sogenannte Unabhängige Staat Kroatien, in Wirklichkeit ein Vasall Hitlerdeutschlands, zum Teil rehabilitiert. Das Leben im jugoslawischen Vielvölkerstaat Titos verteufelte man hingegen. Seid Serdarevic leitet den angesehenen Literaturverlag "Fraktura" in der Nähe von Zagreb.

    "Heute besteht immer noch kein fester politischer Wille, das zu sagen, was zum Beispiel Angela Merkel gesagt hat. Es geht um die Schuldfrage von 1941 bis 1945. Man spricht darüber, aber nicht klar genug, wer die Verantwortung trug. Vor allem geschieht das nicht an den Schulen."

    Seid Serdarevic verlegt mit Vorliebe Autoren aus Mittel- und Osteuropa: Thomas Mann, Sven Regner, Andrzej Stasiuk oder Juri Andruchowytsch. Das Interesse am Kulturerbe des sozialistischen Jugoslawien sei nach Tudjmans Tod wieder allmählich gewachsen, sagt Serdareviæ.

    "In den 1990er-Jahren war das vollkommen stigmatisiert, man konnte fast nicht darüber sprechen. In den letzten Jahren hatten wir dagegen einige große Ausstellungen über das Erbe des sozialistischen Jugoslawien. Es sind Bücher erschienen, zum Teil mit einem nostalgischen Einschlag, aber auch seriöse Studien. Wenn man über Jugoslawien spricht, erinnert man sich heute wie an bessere Zeiten. Warum? Der Markt war einfach viel größer, die Kultur spielte eine viel größere Rolle - die seriöse Kultur."

    Der Schriftsteller und Kolumnist Jurica Pavicic, der auch ein ausgewiesener Filmhistoriker ist, sieht den derzeitigen Stand der Kulturbeziehungen in Ex-Jugoslawien differenziert. Es hänge vom Genre ab.

    "Die Filmindustrien Ex-Jugoslawiens sind ziemlich eng miteinander verbunden. Das hängt mit Koproduktionen, die durch europäische Filmfonds gefördert werden, zusammen – aber auch damit, dass sich die Filmleute aus den verschiedenen ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken persönlich gut kennen. So verhält es sich auch mit dem Fernsehen, der Popmusik und der Volksmusik. Da kann man von einem gemeinsamen postjugoslawischen Markt sprechen. Indes gibt es kaum Kommunikation zwischen den Buchmärkten. Die Literaturen sind mit den jeweiligen nationalen und gesellschaftlichen Eliten verwoben. Hervorragende Regisseure oder Sänger aus Serbien sind in Kroatien ziemlich bekannt. Bekannte Schriftsteller aus Kroatien haben aber kaum ein Publikum in Serbien und umgekehrt. Das ist ziemlich ungewöhnlich."