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Gegen das Schwarz-Weiß-Denken

Während Satire-Zeitschriften provozierende Mohammed-Karikaturen veröffentlichen und dies mit dem Kampf für die Meinungsfreiheit begründen, verbitten sich auf der anderen Seite religiöse Eiferer jegliche Kritik an ihrer Religion. Auf der Strecke bleibt die abwägende Diskussion über die überlebenswichtigen Werte einer Gesellschaft.

Ein Standpunkt von Christoph Böhr | 27.09.2012
    Kürzlich hat ein Blogger gefordert, eine Staatssekretärin der Bundesregierung als Hexe zu verbrennen. Er hat hinzugefügt, er wisse, dass diese Forderung nicht zeitgemäß sei. Was heute der Shitstorm - eine Flut unflätiger Äußerungen gegen eine Meinung und gegen den, der sie vertritt - bewerkstelligen soll, kostete früher schon mal das Leben. Damals wie heute sollen Gegner mundtot gemacht werden.

    Als Andersdenkende sich noch die Köpfe einschlugen, war ihr Beweggrund oft der falsch verstandene Einsatz für eine Wahrheit, die es, wie man glaubte, um jeden Preis durchzusetzen galt. Kriege wurden um der Religion willen geführt, Menschen wegen angeblich irriger Meinungen verbrannt.

    Unsere Gesellschaft heute kennt Wahrheit bestenfalls noch in der Mehrzahl: als Fülle von Meinungen, denen samt und sonders ihr Recht zusteht.

    Warum aber sollen dann Menschen mundtot gemacht werden? Und zwar nach Meinung von Zeitgenossen, die über den Anspruch einer unbedingten Wahrheit ansonsten nur herzhaft lachen können.

    Es fällt auf, dass sich solche Versuche fast immer einer quasireligiösen Sprache bedienen - jener Sprache, die sich auf Letztbegründungen bezieht. Eine wichtige Rolle spielt der Begriff der Diskriminierung. Ihn im Mund zu führen, entbindet von allen Begründungszwängen. Wer der Diskriminierung bezichtigt wird, ist ein verabscheuungswürdiger Zeitgenosse.

    Dabei bedeutet zu diskriminieren im ursprünglichen Wortsinn nur: zu unterscheiden - die Sachverhalte zu ordnen, bevor man sie beurteilt. Wird auf diese Unterscheidung verzichtet, sagt ein Urteil nichts mehr über die Sache, sondern nur noch etwas über den Sprecher aus.

    Meinungsstärke ist heute gefragt, heiliger Zorn, nicht Abwägung. Wer "Diskriminierung" ankreidet, zielt auf moralische Diskreditierung und bedient sich des religiösen Pathos. Dabei geht der Sinn des Begriffes verloren: Einer jeden Bewertung muss die nüchterne Anstrengung vorangehen, Gleiches als gleich und Ungleiches als ungleich zu benennen, bevor man sein Urteil fällt. Auf die Anstrengung dieser Unterscheidung verzichtet, wer das Wort als Sprachkeule nutzt.

    Der Verzicht auf Glaubensüberzeugungen hat keineswegs das Bedürfnis aus der Welt geschaffen, andere Menschen mundtot zu machen. Im Gegenteil: Wenn es eine Wahrheit nicht mehr gibt, ist Sprache nicht weniger anfällig für Kampfbegriffe: Denn wo einem Wort seine Notation - der Verweis auf ein benanntes Sein - verloren geht, verschwimmt es bald in seiner Konnotation - seiner Nebenbedeutung, die nur noch ein bewertendes Urteil zum Ausdruck bringt. Genau das nennt man Nominalismus.

    Die Tatsache, dass das Denken leer ist, weil es ein Sein nicht mehr kennt, verführt umso mehr zu einer Sprache, die sich in moralisch-emotionalen Konnotationen aufbauscht. Wer heute Diskriminierung beklagt, bezieht sich in der Regel nicht mehr auf Gründe, sondern drückt Empörung aus. Dann schlägt die Geburtsstunde des Moralismus: ein Blick auf die Welt, der nur noch gut und böse, nur noch schwarz und weiß kennt.