Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Gegen das Vergessen

Nachdem Steven Spielberg Anfang der 90er-Jahre seinen Oscar-gekrönten Film "Schindlers Liste" abgedreht hatte, waren unzählige Geschichten von Holocaust-Überlebenden noch nicht erzählt. So gründete er eine Stiftung, um die Erinnerungen festzuhalten. Das einzigartige Material ist in Deutschland nur an der Freien und der Technischen Universität Berlin für Studierende und Forscher zugänglich.

Von Dieter Wulf | 27.01.2009
    "Und von dieser Anregung der Bevölkerung hat er mit Mitteln aus den Einnahmen dieses Films hat er die Shoa Foundation gegründet. ... . Und mit den Mitteln, plus Mitteln die er einwerben konnte, etwa ein Umfang von 150 Millionen Dollar damals ... Anfang der 90er-Jahre wurde die Shoa Foundation gegründet mit dem Ziel möglichst viele Überlebende zu Wort kommen zu lassen und dadurch ein Archiv von Erinnerungen und von Geschichten zusammen zu stellen, dass die Zeit vor während und nach der nationalsozialistischen Zeit von Überlebenden hauptsächlich jüdischen Gefangenen in den Konzentrationslagern beschrieben hat."

    So Professor Nicolas Apostolopoulos, der Direktor des Zentrums für Digitale Systeme an der Freien Universität Berlin. Fünf Jahre lang, von 1995 bis 2000 entstanden insgesamt über 52.000 auf Video aufgezeichnete Interviews. Damit ist das so genannte "Visual History Archive" das bei weitem umfangreichste Zeitzeugenarchiv der Welt, betont Professor Apostolopoulos.

    "Diese 52.000 Interviews sind im Umfang etwa mehr als 113.000 Stunden Interviewzeit. Und zwischen 2000 und 2005 wurde dieses Material überarbeitet. Nicht inhaltlich sondern technisch überarbeitet. Digitalisiert, erschlossen, mit Stichworten versehen und in ein digitales Archiv umgesetzt, dass Spielberg und die Shoa Foundation dann einer Universität in den Vereinigten Staaten in diesem Fall der University of Southern California ... zur Verfügung gestellt hat."

    In Europa sind bislang die Freie Universität und in kleinerem Umfang die technische Universität in Berlin die einzigen akademischen Einrichtungen, die durch eine Kooperation mit der amerikanischen Uni ihren Wissenschaftlern und Studierenden einen direkten Zugriff auf dieses einzigartige Zeitzeugenarchiv ermöglichen.

    Verena Nägel vom FU-eigenen Center für Digitale Systeme, stellt das das Archiv und seine Möglichkeiten regelmäßig in verschiedensten Fachbereichen vor, wie zum Beispiel in einem Seminar der Geschichtswissenschaften.

    "Als erstes müssen sie sich einmal einloggen unter diesem Klick to Register da gibt's dann so ein Registrierungsformular das ist wie ein Webmailformular. Wenn sie das ausgefüllt haben können sie direkt anfangen zu recherchieren."

    Sich zehntausende Interviews anzusehen, wäre natürlich völlig unmöglich. Durch die digitale Verschlagwortung aber kann man das riesige Videoarchiv innerhalb von Sekunden auf die eigenen Fragestellungen durchsuchen, erklärt Verena Nägel.

    "Das heißt, man kann jetzt nach bestimmten Themen suchen, zum Beispiel Zwangsarbeit in Fabriken, und kriegt dann alle Ergebnisse. Nicht alle Interviews, sondern alle Stellen in den Interviews, in denen die Überlebenden über Zwangsarbeit in Fabriken sprechen, oder über Antisemitismus in Schulen.

    Das ist natürlich für Forscher oder Leute die ihre Master-Arbeit über das Archiv schreiben ne große Hilfe, weil man dadurch punktgenau zu den Themen kommt."

    Für die allgemeine Nutzung sei das Zeitzeugenarchiv jedoch nur begrenzt verwendbar, betont Prof. Wolfgang Benz vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität, wo das Archiv jetzt auch verfügbar ist.

    "Es erfordert ziemlich viel methodisches Geschick und sehr viel Vorkenntnis damit man damit etwas machen kann. In dem Maßstab eins zu eins jetzt auch nur 20 Interviews zu konsumieren bedeutet so ungefähr 14 Tage reine Betrachtungszeit, reine Betrachtungszeit. Das ist genau so als würde man sagen, Leute geht alle ins Archiv und studiert alle die Korrespondenz von Heinrich Himmler, dann wisst Ihr alles über den Holocaust."

    Für Studierende und Doktoranden mit ganz speziellen Fragestellungen ist das Visual History Archive dagegen eine Fundgrube, so Professor Benz.

    "Eine Doktorandin die über das Lager Mali Drostinetz in Weißrussland und über das Ghetto in Minsk arbeitet, die natürlich die Fakten weitestgehend kennt, der aber die Perspektive der Opfer fehlt für ihre Darstellung, die ist glücklich, dass sie sieben oder acht Zeugen im Visual Archives gefunden hat und jetzt ihre Kenntnis durch die menschliche, die emotionale Dimension erweitern und damit ihre Arbeit vertiefen kann."

    Allgemein und öffentlich zugänglich über das Internet ist das Material allerdings nicht. Nur wer sich als Wissenschaftler oder Student der beiden Berliner Universitäten ausweisen kann, hat momentan Zugang zu dem riesigen Digitalarchiv. Gerade überlege man aber zusammen mit der University of Southern California das Visual History Archiv auch für Forscher und Studierende an einschlägigen Forschungsstellen anderer deutschen Universitäten nutzbar zu machen, betont Professor Apostololpoulos.