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Gegen die Kultur des Wegschauens

Kirsten Heisig war Jugendrichterin in Berlin. Als Politiker noch vor der Entstehung von Parallelgesellschaften warnten, da sagte sie, es gebe sie längst. Sie schrieb ein Buch über den Umgang mit jugendlichen Straftätern - und beging noch vor der Veröffentlichung Selbstmord. Nun hat der Herder Verlag das Erscheinen des Buches vorgezogen.

Von Dorothea Jung | 26.07.2010
    Niemand weiß, welche Gedanken die Privatperson Kirsten Heisig letztlich in ihren einsamen Tod geführt haben - aber was die Jugendrichterin in ihrem Arbeitsleben angespornt und getrieben hat, ist vollkommen unzweifelhaft.

    "Früher habe ich meine Fälle eigentlich viel besser bearbeitet, als ich das heute kann. Es müsste eigentlich so sein, dass ich das alles mit Routine behandle und das nicht an mich herankommen lasse. Aber die Delikte haben sich in ihren Strukturen so verändert, dass es mir teilweise nahegeht, und deswegen bin ich ja auch unter anderem öffentlich unterwegs."
    Sagte Kirsten Heise 2009 in einem Gespräch im Deutschlandradio. Die zunehmende Brutalität jugendlicher Gewalttäter zeigte ihrer Ansicht nach, dass in der deutschen Gesellschaft etwas schief läuft.

    "Ich bin zunehmend schockierbar. Weil ich eben das Gefühl habe, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet. Das ist nicht nur eine Frage meines Gerichtes und meiner Zuständigkeit. Wir können mit unseren justiziellen Möglichkeiten dieses gesellschaftliche Problem nicht lösen. Wir reparieren. Vor zehn oder 20 Jahren war das anders. Da hatte man noch den Eindruck, dass man eine kleine lenkende Maßnahme vielleicht ergreift, um normverdeutlichend auf den Jugendlichen einzuwirken; und heute habe ich teilweise den Eindruck, das ist sinnfrei, was ich da tue. Und das finde ich unbefriedigend."
    Von den Verhältnissen, mit denen Kirsten Heisig glaubte, sich nicht abfinden zu können, legt ihr Buch ein beklemmendes Zeugnis ab. Sie bezweifelt Statistiken, die von rückläufiger Jugendkriminalität in Berlin sprechen, und setzt dagegen ihre Erfahrungen. Die Autorin beginnt mit Fallschilderungen aus ihrer Praxis als Jugendrichterin. Man liest hier über Familien von jugendlichen Straftätern, über ihre oft alkoholabhängigen Eltern, über verwahrloste Wohnungen, über Vernachlässigung, Prügel und schwere Misshandlung. Ein Beispiel aus der Kindheit eines jugendlichen Straftäters:

    Die Eltern banden ihn im Badezimmer an ein Heizungsrohr, verbrannten seine Haut mit glühenden Häkelnadeln und schlugen ihn mit dem Kopf auf einen scharfkantigen Gegenstand, als er einen Gegenstand verschluckt hatte. Seine Verletzungen waren für alle anderen sichtbar. Nur ein einziges Mal wurde hierauf reagiert. Eine Sportlehrerin sah die großen Hämatome und schaltete sofort das Jugendamt ein. Der Junge kam für einen Monat in ein Heim. Er verbrachte dort die einzige Zeit seiner Kindheit, in der er nicht verprügelt wurde. Dann gelobten die Eltern Besserung, bekamen das Kind zurück, und alles ging von vorn los.
    Als Juristin wollte Kirsten Heisig mit ihren Urteilen den Jugendlichen auch den Weg in ein Leben ohne Straftaten weisen. Die Richterin musste jedoch feststellen: Wenn die Kindheit eines Jungen derart von Gewalt geprägt war, wie hier skizziert, hat die Justiz es schwer, Werte zu vermitteln. Sanktionen und Hilfen kamen fast immer zu spät. Jugendhilfe und Polizei Vermieter, Erzieher, Lehrer und auch Nachbarn hätten zuvor überhaupt erst einmal hinschauen müssen. Kirsten Heisigs Erfahrung: Vor allem bei Kindern und Jugendlichen aus Einwandererfamilien passiert das viel zu selten. Sie schreibt:

    Wir leben in einer Gesellschaft, in der an den Problemen bewusst vorbeigeschaut wird: aus Tradition seitens der Zuwanderer, aus Bequemlichkeit und Angst seitens der Deutschen.
    In der Intensivtäterstatistik der Berliner Staatsanwaltschaften, die alle Jugendlichen erfasst, die mehr als zehn Straftaten im Jahr begehen, stehen nach Angaben von Kirsten Heisig besonders viele türkische und arabische Namen. In der Regel Jungen, die bereits in der Schule aufgefallen sind. Zitat:

    Mitschüler werden aus nichtigem Anlass mit den Worten "Du bist tot" bedroht, begleitet von Handbewegungen, die das Durchschneiden der Kehle andeuten. Beleidigungen wie "Hurensohn", "Du Opfer" und "Du bist eine Nutte, du trägst kein Kopftuch" sind an der Tagesordnung. Ohne Vorwarnung wird anderen Kindern mit der Faust ins Gesicht geschlagen.
    Der Jugendrichterin sind vor allem Kinder aus sogenannten libanesisch-kurdischen Clans aufgefallen. Deren Familien seien oftmals ohne Papiere als Asylsuchende nach Deutschland gekommen, und würden größtenteils als staatenlose Palästinenser geführt. Kirsten Heisig zufolge bereiten diese Clans Polizei, Justiz und ganzen Stadtvierteln in Berlin massive Schwierigkeiten. Im vergangenen Jahr sagte sie über Kinder aus diesen Familien:

    "Die sind alle Schulverweigerer, die sind alle inzwischen weit aus der Gesellschaft ausgeschlossen, wenn sie denn überhaupt jemals drin waren. Und die sind hier geboren, das sind unsere Kinder; wir müssen um die kämpfen, auf allen Ebenen; Angebote machen, aber auch mit Sanktionen arbeiten, wenn die Eltern nicht mitziehen. Also, wenn wir die Eltern nicht dazu bringen, und notfalls auch dazu zwingen, die Kinder in die Schulen zu schicken und möglichst auch schon ab dem dritten Lebensjahr in die Kitas, damit die gar nicht erst mit einem Defizit starten, dann hat man eben ein Riesenproblem."
    Nachdrücklich plädiert Kirsten Heise dafür, Kinder aus derartigen Familien herauszunehmen. Als Jugendrichterin habe sie allerdings erfahren müssen, dass Berliner Familiengerichte nur selten aufgefordert werden, Zuwandererfamilien das Sorgerecht zu entziehen. Zitat:

    Es liegt auch auf der Hand, weshalb: sozialromantische Verblendung gepaart mit blanker Angst. Ich bin inzwischen zu der Auffassung gelangt, dass die Furcht vor den kriminellen Großfamilien alle anderen Aspekte bei Weitem überwiegt, denn hinter vorgehaltener Hand heißt es: "Man kann kein Kind zwangsweise aus einem arabischen Clan nehmen. Die Familien erschießen jeden, der das versuchen sollte."
    In Passagen wie diesen wird der Affekt deutlich, der Kirsten Heisigs Ausführungen begleitet. Denn neben eher analytischen Textstellen, in denen die Richterin zum Beispiel beschreibt, was ein Amtsgericht, beziehungsweise ein Schöffengericht leistet, oder in denen sie die Arbeit des Jugendamtes in Berlin Neukölln erklärt, liest man auch viele emotionale Ausführungen. Das ist immer dann berührend, wenn sich darin ihr Engagement für das Kindeswohl zeigt. Ihr unbedingter Wille, den Jugendlichen ein Leben ohne Straftaten zu ermöglichen. Wenn sie die Emotionalität allerdings einsetzt, um politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen, bekommt ihr Text etwas Agitatorisches. Das irritiert. Zum Beispiel bei ihrer Forderung nach der Lockerung des Datenschutzes in der behördlichen Kommunikation.

    Dem halte ich entgegen, dass Datenschutz nicht dem Täterschutz dienen darf. Wenn der deutsche Staat diese Familien weiterhin im Land belässt und sie jahrzehntelang ohne jede Gegenleistung unterstützt, obwohl sie die Gesellschaft hemmungslos schädigen, blamiert er sich aufs Äußerste und lädt zur Nachahmung ein.
    In einigen Passagen ihres Buches scheint Kirsten Heisig das Gefühl dafür zu verlieren, dass sie als Richterin nur einem Ausschnitt der gesellschaftlichen Wirklichkeit begegnet ist. Eine Gruppe Jugendlicher, die einen Straßenzug in Berlin Neukölln verunsichert, gefährdet noch nicht den Zusammenhalt unseres Gemeinwesens. Durch ihre Zuspitzung skandalisiert die Autorin ihre Erfahrungen mit Einzelfällen - was sie eigentlich nicht nötig gehabt hätte: Bevor sie beschloss, aus dem Leben zu scheiden, hatte Kirsten Heisig in ihrem Arbeitsfeld bereits viel erreicht. Sie hatte beschleunigte Verfahren für jugendliche Straftäter durchgesetzt, hatte bei Polizei, Jugendhilfe, Schulbehörde und Stadtteil-Initiativen ein Problembewusstsein erzeugt und erfolgreich gegen die Kultur des Wegschauens argumentiert. Kirsten Heisig war eine streitbare Frau. Mit ihrem Buch hat sie ein streitbares Vermächtnis hinterlassen.

    Kirsten Heisig: "Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter". Das Buch ist bei Herder erschienen, 208 Seiten kosten 14 Euro 95, ISBN: 978-3-45130-204-6.