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Gegen die "Zivilisationsliteraten"

1915 ließ Thomas Mann den "Zauberberg"-Roman erst einmal liegen und stieg in den Schützengraben. So empfand er selbst die Arbeit an den "Betrachtungen eines Unpolitischen". Von wohlgesonnenen Ärzten ausgemustert, leistete er Kriegsdienst am Schreibtisch.

Von Wolfgang Schneider | 04.04.2010
    1914 hatte er zu denen gehört, die den Krieg begrüßten – und gleich den grimmig patriotischen Essay "Gedanken im Kriege" herausgeschossen. In den "Betrachtungen" setzt er nun an zur geistigen Generalmobilmachung; Gegnerschaft schafft Identität. Auch hier wird – vor dem Hintergrund einer pessimistischen Anthropologie – der Krieg gerechtfertigt und die Vorstellung einer einseitigen deutschen Schuld der Naivität bezichtigt:

    Die schiedlich-friedliche Völkergesellschaft ist eine Chimäre. Es ist nur eine Oberflächenwahrheit, wenn man erklärt, dass die Völker "in Frieden hätten leben wollen" und dass sie wie Lämmer zur Schlachtbank geführt worden seien. Die tiefere Wahrheit ist, dass Alle den Krieg gewollt und nach ihm verlangt haben, es ohne ihn nicht mehr aushielten. Und würde es die Menschheit nicht eher ehren als schänden, wenn sie es im bürgerlichen Regenschirm- und Sicherheitsstaat auf die Dauer nicht aushielte? Der Mensch empfindet Zivilisation, Fortschritt und Sicherheit nicht als unbedingtes Ideal; es lebt ohne Zweifel unsterblich in ihm ein primitiv-heroisches Element, ein tiefes Verlangen nach dem Furchtbaren, wofür alle gewollten und aufgesuchten Strapazen und Abenteuer Einzelner im Frieden: Hochgebirgstaten, Polarexpeditionen, Raubtierjagden, Fliegerwagnisse nur Auskunftsmittel sind.

    Der 600-Seiten-Essay erschien dann eher unpassend zum Friedensschluss 1918. Es ist ein großes deutsches Bekenntnisbuch. Wer aber ist der "Unpolitische" überhaupt? Deutlicher wird das, wenn man erst einmal feststellt, wer er nicht ist – gegen wen er kämpft. Die "Betrachtungen" sind nämlich die Frucht eines gewaltigen Ressentiments: Es geht gegen den engagierten Literaten, Thomas Mann nennt ihn "Zivilisationsliteraten". Das ist ein Popanz mit sehr konkretem Hintergrund. Bruder Heinrich Mann vor allem hat Modell gestanden: Der Zivilisationsliterat ist der frankophile politische Belletrist, er ist der Satiriker des "Untertans", der sich über den deutschen Obrigkeitsstaat lustig macht und den hässlichen, spießigen Deutschen vorführt. Der Zivilisationsliterat fordert "Humanität", glaubt an den sozialen Fortschritt, lässt die "Republik" hochleben.

    Er hat des Jakobiners Optimismus, seine vorgefassten Schäferideen von der Vernunft und dem schönen Herzen des Menschen, seine Neigung zur Demagogie größten Stils. Er hat des Jakobiners Hang zur Anarchie UND zum Despotismus, zur Sentimentalität UND zum Doktrinarismus, Terrorismus, Fanatismus und zum radikalen Dogma, zur Guillotine. Er hat seine schreckliche Naivität. Er ist, wie jener, ein Humanitätsprinzipienreiter mit der Vorliebe fürs Blutgerüst. Er hat auch des Jakobiners Operngeste, die generöse Dauerattitüde – eine Hand auf dem Herzen, die andere in der Luft.

    Für den Zivilisationsliteraten heißt es: Geschichte wird gemacht! Thomas Mann aber wehrt sich gegen die totale Durchsäuerung des Lebens und der Literatur mit Politik, er wappnet sich gegen die "politische Pest". Dass er damit durchaus die Krankheit der kommenden Jahrzehnte trifft, liegt auf der Hand: Der größte Teil der "Betrachtungen" entstand 1917, im Jahr der russischen Revolution – das war tatsächlich die Wiederkehr des jakobinischen "Tugendterrors", da wurde der große Traum von der "Machbarkeit" des neuen Menschen geträumt, und es ging gleich los mit Säuberungen und Massenmord. Und wenn man an die politischen Literatenfehden der zwanziger und dreißiger Jahre denkt, die dann in den sechziger und siebziger Jahren noch einmal durchgespielt wurden, an all die Appelle zum Engagement: da hat Thomas Mann früh erkannt, wohin die Tendenz ging.

    Kein Zweifel, Heinrich Mann hatte ihn im "Zola-Essay" persönlich scharf attackiert; sodass er sich heftig provoziert und in die Ecke gedrängt fühlte vom "Moralbonzentum" des Zivilisationsliteraten. Dessen Begriff von Politik ist ihm identisch mit Weltverbesserungsdrang und Optimismus. Das Gegenteil also der ästhetizistischen Lebensluft, die ihm selbst behagt: Wagner, Schopenhauer, Nietzsche, Romantik des Todes. Und soviel ist wahr: tragische Pessimisten möchten wir uns lieber nicht als Kanzler und Minister vorstellen. Von daher ist es begrüßenswert, dass Thomas Mann seine Vorlieben als dezidiert "unpolitisch" definiert.

    Er übt sich in quasireligiöser Demut gegenüber dem Leben, wie es ist. Er verabscheut die politisierte Kunst und die Utopie der sozial befriedeten Gesellschaft, weil darüber die ästhetische Qualität und der Sinn für das Tragische vor die Hunde gehen:

    Der Politiker, der philantropische Revolutionär und Zivilisationsliterat, der ein Demagog großen Stils, nämlich ein Menschheitsschmeichler ist, und, wenn er von Menschlichkeit spricht, ausschließlich des Menschen Hoheit und Würde im Sinn hat, während sein Widerspiel, der von ihm sogenannte Ästhet, beim Worte "Menschlichkeit" mehr des Menschen Schwäche, Ratlosigkeit und Erbärmlichkeit zu meinen geneigt ist – der philanthropische Politiker also ist es, der das Leben um allen Ernst, alle Würde, Schwere und Verantwortlichkeit zu bringen sucht ... Es handelt sich da um eine moralische Verkitschung der Welt und des Lebens, der Geschmack abzugewinnen nicht jedermanns Sache ist und vor allem, finde ich, nicht Sache des Künstlers sein sollte: welcher nämlich das stärkste Interesse daran hat, dass dem Leben die schweren, todernsten Aspekte nicht völlig abhanden kommen, und mit einer moralisch verschnittenen Welt nichts anzufangen wüsste.

    Es geht in den "Betrachtungen" viel um Literatur, selten um konkrete politische Fragen. Während der Zivilisationsliterat den reaktionären Landadel als "Gattung sektsaufender Rüsseltiere" verspottet, verkündet der Unpolitische trotzig: Die anständigste aller Lebensformen sei die des Gutsherrn. Dabei denkt er natürlich nicht an preußische Junker, sondern als Tolstois Lewin. Und wenn er die "Militaristen" preist, dann versteht er darunter vor allem die wortkargen Leistungsethiker seiner eigenen Werke, Figuren wie Thomas Buddenbrook, Gustav von Aschenbach und Joachim Ziemßen. Er beschwört sein Bild eines unpolitischen Deutschland, ganz anders als Westeuropa und wie von Eichendorff gedichtet. Die Deutschen seien ein musikalisches, kein räsonierendes Volk. So geht es unermüdlich auf und ab auf der Begriffswippe: "Kultur" versus "Zivilisation", "Ironie" versus "Radikalismus", "Metaphysik" versus "Gesellschaftskritik" – bis zum Überdruss zelebriert Thomas Mann seine Antithesen. Immer wieder grenzt er sich ab vom politischen Menschen, der festgezurrte Meinungen hat und die Dinge auf einen Standpunkt zurechtschneidet. Verständlich, dass er als praktizierender Ironiker solchem Meinungsdienst reserviert gegenübersteht:

    Ein Künstler, meine ich, bleibt bis zum letzten Hauch ein Abenteurer des Gefühls und des Geistes, zur Abwegigkeit und zum Abgrunde geneigt, dem Gefährlich-Schädlichen offen. Seine Aufgabe selbst bedingt seelisch-geistige Freizügigkeit, sie verlangt von ihm Zuhause-Sein in vielen und auch schlimmen Welten, sie duldet keine Sesshaftigkeit in irgendwelcher Wahrheit und keine Tugendwürde.

    In einem Roman sind Meinungen Material des künstlerischen Spiels – die Figuren müssen etwas zu reden bekommen. Ein guter Autor versteht sich darauf, verschiedene Figuren mit ihren gegensätzlichen Meinungen jeweils "recht" haben zu lassen. Und weiß gerade deshalb: In dem Moment, wo einer den Mund aufmacht, hat er schon unrecht. Solche Erwägungen gehören zu einer Argumentationslinie des Buches, auf der Thomas Mann seiner eigenen Meinungsmache subtil den Boden entzieht.

    Während der Zivilisationsliterat von Freiheit und Gleichheit schwärmt, sieht der Unpolitische die Demokratie nüchterner – als Entfesselung des Geschäftssinns. So wie heute die Kritiker der Vereinigten Staaten nur höhnen über das Sendungsbewusstsein von "freedom & democracy" und stattdessen "Öl!" und "militärisch-industrieller Komplex!" rufen, so wollte auch schon Thomas Mann wissen, dass der eigentliche Souverän der Demokratie das Geld sei:

    In der Tat hindern geringfügige Unterschiede in den Staatsformen ja nicht, dass die Welt heute demokratisiert ist bis in den letzten Winkel – insofern wir nämlich in einer gewerblichen, dem Nützlichkeitsprinzip anhängenden Epoche leben, deren hauptsächliche Triebfeder der Drang nach Wohlstand, und deren rangverleihender Herrscher das Geld ist. Plutokratie und Wohlstandsbegeisterung: das ist die genaue Bestimmung der Demokratie ... Die Spekulation, der Lebensmittelwucher im Kriege, - welchen Geistes ist er denn, als der Demokratie, die Geld, Verdienst, Geschäft als oberste Werte eingeprägt hat.
    Ich will die Monarchie, ich will eine leidlich unabhängige Regierung, weil nur sie die Gewähr politischer Freiheit, im Geistigen wie im Ökonomischen bietet. Ich will sie, weil es die Losgelöstheit der monarchischen Staatsregierung von den Geldinteressen war, die den Deutschen die Führung in der Sozialpolitik erwirkte. Ich will nicht die Parlaments- und Parteiwirtschaft, welche die Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik bewirkt.


    Der "Unpolitische" bekennt sich trotzig zum Obrigkeitsstaat; die wölfische Natur des Menschen muss in Schach gehalten werden. Dabei ist er längst selbst innerlich demokratisiert; ein modern gebrochener, kosmopolitischer, intellektueller Autor. "Viele der kritisierten Tendenzen sind auch in mir", schreibt er. Es gibt in den "Betrachtungen" Passagen, wo er klar sieht: Die Republik ist das Kommende und Vernünftige, und in diesem Sinn ist sie ihm recht. Man kann bei diesem Manöver an Benjamins Engel der Geschichte denken: Es geht voran, aber rückwärtsgewandt. Und es gehört zur Ironie der Biografie Thomas Manns, dass er wenige Jahre später selbst ein engagierter Autor war: gegen Hitler, in der Emigration, als weithin beachteter Repräsentant des "besseren Deutschland".
    Hermann Kurzke, der Herausgeber dieser Neu-Edition im Rahmen der Großen kommentierten Frankfurter Thomas Mann-Ausgabe, hat sich jahrzehntelang mit den "Betrachtungen" beschäftigt. Indem er ihre verborgene Liberalität herausstellt, will er ein wildes Buch retten für die gemäßigte Diskurs-Zone. In den Siebziger Jahren haben die Gegner Thomas Manns dessen politisches Engagement ja immer wieder im Rückgriff auf die "Betrachtungen" diskreditiert. Da hieß es (etwa aus dem Mund Martin Walsers): Nun gut, er hat feine Reden gegen Hitler und für die Demokratie gehalten, aber in Wahrheit ist er doch immer der Reaktionär der "Betrachtungen" geblieben. Dieses "in Wahrheit" ist eine alte Denkfigur der Ideologiekritik, die Kurzke – ehedem selbst ein Achtundsechziger – nun gewitzt umdreht: "In Wahrheit" war Thomas Mann schon in den "Betrachtungen" auf dem Weg zur Republik.

    Dennoch stand das Werk lange im Ruf der reaktionären Kampfschrift. Aber es war viel zu raffiniert, um etwa bei den Nazis auf Sympathien zu stoßen. Auch wenn 1922, beim offiziellen Bekenntnis des Schriftstellers zur Weimarer Demokratie, Teile der rechten Presse "Mann über Bord!" schrien und ihn des Verrats bezichtigten – der elaborierte, ziselierte, bisweilen überinstrumentierte Stil sorgt eigentlich für geringe Verwechslungsgefahr mit den plumpen Pamphleten, wie sie seinerzeit kursierten.

    Zu den riskantesten Kapiteln des Buches gehört "Einiges über Menschlichkeit". Der Zivilisationsliterat hat sich die "Humanität" auf die Fahne geschrieben. Er beklagt die Schlächtereien an den Fronten. Dagegen versucht Thomas Mann hier einen Begriff von Menschenfreundlichkeit zu entwickeln, der die tragischen Aspekte des Lebens einschließt – und dazugehört eben auch der Krieg. Es gebe Tode im Krankenbett, die seien schlimmer als die auf den Schlachtfeldern, schreibt er. Leiden führe außerdem zur Verfeinerung – das ist eine seiner Grundideen seit Hanno Buddenbrook, und er wendet sie jetzt, sehr forciert, auch auf Schützengrabenhorror und Kriegsverstümmelte an. Der Krieg veredele den Mann, die Todesnähe steigere das Lebensgefühl. Über mehrere Seiten beschreibt er dann, wie er in München zwei Versehrte beobachtet und im Gespräch belauscht: Die sind erstaunlich gut drauf, machen Späße, lassen sich das Essen schmecken, genießen den Sonnenschein. Wozu also das Pathos der Humanität?

    Ich muss sagen, dass mir der Anblick des Blinden unmittelbar am meisten Grauen eingeflößt hatte. Der Einarmige, nun, er hatte ja immerhin noch einen Arm und zwar den rechten. Auf allen möglichen Feldern, in der Landwirtschaft, in der Industrie und als Handwerker konnte er noch seinen Mann stehen, und dann, bis zu welcher Vollendung hatte die fortschreitende Technik es nicht auf dem Gebiet der künstlichen Gliedmaßen gebracht. Aber blind! Von Kind auf war mir das als das schrecklichste Los erschienen. ( ... ) Später hatte ich freilich mein grenzenloses Mitleid als übertrieben, ja unstatthaft bezeichnen hören. Blinde, hörte ich, seien meist milde, gelassene, heitere Menschen. Ich machte die Bekanntschaft eines liebenswürdigen Herrn, der seit Kindheitstagen stockblind ist. Leicht und anmutig sein Stöckchen vor sich herbewegend geht er in den Straßen Berlins seinen Geschäfte nach, - durch die Tunnel der Untergrundbahn, über den Potsdamer Platz. Pfützen umgeht er, wie er es macht, weiß niemand. Außerdem besitzt er eine Repetieruhr mit wohlklingendem Glockenspiel, um die ich ihn immer beneidet habe.

    Diese Passage bekommt durch ihren beschwingten Ton eine makabre Komik und geht schließlich offenkundig ins Unsinnige über: Dass der Blinde zu aller guten Laune auch noch eine schöne Uhr besitzt, kann die Empörung über die zahllosen Kriegsverstümmelten gewiss nicht beschwichtigen. Er führe hier "scheinbar" die Sache der Inhumanität, schreibt Thomas Mann – sehr wahr.

    Die Ästhetik der "Betrachtungen", so Kurzke, sei "antirhetorisch". Zugleich aber gibt es kaum ein Buch, das rhetorisch höher schäumen würde. Der unverkünstelte, antirhetorische Thomas Mann ist erst postum auf uns gekommen: Es ist der Verfasser der Tagebücher. Die beiden Werke grenzen dicht aneinander. Die Korrekturen der "Betrachtungen" schloss Thomas Mann im Juli 1918 ab. Die überlieferten Tagebücher beginnen zwei Monate später.

    Zum rhetorischen Charakter kommt die Gemachtheit der Montage. Sharing-Kultur – das war ganz entschieden die Devise Thomas Manns. Die Helene-Hegemann-Liste der plagiierten Passagen ist eine Kleinigkeit gegen die sechshundert Seiten von Kurzkes Stellenkommentar: rund 4000 Zitate, die meisten davon durchaus nicht im Text ausgewiesen, hat Kurzke in einer Forscherarbeit von geradezu erschreckendem Fleiß identifiziert, indem er all die Bücher, Sekundärwerke, Tageszeitungen und Journale überprüfte, aus denen sich Thomas Mann seine Ausführungen zusammenmontierte. Die Kunst des "höheren Abschreibens", mit der im "Zauberberg", im "Doktor Faustus" oder in den Josephsromanen Gelehrsamkeit simuliert wird – in den "Betrachtungen" wurde sie bereits zum Exzess getrieben.
    So wie mancher "Axolotl Roadkill" nun erst recht anzustaunen behauptet, wo es sich nicht um einen porentief authentischen Report aus den jugendlichen Wildreservaten Berlins handelt, sondern um eine Collage aus dem Geist der posturheberrechtlichen Zukunft, so hat auch Kurzkes Bewunderung der "Betrachtungen" eine Menge damit zu tun, dass sie sich bei genauem Hinsehen eben nicht als authentische reaktionäre Rumpelei, sondern als raffiniertes Zitatkunstwerk erweisen, wo nichts ganz wörtlich zu nehmen ist. Über weite Strecken merkt man dem Text diese mangelnde Authentizität allerdings an: Das Zitieren und Montieren geschieht ja auch aus Not. Helene Hegemann war nicht im Berghain, und Thomas Mann war nicht im Parlament, er war kein Harry Graf Kessler, der mit den Mächtigen auf vertrautem Fuß verkehrte, das wurde er erst in Zeiten der Emigration. Weil er seiner eigenen Stimme nicht trauen konnte auf politischem Gebiet, weil er sich in den ideengeschichtlichen Hintergründen nicht besonders gut auskannte, war er auf massive Zitat-Unterstützung angewiesen.

    Es widerspricht nicht der auffallenden Humorlosigkeit der "Betrachtungen", wenn man in der Zitattechnik eine objektive Ironie erkennt: dass ein Schriftsteller in Kriegszeiten gestählte Haltung bekennen will, und sich dann – als Dirigent eines gewaltigen Stimmenorchesters – hinter lauter fremden Tönen verschanzt. Dass er seine Meinung sagen will – und nichts als virtuose Rollenprosa produziert.

    Nicht zuletzt sind die "Betrachtungen" ein großes geistiges Dokument ihrer Zeit. Heute ist die parlamentarische Demokratie eine selbstverständliche Errungenschaft. Warum war sie das nicht für viele kluge Köpfe um 1920? Hier kann man es erfahren. Warum haben Deutsche und Franzosen vor gar nicht so langer Zeit immer wieder erbittert Krieg gegeneinander geführt? Schuld waren ja nicht nur politische Konflikte. Es gab auch ein symbolisches Schlachtfeld, das mit seinen Stereotypen in den "Betrachtungen" zu besichtigen ist. Empfindlich reagiert Thomas Mann auf die Verunglimpfung alles Deutschen durch die französische Kriegs-Presse. Dass Deutsche naturgemäß stinken, weil ihre Därme ein paar Meter länger seien als die der übrigen Menschheit – solche von französischen Wissenschaftlern damals ernsthaft vertretenen Theorien bleiben nicht unwidersprochen:

    Im Pariser "Temps" ward kürzlich ein Buch gelobt, dessen Verfasser, ein angesehener Gelehrter, Bérillon, Professor der Psychiatrie, den Nachweis erbringt, dass die Deutschen überhaupt keine Menschen sind, vielmehr irgendeiner untergeordneten Spezies angehören, was aus der Form ihrer Sinnesorgane, ihres Unterleibes, ihres Geruchs, sowie aus der Beschaffenheit ihrer animalischen Absonderungen unzweifelhaft hervorgehe. Nein, es ist nicht Pharisäertum festzustellen, dass solche schauerlichen Narreteien des Hasses in deutscher Sphäre unmöglich wären.

    Es dauerte bekanntlich nicht lange, bis die rassistische Ausgrenzung nirgendwo perfider betrieben wurde als in Deutschland. Ein weiteres Mal sieht man: Mit dem Rechtsradikalismus der zwanziger Jahre, gar mit Nationalsozialismus hat Thomas Manns Konservatismus des "anständigen" Deutschen nichts zu tun.

    Mit dem Kriegsende findet der Kampf der "Betrachtungen" noch lange kein Ende. Im "Zauberberg" wird weiter geschossen – zwischen dem sympathisch-komischen, in die Aufklärung verliebten Republikaner Settembrini und dem antihumanitären Scharfdenker Naphta, der Kommunismus und Inquisitions-Katholizismus gescheit verbindet, menschlich aber defizitär bleibt. Die "Betrachtungen" sind ein Ideen-Laboratorium, aus dem sich Thomas Mann – bis zum "Doktor Faustus" – immer wieder bedient hat. Kein anderes Buch hat die heikle Frage des politischen Engagements in der Literatur je breiter und subtiler abgehandelt. Keines hat den politisierenden Intellektuellen in seinen "Tugendposen" – und da kann man gern auch an jüngere Verkörperungen des Typus wie Günter Grass denken – so hintergründig vorgeführt.

    Thomas Mann: "Betrachtungen eines Unpolitischen". Herausgegeben und kommentiert von Hermann Kurzke. S. Fischer, Frankfurt a. Main 2009, Textband und Kommentarband, zus. 1430 S., 80,- Euro