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Gegen Stereotypie in den Köpfen

In ihrem Essay "Die zweite Generation" zeichnet die Historikerin Lea Kirstein ein Bild jener heute lebenden Juden, die sich nicht in den üblichen Klischees wiederfinden, die mit Klezmer-Musik, jüdischer Küche und jüdischen Märchen nichts anfangen können. Sie lassen den ganzen folkloristischen Aufwand beiseite, weil sie ihn für zu vordergründig und kitschig halten.

Von Kersten Knipp | 15.03.2007
    Der Bruch kam unerwartet. Wunderbar leicht war die die Unterhaltung dahingeflossen, ein Wort hatte das andere ergeben, und plötzlich dann dieses: "Ich bin Jüdin". Der Gesprächspartner zögert, ringt um Antwort. Ob damals auch ihre Familie?, fragt er sich und gerät nun vollends ins Straucheln. Das Gespräch stockt. Seinen leichten Gang wird es für heute nicht mehr finden.

    Deutschland gut 60 Jahre nach dem Holocaust: Die Mahnmäler sind gebaut, die Riten gefestigt, die Sprachregeln gefunden. Wie verheerend die NS-Zeit unter der geordneten Oberfläche des Ritus trotzdem weiterwirkt, zeigt die Historikerin Lea Kirstein in ihrem Essay über "Die zweite Generation", die Kinder jener Juden also, die den Holocaust überlebten und danach in Deutschland blieben, hier arbeiteten, Familien gründeten, den Anschluss an das suchten, was man gemeinhin Normalität nennt. Aber so normal war diese Realität nicht, berichtet Kirstein. Schon in ihrer Schulzeit warfen scheinbare Selbstverständlichkeiten unbeantwortbare Fragen auf.

    "Als ich klein war, in die Grundschule kam, ging jeder der Schüler in die Kirche, man teilte sich in die evangelische oder die katholische Kirche. Ich war allein, meine Eltern haben so etwas nie mitgemacht, und ich wusste nicht, wohin. Und anschließend fragte ich, was bin ich denn nun, bin ich evangelisch oder katholisch, in welche Kirche hätte ich gehen sollen, und mein Vater sagte mir, du bist keins von beiden, aber was du bist, kannst du nicht erklären. Und das sollst du auch nicht erklären. Und das ist eigentlich etwas, was man lebt, und was man auch nicht wirklich loswird."

    Aber wer ist "man"? Alle Angehörigen der zweiten Generation, wie der Buchtitel suggeriert? Eher nicht, denn er geht zurück auf die Marketingidee des Verlags. Eher handelt es sich um die recht individuelle Geschichte einer einzelnen Frau, deren Leben allerdings unter den tiefen Schatten des Völkermords verläuft. In teils sehr persönlich gehaltenen, teils abstrakt-theoretischen Passagen zeigt Kirstein, wie rigide die Folgen des Völkermords auch heute, gut 60 Jahre später, in ihr Leben eingreifen, in ihres und in das mancher ihrer Generationsgenossen.

    "Die jüdischen Überlebenden haben tatsächlich ihre Sprache als eigentlich Gefühl, über eine sichere Tradition zu verfügen, ihre Familiengeschichte zu kennen, Familienfeste zu kennen, das haben sie sie verloren, diese Überlebenden, und das ist das, was sie weitergeben. Ich bin nicht nur in einer Familie aufgewachsen, die keine Fotos hat von den Eltern und Großeltern, in denen diese Fotos fehlen, sondern auch in einer Familie, die selber weiterhin vernichtet. Auch von mir gibt es keine Fotos einer Kindheit, weil das das Erbe ist dieser Verfolgung, ... den Versuch, eine Antwort zu finden auf die Frage, was ist jüdisches Leben, ohne dass man das wirklich beantworten kann."

    Auf die Dramatik dieser Nachwirkungen weist bereits der Umstand hin, dass die Autorin ihr Buch unter Pseudonym geschrieben hat. Den Entschluss fasste sie um der Anonymität ihrer Eltern willen, die den Holocaust als Kinder überlebten, die Gewalt aber bis heute nicht richtig verarbeiteten. So wuchs die in den 1960er Jahren geborene Autorin als Tochter eines gewalttätigen Vaters und einer zur Depression und Apathie neigenden Mutter auf, in einer Atmosphäre ständiger Ehekräche und chronischen Misstrauens nach außen. Vor allem aber konnte die Familie auf keine Geschichte, keine Tradition mehr zurückblicken. Das Anderssein der Gebliebenen, schreibt Kirstein, verweigere jede Definition oder Typisierung. Es sei nicht beschreibbar, da es schlicht keine eigenen Charakteristika habe. Einzige Ausnahme sei das Fehlens dieser Charakteristika. In Deutschland, so Kirstein, existierten hingegen einige stereotype Vorstellungen von Juden, die der Vielfalt jüdischen Lebens nicht gerecht würden, mit der Folge, dass einige Gruppe in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, ihre Probleme, ihr Anliegen nicht gehört würden.

    "Wir haben das Glück, dass wir Juden heute wieder jüdische Gemeinden in Deutschland haben. Und wir haben andererseits das Glück, dass wir diese Juden zunächst auch erstmals als Ausländer kennen und sehen. Dass sie aus anderen Ländern kommen. Aber es gibt eine kleine Gruppe - und das ist ein bisschen meine Geschichte oder die Geschichte des Buches - von Juden, die in Deutschland geblieben sind, eher verdeckt, nicht so wahrgenommen im öffentlichen Bild, die es auch leichter finden, sich als Deutsche zu fühlen, leichter denn sich als Jude zu fühlen, und die wir so nicht kennen bisher."

    Wer sich nicht neu erfinden kann, kann sich immerhin verweigern. Zunächst gegenüber der Erinnerungspolitik der Bundesrepublik, die es sich angewöhnt hat, öffentliche Figuren jüdischen Glaubens ausschließlich in der Rolle von Mahnern und Vermittlern zu präsentieren. Dass es sich hier abermals um eine allzu entschlussfreudige Zuschreibung von außen handelt, scheint dem routiniert arbeitenden Angestelltenheer der Bewältigungsindustrie kaum in den Sinn zu kommen. Doch so nachvollziehbar Kirsteins Verweigerung gegenüber dieser Rollenzuschreibung ist, so radikal sind die Schlussfolgerungen die sie aus dem Holocaust zieht. "Es gibt", schreibt sie, "keine Zukunft für die, die keine Zukunft haben sollten. Unsere Erbschaft ist die Verweigerung von Planungen aus dem Wissen, dass Zukunft nicht planbar ist."

    So absolut formuliert, mag man dem Satz nicht folgen, ihn zumindest nicht als zutreffend für alle Angehörigen der Zweiten Generation erachten. Doch erzeugt gerade das Gefühl der Zukunftslosigkeit ein Identitätsgefühl, ohne das Kirstein, selbst wenn sie wollte, nicht leben könnte.

    "Es ist eine merkwürdige Unsicherheit, die man lebt, aus der man auch heraus will, in der man sich nicht wohl fühlt, und aus der man trotzdem Angst hat, sie zu schließen, weil es eigentliche diese Unsicherheit ist oder das Gefühl, was das einzige ist, was man überhaupt noch als Familiengeschichte hat. Weil dahinter eben tatsächlich nichts ist. Es gibt keine Namen einer Familie, es gibt keine Familienerbstücke, man kann sich nicht zurücksetzen und sagen, an der und der Stelle hat die Großmutter ein Ferienhaus gehabt."

    Kirstein selbst hat ihr Leben darum mir rigiden Imperativen versehen: keine Familie gründen; nachts das Licht nicht anschalten; Lebensmittel auch nach dem Verfallsdatum noch verzehren; eine 400 Seiten starke historische Studie nicht als Dissertation einreichen. Und doch könnte dieser Essay ein erster Schritt in Richtung öffentlicher Zukunft sein und zugleich die Sicht jener etwas stilleren, zurückhaltenden Juden der zweiten Generation bekannt machen; jener, die sich nicht in den üblichen Klischees wiederfinden, die mit Klezmer-Musik, jüdischer Küche und jüdischen Märchen nichts anfangen können; die die ganzen folkloristischen Aufwand beiseite lassen, weil sie ihn für viel zu vordergründig und kitschig halten. Kirsteins Buch besticht durch einen wunderbar poetischen, fragilen Stil, dessen feine Verästelungen noch in die sensibelsten Lebensbereiche vordringen, Fragen aufwirft, in denen sich auch viele Nicht-Juden wieder erkennen dürften. Worauf gründet Identität? Das ist die grundlegende Frage, die dieses Buch stellt. Es stellt sie zudem auf ästhetisch betörende Weise. Der Text hat das, was viele Bücher, selbst viele Romane so schmerzhaft vermissen lassen: sprachlichen Rhythmus, stilistisches Feingefühl. Man taucht ein in diesen Stil und bleibt in ihm gefangen. Eindrucksvoll macht das Buch deutlich, dass man gerade die stillen, verletzlichen Vertreter dieser zweiten Generation hören sollte. Nicht nur, weil es eine historische Verpflichtung ist, sondern auch, weil man unendlich viel von ihnen lernen kann.

    Lea Kirstein: Die zweite Generation. Autobiographische Reflexionen
    Wilhelm Fink Verlag, 161 Seiten
    19,90 Euro