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"Gegenermittlung" zugunsten des Angeklagten

Bei einer Umfrage in England haben vor kurzem mehr als die Hälfte der Befragten die Überzeugung geäußert, dass Meisterdetektiv Sherlock Holmes wirklich gelebt habe. Den französischen Literaturtheoretiker und Psychoanalytiker Pierre Bayard kann so etwas nicht verblüffen. In seinem Essay "Freispruch für den Hund der Baskervilles" zeigt er, wie weit sich fiktive Figuren in unsere Wirklichkeit einmischen können.

Von Christoph Vormweg | 06.03.2009
    Warum liest man manche Bücher mehrmals? Normalerweise ist Begeisterung der Grund. Bei Pierre Bayards Lektüren von Arthur Conan Doyles berühmtem Kriminalroman "Der Hund der Baskervilles" lag die Sache jedoch anders. Der Pariser Literaturprofessor las das Buch immer wieder, weil ihm das Indiziengerüst zur Überführung des Täters fehlerhaft erschien. Mit anderen Worten: Er versuchte, dem weltberühmten Meisterdetektiv Sherlock Holmes Irrtümer nachzuweisen. Dafür hat Pierre Bayard eine eigene literarische Methode der "Gegenermittlung" entwickelt: die so genannte "Kriminalkritik", die für Gerechtigkeit im literarischen Universum sorgen soll.

    "In dem Buch, das uns hier interessiert, "Freispruch für den Hund der Baskervilles", versuche ich zu zeigen, dass die Lösung, die der Schriftsteller und sein Detektiv vorschlagen, nicht unbedingt die einzig mögliche Lösung ist, ja nicht einmal die richtige. Das Buch gehört zu meiner englischen Trilogie. Im ersten Band mit dem Titel "Wer hat Roger Ackroyd ermordet?" habe ich mir Agatha Christies berühmten Roman "Alibi" vorgenommen und nachgewiesen, dass sich der Detektiv Hercule Poirot und seine Schöpferin Agatha Christie im Mörder irrten und den wahren Täter laufen ließen. Im zweiten Band "Ermittlung zu Hamlet" zeige ich, dass Shakespeare irrte, als er Claudius als den Mörder Hamlets hinstellte. Auf den letzten Seiten überführe ich dann jeweils den wirklichen Täter. Ich erschaffe diese Werke also gewissermaßen neu - allerdings ohne ihnen etwas hinzuzufügen. Ich begnüge mich mit den vorhandenen Bestandteilen, füge keinen Satz hinzu und streiche auch keinen - und doch komme ich zu einer Lesart, die anders ist als die allgemein anerkannte."

    Für Pierre Bayard ist also nicht der legendäre, Furcht erregende Hund der Baskervilles der Mörder. Auch nicht sein Herrchen, der Naturforscher Stapleton, der das Tier - laut Sherlock Holmes' Theorie - zum Täter abgerichtet hatte und anschließend auf seiner Flucht ins nebelverhangene Moor umkam. Alles Mumpitz, so Pierre Bayard. Schritt für Schritt dröselt er noch einmal die Ermittlungen von Sherlock Holmes und seinem Assistenten Dr. Watson auf. Mit bemerkenswertem Scharfblick weist er dabei Schwachstellen im Geflecht der vermeintlichen Motive und Indizien nach. Wir lesen also gleichsam zwei Kriminalromane in einem: die Ermittlung und die Gegenermittlung. Die Spannung verdoppelt sich somit - nicht zuletzt dank der klaren, zupackenden Sprache Pierre Bayards. Hinzu kommt der Reiz seiner literaturtheoretischen Schlussfolgerungen:

    "Eine meiner Hauptthesen zielt auf die Autonomie literarischer Figuren. Ich glaube, dass sie manchmal ihrem Schöpfern entweichen und ein Eigenleben führen. Das beweise ich, indem ich in meinem Buch "Freispruch für den Hund der Baskervilles" vorführe, wie der wirkliche Verbrecher Conan Doyle entwischt. Was ich in meinen theoretischen Fiktionen letztlich zu erkunden versuche, ist dieser Punkt, von dem viele Schriftsteller erzählen: Dass von einem gewissen Moment an die Figuren die Richtung der Erzählung bestimmen."

    Wer lenkt also wen? In dieser Frage rückt Pierre Bayards Zweitberuf in den Vordergrund: der Psychoanalytiker, der das Unterbewusste erforscht.

    "Dass sich eine literarische Figur zuweilen verselbständigt, zeigt sich am besten im Leben von Conan Doyle selbst. Irgendwann war er Sherlock Holmes überdrüssig und ließ ihn umkommen. Denn er war überzeugt, dass seine eigentliche Bestimmung darin lag, Science-Fiction und historische Romane zu schreiben. So einfach wurde er seinen Sherlock Holmes aber nicht los. Es gab eine Leserbewegung, die protestierte und forderte, Sherlock Holmes wieder auferstehen zu lassen. Mit dem "Hund der Baskervilles" kam Conan Doyle dieser Forderung nach. Doch warum die vielen Widersprüche bei der polizeilich schlecht geführten Ermittlung? Man muss sie, glaube ich, auf die Rivalität zwischen dem Schriftsteller und seiner Figur zurückführen. Es kann da einen wirklichen Konflikt geben: zwischen einer Figur und seinem Schöpfer."

    Nur nach außen hin bediente Conan Doyle die Sehnsüchte seiner Leserschaft. Unterbewusst, so Pierre Bayards Theorie, lebte er seine Hassgefühle gegenüber Sherlock Holmes aus. Und das habe seinen Detektiv - durch ein höchst vertracktes Wechselspiel von Autoren- und Figurenpsyche - blind gemacht für den wahren Mörder, der quasi die erzählerische Macht übernehme. Das alles klingt gewagt. Doch Pierre Bayards ausgeklügelte Beweisführung ist immer nachvollziehbar - was allerdings nicht dazu führen sollte, seine Schlitzohrigkeit zu unterschätzen.

    "Die Bücher, die ich schreibe, dürfen nicht vordergründig gelesen werden. Es sind "theoretische Fiktionen", die auf halbem Wege zwischen Theorie und Roman angesiedelt sind. Die Erzähler ähneln mir zum Teil, aber sie sind nicht mit mir identisch. Mein letztes Buch "Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat" hat da Missverständnisse erzeugt. Der Erzähler war ein Universitätsprofessor, der sich damit brüstete, nie ein Buch aufzuschlagen, und die These vertrat: Je weniger man liest, desto besser geht es einem. Diese Figur war natürlich nicht ich. Denn ich bin ein Bücherwurm. In "Freispruch für den Hund der Baskervilles" ist das ähnlich. Dort ist der Erzähler ein ziemlich paranoischer Ermittler, der felsenfest davon überzeugt ist, dass sich Sherlock Holmes geirrt hat, der die Dummheit von Sherlock Holmes beweisen will."
    Nicht als ein sich aufspielender Weihepriester der Objektivität fordert Pierre Bayard den "Freispruch für den Hund der Baskervilles". Vielmehr schickt er einen Erzähler ins Gefecht, der seinerseits eine Spielfigur ist. So öffnet sich sein Essay für eine Vielzahl ironischer Zwischentöne. Mit anderen Worten: Pierre Bayard schreibt nicht für die kleine Welt der Literaturtheoretiker. Er möchte die Sherlock-Holmes-Begeisterten dieser Welt überzeugen, also mitreißen und unterhalten - weshalb er literaturwissenschaftliches Vokabular so weit wie möglich meidet. Sein Essay tanzt buchstäblich auf der Grenze zwischen literarischer Fiktion und Realität. Er zeigt, dass auf dieser Grenze Zwischenreiche der Phantasie entstehen können, die unseren Alltag mit Spannung aufladen, ihn versüßen, ihn aufreizender machen.

    Warum sonst treffen in Sherlock Holmes fiktivem Büro in der Bakerstreet 221B noch heute Hunderte von Briefen im Jahr ein? Pierre Bayard führt uns augenzwinkernd vor, wie literarische Figuren in unseren Hirnherzen eine ganz eigene Existenz führen. Er demonstriert einmal mehr, dass jede Lektüre eine Neuerschaffung ist, ja, dass diese Neuerschaffung sehr weit gehen kann: bis hin zum aktiven Eingreifen des Lesers, bis hin zur Korrektur von Sherlock Holmes höchstpersönlich, dem ganz und gar nicht Unfehlbaren.

    Pierre Bayard: "Freispruch für den Hund der Baskervilles. Hier irrte Sherlock Holmes", Essay. Aus dem Französischen von Lis Künzli. Verlag Antje Kunstmann, München 2008. 208 Seiten. 16,90 Euro.