Mittwoch, 24. April 2024

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Gegenwärtige Vergagenheit

Zoé Valdés stammt von der sonnigen Zuckerinsel und ist, 1959 geboren, so alt wie die Kubanische Revolution. Heute lebt sie nahe der Place de la Bastille in Paris, nicht weit entfernt von der Seine, mit ihrer Tochter und dem Filmemacher Ricardo Vega, ihrem dritten Ehemann. Umgeben von Gemälden, deren Atmosphäre, Farben und Formen an die Kultur erinnern, die sie für immer wie einen Schatz in sich trägt, die sie aber wider Willen in der Realität aufgeben musste. Eine empfindsame, aber keine gebrochene Frau im Exil, für die Leben ohne Lesen so absurd ist wie ein Leben ohne Schreiben und ein Schreiben ohne Erinnerung. Im Gespräch mit ihr zeigt sich, wie präsent ihr die Vergangenheit ist, auch wenn sie deren Normalität betont.

Von Heinz-Norbert Jocks | 12.07.2004
    Meine Familie war sehr arm, und meine Großmutter eine Träumerin, die Schauspielerin werden wollte. Sie versuchte, hier und da Theater zu spielen, weshalb meine Mutter wie meine Tante bereits mit zwölf Jahren als Serviererin und Hausmädchen arbeiten mussten. Und mein Vater, ein Tischler, verließ uns, da war ich gerade mal zwei Monate alt. Ansonsten ist nichts Ungewöhnliches passiert. Ich war eben ein Kind der Stadt Havanna, wo ich zur Schule ging und in einem Umfeld aufwuchs, in dem die Frauen das Sagen hatten. Ich hatte einen Cousin, der kleiner als ich und sehr zart war und jetzt nach Kuba zurückkehrt. Er, übrigens wie mein Bruder und meine Schwester homosexuell, ist jemand, zu dem ich immer schon eine große Nähe empfand. Damals war es auf Kuba für diejenigen, die anders waren, sehr schwierig. Homosexualität wurde verfolgt. Mein Cousin, wegen seiner Neigung sofort angeschwärzt, flog daraufhin von der Schule.

    Und da wir zur Kirche gingen, obwohl auch das verboten war, steckten wir in einer extrem schwierigen Situation. Wir gingen trotzdem hin schon allein wegen des Frühstücks, das wir dort bekamen. Es gab da auch Bilder zu sehen. Und Spielzeug für die Kinder. Darüber hinaus interessierte ich mich auch für die Kunst des Barocks in den Kirchen und fühlte mich dort wie in einem Palast. Alles war ganz normal, zumindest schien es uns so. Es war eben eine Kindheit unter der Diktatur von Fidel Castro, die sich als Revolution ausgab. Ich wurde älter und begann schon bald mit dem Schreiben. Ich habe nie zu studieren aufgehört, auch wenn es schwierig war. Eigentlich wollte ich Journalismus oder Kunstgeschichte studieren, aber das war unmöglich. Denn ich musste mich in Physik ausbilden lassen und damit einen von der Revolution vorgeschriebenen Berufsweg einschlagen.

    Wie alle anderen besuchte auch ich eine Landwirtschaftsschule. Ich las unglaublich viel, wobei mich meine Großmutter mit Büchern versorgte, die verboten waren. Sie unternahm allerhand, damit ich lesen konnte, was sonst niemand lesen durfte. Vor allem zu jener Zeit, da ich in einem kleinen Zeitungsbüro arbeitete, nachdem man mich aus ganz idiotischen Gründen von der Uni geschmissen hatte, denn 1981 mussten viele Studenten gehen, weil man befürchtete, es blieben von ihnen später zu viele ohne Arbeit. Um das zu vermeiden, schickte man sie fort und ließ sich dafür iirgendeinen politischen Grund einfallen. Auch ich wurde also hinausgeworfen. Das war der Moment, da ich zu lesen begann. Das einzige, was ich fortan tat, war lesen.


    Die in den wichtigen Feuilletons inzwischen Beachtung findende und gelobte Schriftstellerin, deren großer Übervater Marcel Proust heißt, verließ ihre Heimat nach Erscheinen ihres Bestseller-Kurzromans "Das tägliche Nichts". In Sachen Erotik und Sex ist sie darin gekonnt nicht nur bis an die äußeren Grenzen der Schamlosigkeit gegangen, sondern sie hat auch mit deftiger Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen ihrer Heimat nicht gespart und dafür einen zwischen Alltagstristesse und ständig enttäuschter Hoffnung schwankenden, irritierend leichten Erzählton voller Humor gefunden.

    Neben tagtäglichen Entbehrungen werden uns da sowohl das Nichtshaben sowie das trotzige Leben in Havanna recht anschaulich vor Augen geführt. Zoé Valdés ahnte, dass sie mit ihrer unverblümten Aufrichtigkeit endgültig das Wohlwollen des Regimes verspielt hatte, und wartete deshalb auch die ersten Reaktionen auf ihr Buch in Frankreich ab. Schließlich entschied sie sich gegen eine Rückkehr in die als Paradies angepriesene Hölle und blieb da, wo sie zuvor schon einmal zwei Jahre lang gewohnt hatte und bei der UNESCO tätig war. Für sie ist die zentralistische Metropole trotz der vielen Schriftsteller, die ihr nahe und dort zuhause sind, mehr ein unfreiwilliges Exil, zu dem sie sich wegen der 45jährigen Diktatur gezwungen sah, denn ein glücksverheißender Ort ihrer Sehnsucht.

    Ich besaß damals keine Traumvorstellung. Als ich Kuba verließ, wünschte ich mir, in meiner Heimat zu bleiben. Paris ist zwar sehr schön, aber Kuba ist etwas völlig Anderes. Vor allem ist Havanna eine unglaublich schöne Stadt. Dass ich von dort wegging, hat einzig und allein mit der Diktatur zu tun. Wenn es sie nicht gäbe, wäre ich von dort nie fortgegangen. Es ist nicht so, dass ich Kuba verlassen habe, weil ich in Paris sein wollte. Wer auf Kuba ist, kann es sich nicht aussuchen, wohin er ins Exil geht. Nun hatte ich schon seit längerer Zeit eine Einladung von der Ecole Normale Superièure und eine vom Maison d’Inition, die bereits meinen ersten Roman "Blaues Blut" veröffentlicht hatte. Anlässlich des Erscheinens meines Buches Das tägliche Nichts lud man mich erneut nach Paris ein, woraufhin ich ihnen zu verstehen gab, es wäre gut, man würde mich zusammen mit meiner Familie kommen lassen, weil es sich diesmal um einen Roman handelte, der bei den kubanischen Behörden starke Reaktionen provozieren würde.

    Wie kompliziert es war, sich in Paris mit Familie niederzulassen, in einer Stadt, in der Zoé Valdés niemanden wirklich kannte, zeigte sich erst vor Ort. Eine extreme Erfahrung, die sich in ihren Texten widerspiegelt. Mit Café Cuba hat die Autorin nun ihren vierten Roman in deutscher Übersetzung vorgelegt, in dem sie mitunter in die Sphären ihrer sanften Hassliebe zu Kuba aus der ganz anderen Perspektive eines alter Ego namens Marcela eintaucht. In Paris gestrandet, bewegt sich diese in einem Kreis von Exilanten, die sich nicht nur dort, sondern überall auf der Welt vermehren und dabei ihre Identität als "Inselmenschen" behaupten, für die Schlafen eine kleine Heimkehr ist. Als erfolgreiche Superfotografin in Europa unterwegs, die erlebt, was es heißt, berühmt zu sein, porträtiert Marcela alles, was das versnobte Fin de siècle ihr so bietet, bis von ihr selbst nur noch "ein wackliges Stück Möbel übriggeblieben ist." Wegen ihres Zusammenbruchs beschließt sie zeitweilig, die Fotografiererei an den Nagel zu hängen, und sucht Zuflucht bei der Lektüre.

    Dabei gerät sie ins Träumen und sieht vor sich das geliebte Meer, den Strand und Orte in Havanna, die real nicht mehr existieren, während sie, auf sich selbst zurückgeworfen, von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Das Trauma, in das uns die Erzählerin ganz allmählich wie in ein zu lichtendes Geheimnis einweiht, ereignete sich, als die gerade mal Vierzehnjährige einem verheirateten Mann einen Korb voller Liebesbriefe zukommen lässt, ohne mit ihm je ein Wort gewechselt zu haben. Bald darauf wird dieser von seiner eifersüchtigen Frau erbarmungslos "abgefackelt". Seitdem glaubt Marcela, seinen Tod verschuldet zu haben. Jahre später, in Paris, verliebt sie sich in einen frisch eingezogenen Nachbarn, und dieser sich in sie. Er heißt Samuel, kommt aus Havanna und hat ein Filmdrehbuch geschrieben.

    Bei der heimlichen Lektüre stößt sie auf lauter alte Bekannte. Wie es der Zufall will, der hier so zufällig nicht wirkt, ist Samuel der Sohn des Getöteten. Die Liebe, über die sie die Vergangenheit zu vergessen schien, reißt in ihr wieder alte Wunden auf. Die Lage der Liebenden ist prekär, aber nicht hoffnungslos. Denn am Ende ist, was Marcela für wahr hielt, Gott sei Dank doch nicht die ganze Wahrheit. Die Art und Weise, wie Zoé Valdés die von kleinen Wendepunkten ganz unscheinbar gelenkte Story erzählt, zeugt von einer sprachlichen Leichtigkeit, die den Leser in eine Innenwelt existenzieller Reflexionen hineinzieht und immer wieder an Proust erinnert. Und zwar nicht nur, weil hier Erinnerung gelehrt, sondern auch, weil hier das Riechen, das Schmecken, das Hören, das Berühren und das Sehen thematisiert wird. Letztlich kreist alles auch um die Frage nach der Identität im Exil. Laut Zoé Valdés ist jeder Mensch in mehreren zuhause.

    Ich denke, jeder von uns schafft sich mehre Identitäten. Man kann sich nicht damit begnügen, nur eine einzige Person zu sein. Wir sind, was wir erleben. Wir sind unsere Freunde, unsere Familie, unsere Kinder, wir sind alles. Im Augenblick führe ich ein sehr ruhiges Leben und bin eine Frau, die schreibt und spricht. Jetzt langweile ich mich ein wenig und würde lieber wieder mein früheres Leben aufnehmen. Ich lebte und unternahm viel mit Freunden. Mit ihnen ist es wie mit den Figuren meiner Bücher. Sie halten sich in Spanien oder sonst wo auf, und es ist schwer, sie wieder zu finden. Hier habe ich zwar auch neue Freundschaften gefunden, aber inzwischen haben wir ein anderes Alter erreicht. Also muss ich damit anfangen, meine Persönlichkeit neu zu erschaffen, sonst langweile ich mich zu sehr mit mir selber. Nein, ich möchte kein einfaches Leben. Ich finde einfach keinen Gefallen daran, wie die Leute zu sein, die immer sie selbst bleiben und stets das Gleiche denken. Ich brauche eine Entwicklung und kann mich nur ertragen, wenn ich nicht mit mir im Einklang bin. Ich kann heute das und morgen das Gegenteil davon sagen. Es ist nicht normal, immer nur das Gleiche zu denken.

    Zoé Valdés
    Café Cuba
    Amman, 320 S., EUR 21,90