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Gegenwartsklänge auf Tasteninstrumenten

Ungewöhnliche Musik für Tasteninstrumente ist gleich auf drei neu erschienenen CDs zu finden. Andreas Grau und Götz Schumacher spielen György Kurtags Version für zwei Klaviere einer Passionsmusik von Heinrich Schütz. Die Akkordeonistin Margit Kern interpretiert Werke der neuen Musik und Klavier-Kompositionen des Busoni-Schülers Stefan Wolpe können in einer neuen Aufnahme wiederentdeckt werden.

Von Frank Kämpfer | 18.12.2005
    Eine Stimme hebt an, bricht sehr schnell ab, setzt anderswo fort - bleibt fragmentarisch und sagt doch, was zu sagen ansteht. Die schlichten Akkorde, über die sich schmucklos und ergreifend zugleich Melodisches hebt, führen ins 17. Jahrhundert zurück. Kein Geringerer als Heinrich Schütz hat sie für eine kleine, höchst unweihnachtliche Passionsmusik - "Die sieben Worte unseres lieben Erlösers und Seligmachers Jesu Christi" - notiert. György Kurtag, geboren 1926 in Ungarn, hat selbige für Klavier zu vier Händen gesetzt und dabei unüberhörbar verdichtet. Sein Klaviersatz ist karg, puristisch, auf das Nötigste reduziert. Selbst bei den rezitativischen Phrasen - Christus-Worte symbolisierend - ist jeder Zierrat getilgt. Auf diese Art greift Transkription ein in die Dramaturgie: das Wichtigste gerät unvermittelt ins Zentrum und erscheint dabei als Fragment.

    Man darf davon ausgehen, dass Andreas Grau und Götz Schumacher von György Kurtag ausgiebig Unterweisung erhielten, wie diese Klagemusik pianistisch umzusetzen sei. Die im Funkhaus Berlin am Hans Rosenthal-Platz eingespielte Version wirkt vom geistigen Zugriff her streng, spannungsvoll, aber nicht ohne inneren Glanz - ein Wärmestrom lebt in ihr und sie macht neugierig auf all das, was nun kommt. Die Programme der beiden fast gleichaltrigen, aus Süddeutschland stammenden Pianisten sind berühmt für ihre Werk-Kombination. Sie koppeln Busoni mit Bach, Schubert und Ligeti, Strawinsky und Monteverdi.

    In diesem Fall ist es schwer auszumachen, welches der beiden Werke auf der jüngst beim Label col legno erschienenen CD die Überraschung ausmacht: Kurtags 9-minütige Schütz-Transkription, oder Messiaen’s dreiviertelstündiger früher Zyklus "Visions de l’Amen", der beinahe im selben Musizier-Gestus anhebt, in dem Schütz/Kurtag enden. Das siebensätzige Werk, das kurz nach Messiaen’s Flucht aus dem Konzentrationslager entstand, gestaltet und bündelt verschiedene Bedeutungen des liturgischen Funktionsworts und somit sehr grundsätzliche Aspekte christlicher Religion. Zum Beispiel den Schöpfungsakt, die Orgie des Werdens, das Sterben Jesu, die Engel und Heiligen, das Paradies und - hier weitaus weniger christlich - die Stimmen der Vögel. Ob seines musikalischen Reichtums und seiner weit ausgeschrittenen Klangwelt zählt der Zyklus zu den wichtigsten Klavierkompositionen der Moderne - Andreas Grau und Götz Schumacher realisieren ihn technisch brillant, bringen zugleich seine komplexe Botschaft zum Schwingen und erfüllen an ihren zwei Instrumenten jeweils einen unterschiedlichen Part. Hier Abschnitt Nr. 6 - "Das Amen der Apokalypse".

    * Musikbeispiel: Messiaen - aus: "Visions de l’Amen"

    Andreas Grau und Götz Schumacher vierhändig mit Messiaen’s Zyklus "Visions de l’Amen" - erschienen bei col legno.

    Die nächste CD ist als Debüt ein Aushängeschild. Sie dokumentiert das Spiel einer beeindruckenden, eigenwilligen, in Deutschland zweifellos zu wenig bekannten Akkordeonistin - und sie birgt ein handverlesenes Programm. Für Margit Kern, Jahrgang 1967, erfordert jedes einzelne Werk, das sie spielt, eine Sonderbehandlung - neben der analytischen setzt es auch intuitive Durchdringung voraus. Ein Werk, so ihr im CD-Booklet selbst formulierter Anspruch, wird hörbar erst in der Verschmelzung des eigenen Körpers mit dem Klang-Körper, dem Instrument. Ihre Darbietung gleicht einer Choreographie, die Innerstes und Äußerstes miteinander verbindet. Kern, die ihr Instrument an der Bremer Hochschule für Künste lehrt, vermittelt in ihren Konzerten so Neue Musik als mit allen Fasern durchlebte Aktion, die voller Botschaften ist.

    Wenngleich ihr die visuelle Ebene fehlt, so vermittelt dies auch die im Sendesaal von Radio Bremen produzierte und beim Label Edition Zeitklang soeben erschienene CD namens "Heart". Sieben im Laufe der der letzten 10 Jahre entstandene Werke kreisen hierauf um die Metapher des Herzens, die für Komponisten und Interpretin zugleich emotionale wie körperliche Aspekte enthält. Eckhardt Beinke’s "Bhi" und Bernfried Pröve’s "Herzstück" sind der Interpretin gewidmet, Jukka Tiensuu und Tapio Nevanlinna verweisen auf Kerns besonderen Finnland-Bezug. Insgesamt fordern die versammelte Titel von der Solistin spieltechnisch Alles und Margit Kern gelingt darüber hinaus, was Avantgardeliteratur auf CD fast immer fehlt: Musik - wie hier von Younghi Pagh-Paan - beginnt wie von selber zu sprechen, sie wird beredt, ihre Mitteilung drängt sich unweigerlich auf.

    * Musikbeispiel: Pagh-Paan - NE MA-UM

    Soweit ein Hineinhören in NE MA-UM (Mein Herz) von Younghi Pagh-Paan. Zeitgenössische Musik für Akkordeon, eingespielt mit der Bremer Solistin Margit Kern - soeben erschienen bei Edition Zeitklang.

    Die dritte und letzte CD für heute ist ein Baustein zu einer Wiederentdeckung. Sie enthält drei Klavier-Kompositionen des Busoni-Schülers Stefan Wolpe und wurde im Nachklang eines Konzerts zu dessen 100stem Geburtstag im Sommer 2002 im Sendesaal des Hessischen Rundfunks produziert.

    Wolpes Biographie und Werk wirken - bedingt durch Flucht und Exil - dreigeteilt. Aus der ersten, der 1933 jäh beendeten Berliner Phase stammt das erste Werk der CD. "March and Variations for two Pianos" ist ein knapp 19minütiges Opus, das die politischen Kollisionen Anfang der 30er Jahre desillusioniert, mit Trauer und Bitterkeit resümiert. Ein Arom proletarischer Kampfmusik kommt im Gestus Mahler’scher Sinfonik daher - die Tonart cis-moll löst sich auf in fortschreitender Atonalität - Joseph Christof und Steffen Schleiermacher verdeutlichen dies in einer sehr engagierten, lebendigen pianistischen Lesart.

    Ganz anders klingt Stefan Wolpe Anfang der 50er Jahre. Der Komponist, nunmehr Inspirator der Jazzszene New Yorks und Musikdirektor des Black Mountain College’s, schrieb 1953 mit "Enactments" eines seiner Schlüsselwerke. Der spät gefundene Titel beschreibt Struktur und Programm. Angeregt von Aktionskunst, entsteht ein fünfsätziges Werk, in dem sich drei Pianisten auf höchst komplexe Weise übrigens auch körperlich auszuagieren haben. Als Kenner und Protagonist der US-Avantgarde ist Wolpe auch inspiriert von den Experimenten in Darmstadt. Doch seine Vision ist nicht das Formulieren neuer unumstößlicher Regeln, sondern vielmehr ein ganzer Kosmos von Impulsen und Phänomenen, der zu einem kaum mehr spielbaren Gefüge einander überlagernder musikalischer Prozeduren gerät.

    Josef Christof, Benjamin Kobler und Irmela Roelcke haben es - dirigiert von James Avery - auf sich genommen, dieses pianistische Ungetüm einzuspielen.

    * Musikbeispiel: Stefan Wolpe - aus: "Enactments"

    Soweit ein Ausschnitt aus "Enactments" von Stefan Wolpe - als Weltersteinspielung enthalten auf einer CD des Schweizer Labels Hat Hut Records.

    Schütz/Kurtag: "Visions de l'Amen"
    Andreas Grau & Götz Schumacher, piano duet
    Label: col legno
    Labelcode: LC 00645
    Bestellnr.: WWE 1CD 20105

    "Heart"
    Margit Kern, Akkordeon
    Label: Edition Zeitklang
    Labelcode: LC 00581
    Bestellnr.: ez-22024

    Stefan Wolpe: "Enactments"
    Label: Hat Hut Records
    Labelcode: LC 6048
    Bestellnr.: hat(now)ART 161