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"Geh mit der Zeit, geh mit der SPD"

Unter dem Transparent "Geh mit der Zeit, geh mit der SPD" debattierte ein Parteitag der SPD vom 13. bis zum 15. November 1959 in Bad Godesberg über ein neues Grundsatzprogramm. Dieses markierte den Abschied der Sozialdemokratie von ihrer marxistischen Grundorientierung.

Von Wolfgang Stenke | 15.11.2009
    "Wir bekennen uns in unserem Programm zum Menschen, zu seiner Freiheit und zu seiner Würde. Und daraus ergibt sich für uns die doppelte Aufgabe, die Gesellschaft so zu ordnen, dass der Mensch in ihr in größtmöglicher Freiheit wirksam werden und gleichzeitig seine Freiheit vor Beschränkung und Bedrohung jeder Art schützen und sichern kann."

    Der Vorsitzende Erich Ollenhauer auf dem Godesberger Parteitag der SPD. 340 Delegierte kamen im November 1959 für drei Tage in der Stadthalle des linksrheinischen Badeortes zusammen, um der sozialdemokratischen Partei ein neues Grundsatzprogramm zu geben. Es sollte das Heidelberger Programm von 1925 ersetzen und Leitlinien für die künftige Arbeit vorgeben. Es ging darum "Ballast abzuwerfen", die Organisation für alle Schichten der Gesellschaft zu öffnen. Herbert Wehner, der stellvertretende Parteivorsitzende, der sich nach harten Emigrationsjahren in der Sowjetunion und in Schweden vom Kommunisten zum Sozialdemokraten gewandelte hatte, erklärte in Godesberg den "lieben Genossinnen und Genossen", marxistisches Denken bleibe zwar weiterhin unentbehrlich:

    "Ich wende mich aber gegen den Ausschließlichkeitsanspruch - und gegen den wende ich mich auch aus blutiger eigener Erfahrung. Weil ich der Meinung bin, dass der Marxismus als eine Doktrin weder parteibildend noch im Sinne dessen, was wir als soziale Demokratie und als demokratischen Sozialismus wollen müssen, fördernd sein kann, wenn er als eine Doktrin einer Partei als das Alleingültige aufgedrängt werden sollte."

    Mit der "unnachgiebigen Opposition", die der Vorsitzende Kurt Schumacher gegen Adenauers Politik der Westbindung und der "sozialen Marktwirtschaft" betrieben hatte, war die SPD gescheitert. Unter seinem Nachfolger Erich Ollenhauer erlitt sie gegen das bürgerliche Lager aus CDU/CSU und FDP eine Niederlage nach der anderen. Ollenhauer zog daraus die Konsequenz, die "Traditionskompanie" SPD müsse sich von der Arbeiterpartei klassischen Typs zur Volkspartei wandeln. Viele der alten Genossen schreckten davor zurück, doch Ollenhauer, selbst eher Traditionalist, stützte Reformer wie Fritz Erler, Herbert Wehner, Helmut Schmidt und Willy Brandt.

    "Es ist eine im Wesentlichen zeitgemäße Aussage, die es unseren Gegnern schwerer machen wird, sich mit einem Zerrbild statt mit der Wirklichkeit der deutschen Sozialdemokratie auseinanderzusetzen."

    Sozialdemokratische Politik sollte fortan ebenso mit der Ethik von Immanuel Kant wie mit dem Geist der christlichen Bergpredigt begründet werden können. Herbert Wehner:

    "Jeder hat für die Behauptung seiner geistigen Persönlichkeit und für die Verkündung seiner Motive das gleiche Recht in der Partei. Bei diesem Programm geht es darum, dies auch im Programm sichtbar werden und Wirklichkeit werden zu lassen."

    Mit dem Godesberger Programm und einer kurz vorher durchgeführten Organisationsreform wurde die Modernisierung der SPD angestoßen. In den 60er-Jahren fing die Partei an, die Rathäuser zu erobern, auch auf Länderebene legte sie kontinuierlich zu. Journalisten sprachen damals gerne vom "Genossen Trend", der die Sozialdemokraten in der Großen Koalition von 1966 erstmals zur Beteiligung an einer bundesdeutschen Regierung führte. Diese neue SPD und ihre besten Jahre verkörperte Willy Brandt, erst Kanzlerkandidat, dann Bundesaußenminister und schließlich 1969 Chef der sozialliberalen Koalitionsregierung mit der FDP.

    Das Godesberger Programm der SPD blieb bis 1989 in Kraft - gerne zitiert in Feiertagsreden über den "demokratischen Sozialismus", aber weitgehend folgenlos für die Kleinarbeit des politischen Alltags. Ein Schicksal, das dieses Papier mit den Programmen anderer Parteien teilt. Den Wandel der SPD zur Volkspartei markiert es immerhin. Doch dieses Modell aus den Tagen der alten Bundesrepublik ist angesichts des Fünfparteiensystems mit Grünen und Linkspartei zum Auslaufmodell geworden.