Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Geheimdienstaffäre
"Ein Skandal ohnegleichen"

Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele findet das Ausspähen mittels NSA-Selektorenlisten skandalös. Im Deutschlandfunk sprach Ströbele von einem "Abgrund von Rechtsverletzungen", weil auf der Spionageliste offenbar auch Regierungen von EU-Ländern sowie deutsche Unternehmen standen. Der Bundestagsabgeordnete glaubt nicht daran, dass Geheimdienstarbeit verfassungskonform zu regeln ist.

Hans-Christian Ströbele im Gespräch mit Peter Kapern | 30.10.2015
    Der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Hans-Christian Ströbele
    Der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Hans-Christian Ströbele (picture alliance / dpa/ Soeren Stache)
    Peter Kapern: Kurt Graulich war Richter am Bundesverwaltungsgericht, er war Professor für Rechtswissenschaften und Buchautor, bis es ihn mitten hinein in die Politik katapultierte. Er ist der Mann, der im Auftrag der Bundesregierung in hoch geheime Akten der Nachrichtendienste schaut, um anschließend dem Parlament und der deutschen Öffentlichkeit zu berichten, was er entdeckt hat, ohne allerdings die Geheimnisse zu enthüllen - ein schwieriger Job. Erst recht, wenn man weiß, worum es genau geht. Die Kollegen von der NSA haben dem Bundesnachrichtendienst jahrelang Tausende Suchbegriffe, sogenannte Selektoren, geliefert, die die deutschen Schlapphüte im Auftrag der Amerikaner in ihre Computerprogramme zur Kommunikationsüberwachung einspeisen sollten. Was oder genauer wen wollten die US-Geheimdienstler da ausspionieren lassen? Das wollte die Opposition im Bundestag herausfinden, ohne jedoch selbst in die Selektorenliste Einblick nehmen zu dürfen. Das hat dann Kurt Graulich getan. Nächste Woche wird er seinen Bericht vorlegen. Ein Teil davon ist aber schon ausspioniert worden. Bei uns am Telefon ist Hans-Christian Ströbele von den Grünen. Guten Tag, Herr Ströbele.
    Hans-Christian Ströbele: Ja, guten Tag!
    Kapern: Herr Ströbele, zwei Zahlen: 39.000 sogenannte Selektoren hat die NSA dem BND da rübergeschoben innerhalb von zehn Jahren. Die allermeisten davon sind vom BND aussortiert und abgelehnt worden. Was heißt das nun? War der Skandal groß oder war er klein?
    Ströbele: Insgesamt ist das ein Abgrund von Rechtsverletzungen, Grundrechtsverletzungen, in den der Sonderermittler des Kanzleramts jetzt gesehen hat. Wir sind da ja schon länger mit beschäftigt, und er hat ja nur einen kleinen Teilaspekt beobachtet. Er hat diese knapp 40.000 Selektoren offenbar durchgesehen, die uns vorenthalten werden, und kommt ja selbst offensichtlich auch zu einem vernichtenden Ergebnis. Ich habe den Bericht hier vor mir auf den Knien liegen. 262 Seiten sind das in dem sogenannten allgemeinen Teil, also öffentlich wahrscheinlich auch zugänglichen Teil irgendwann mal, und dann gibt es ja noch den geheimen Teil, den wir nur in der Geheimschutzstelle sehen dürfen, wo wir uns auch keine Notizen machen dürfen. Den konnte ich noch nicht einsehen, weil der erst seit heute Morgen dort verfügbar ist, und nun ist der Andrang wahrscheinlich groß dahin.
    Das Schlimme ist ja an der Geschichte, dass das nur, wenn er auch sehr qualifiziert ist, ein Sonderermittler des Kanzleramtes ist und dass dem deutschen Parlament, den dafür gewählten Abgeordneten, bisher die Einsicht fehlt. Das haben wir eingeklagt und das wollen wir mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts erreichen.
    Kapern: Und das, obwohl Sie Herrn Graulich für seriös und sehr sorgfältig in seiner Arbeit halten?
    Ströbele: Ja. Sie müssen ja sehen: Der hat ja nur einen Teilaspekt beurteilen können, nur diese Selektoren. Der Komplex insgesamt ist ja viel umfangreicher. Zum Beispiel interessiert uns seit neuestem ja jetzt auch die Frage: Hat der Bundesnachrichtendienst Ähnliches gemacht? Hat er auch Selektoren eingestellt in die Datenströme, etwa Telefonnummern, E-Mail-Adressen und Ähnliches, die gegen europäische Interessen verstoßen, die gegen das Grundgesetz verstoßen?
    Kapern: Hat er das getan?
    Ströbele: Das sind wir gerade am Prüfen. Aber man kann schlechterdings die Praxis der NSA nicht beurteilen, ohne das zu wissen, weil wenn die NSA davon ausgegangen ist, die Deutschen machen das auch, dann ist das zum Beispiel in einem ganz anderen Licht zu sehen, als wenn die NSA sich hier ein Sonderrecht rausgenommen hätte oder ein Sonderunrecht.
    "Eindeutig rechts- und verfassungswidrig"
    Kapern: Wir haben gerade noch mal das Zitat von der stellvertretenden Regierungssprecherin Christiane Wirtz gehört, die gesagt hat, es gibt keine Hinweise darauf, auf eine massenhafte Ausspähung hier in Deutschland. Jetzt stellen wir fest, dass 16 Prozent der von der NSA rübergereichten Selektoren sich durchaus gegen Deutsche oder Ziele in Deutschland richteten und der BND dabei offenbar jedenfalls bei einem Teil dieser 16 Prozent seine Hand gereicht hat. Was heißt das?
    Ströbele: Das war ganz eindeutig rechts- und verfassungswidrig nach deutschem Recht. Und die NSA hatte sich verpflichtet, der Bundesnachrichtendienst ist ohnehin verpflichtet, deutsches Recht und deutsche Verfassung zu wahren. Das ist schriftlich niedergelegt worden. Das steht in diesem Memorandum, das Sie auch bereits in der Sendung erwähnt haben. Und das zeigt, dass die das überhaupt nicht interessiert, was in Deutschland die Rechtslage ist.
    Kapern: Die NSA interessiert das nicht?
    Ströbele: Die NSA. Und die Frage ist, inwieweit hat das den Bundesnachrichtendienst interessiert und warum hat der Bundesnachrichtendienst, nachdem er darauf gestoßen ist, welche Begehrlichkeiten die NSA weit über Gesetz und Recht in Deutschland hinaus dort ausübt, warum hat er nicht Alarm geschlagen? Warum ist er nicht zur NSA hingegangen und hat gesagt, seid ihr wohl verrückt geworden? Und warum hat er den Deutschen Bundestag nicht informiert? Warum hat er die zuständigen parlamentarischen Gremien nicht informiert? Das ist doch ein Skandal ohnegleichen. Und Sie müssen sehen: In Europa schwindet das Vertrauen in deutsche Datensicherheit.
    Kapern: Herr Ströbele, jetzt haben Sie gerade eine ganze Reihe von Fragen formuliert mit Blick auf das Verhalten des BND. Der hat also Selektoren untergeschoben gekriegt von der NSA gegen Ziele in Deutschland. Das ist verfassungs- und rechtswidrig. Gleichwohl hat der BND nur einen Teil dieser Selektoren gestrichen und zurückgewiesen, und Sie wollen wissen, warum der BND nicht Alarm geschlagen hat. Nun ist es ja üblicherweise in Interviews so, dass die, die wir befragen, die Antworten, nicht die Fragen liefern sollen. Also was meinen Sie, was dahinter steckt?
    Ströbele: Das ist ja unser Riesenproblem. Wir stehen vor einem unverantwortlichen Spiel von Tricksen und Täuschen. Uns werden wichtige Beweismittel, wichtige Akten und hier gerade auch die Kenntnis der Selektoren vorbehalten, obwohl das Grundgesetz, nicht irgendein Gesetz, sondern das Grundgesetz anordnet, dass dem Untersuchungsausschuss alle notwendigen Akten und Informationen durch die Bundesregierung zur Verfügung gestellt werden müssen. Diese Akten, die jetzt der Sachverständige des Kanzleramtes durchgesehen hat, die lagern im Kanzleramt. Warum dürfen wir da nicht hingehen und uns die angucken? Das versteht keiner! Ich komme gerade aus Washington; auch dort versteht das keiner. Das US-Parlament würde sich das niemals gefallen lassen.
    "Geheimdienste haben ein Eigenleben"
    Kapern: Aber noch mal nachgefragt, Herr Ströbele. Was glauben Sie, was treibt den BND zu einem solchen Tun? Ist das Ahnungslosigkeit? Es hat ja mal einen Bundesinnenminister gegeben, der hat gesagt, man kann nicht immer mit dem Grundgesetz unterm Arm herumrennen. Oder hatten Die da eigene Interessen? Hatten die die Hoffnung, dabei etwas herauszufinden, was sie eigentlich auf anderem Wege gar nicht herausfinden dürfen? Oder was könnte da eine Rolle gespielt haben?
    Ströbele: Geheimdienste haben ein Eigenleben und die handeln nach eigenen Gesetzen und stehen, wie wir hier sehen, außerhalb der geltenden Rechte und sogar des Grundgesetzes, und das darf nicht sein in einer parlamentarischen Demokratie, die dem Grundgesetz, der Verfassung verpflichtet ist, und dem müssen wir einen Riegel vorschieben und wir werden das auch versuchen. Wir müssen dafür natürlich alle Informationen bekommen. Wir haben viel, aber wir haben lange nicht alles, und dieser Bericht, der jetzt da ist, unterstützt ja unsere bisherigen Befürchtungen und unsere bisherigen Befunde in einem ganz kleinen Bereich. Das ist was, aber das kann natürlich niemals das ersetzen, dass das Parlament selber und auch die Öffentlichkeit, auch Sie, die Medien die Sachen auf den Tisch bekommen, und dafür müssen wir jetzt gemeinsam sorgen, weil der Skandal ist grenzenlos.
    Kapern: Nun schauen Sie ja Verfassungsschützern und Geheimdiensten schon lange als Politiker auf die Finger. Verfassungskonforme Geheimdienstarbeit, ist das ein Contradictio in adiecto, ein Widerspruch in sich, oder ist so was zu regeln?
    Ströbele: Das ist offenbar nicht zu regeln, vor allen Dingen, wenn man belogen wird. Ich habe gerade in der Untersuchung dieser Monsterafäre immer wieder festgestellt, dass mir als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums entweder gar nichts gesagt worden ist, was man hätte berichten müssen. Das ist alles das, was jetzt auch der Sachverständige aufgezeigt hat. Und weit darüber hinaus wurde sogar in einzelnen Fällen das Gegenteil behauptet. Was soll ich machen, wenn ich darauf angewiesen bin, dass die Bundesregierung, die Dienste mir die Wahrheit erzählen, wenn wir nachfragen? Und wenn das nicht die Wahrheit ist, dann kann man nur Konsequenzen fordern und muss sagen, die Leute, die das bisher gehandelt haben, die dürfen das nicht weitermachen in Zukunft.
    Kapern: ... fordert Hans-Christian Ströbele von den Grünen. Herr Ströbele, danke, dass Sie heute Mittag Zeit für uns hatten. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Tschüss!
    Ströbele: Ja, auf Wiedersehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.