Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Geheimdienste
Abhörprotokolle als Quelle der Literaturwissenschaft

Die Geheimdienste in Osteuropa überwachten zur Zeit des Kalten Krieges auch Künstler. Die Abhörprotokolle geben einen Einblick in die Mentalitäten der Schriftsteller jener Zeit, wie jetzt eine internationale Konferenz in Berlin zeigte. Aber Vorsicht ist geboten, denn vieles ist manipuliert und unvollständig.

Von Maximilian Grosser | 01.05.2015
    Aktenschränke in einem Gebäude des früheren Archivs der DDR-Staatssicherheit, aufgenommen am 13.07.2012 in Berlin.
    Aktenschränke in einem Gebäude des früheren Archivs der DDR-Staatssicherheit. (picture-alliance / dpa / Soeren Stache)
    In das Hauptquartier des rumänischen Schriftstellerverbands konnte die 'Securitate' wie in ein Aquarium hineinblicken. Kaum ein Büro hatte der rumänische Geheimdienst nicht verwanzt und protokollierte alle Treffen, Gespräche und Telefonate. Schon seit knapp zehn Jahre wühlt sich der rumänische Politikwissenschaftler, Dissident und Bürgerrechtler Gabriel Andreescu deshalb durch die 25 Kilometer Securitate-Akten - ein Schatz für Historiker und Literaturwissenschaftler.
    "Die Securitate konnte mithören, wie der Nationalrat des Schriftstellerverbands seine Politik geplant hat. Die interessantesten Aufnahmen stammen zum Beispiel von wichtigen Autoren, die sich über Protestbriefe ausgetauscht haben. Das sind wichtige Momente, weil sich die Autoren sehr frei äußerten. Das ist interessant für die Mentalitäten und Psychologien der Schriftsteller dieser Zeit."
    Sind die Geheimdienstakten ein Literaturarchiv der besonderen Art? Nur bedingt, antwortete der rumänische Publizist Gabriel Andreescu auf der Berliner Konferenz "Aus den Giftschränken des Kommunismus". Viele Geheimdienstakten über Schriftsteller und Dissidenten sind manipuliert oder unvollständig. Und oft fehlen gerade die wichtigsten Schlüsseldateien, beklagt der Budapester Historiker Krisztián Ungváry über die Aktenlage in Ungarn.
    "Wenn man das jetzt nur nach Seitenzahlen betrachtet, dann sind sehr viele Akten zugänglich, das sind über 400 laufende Aktenmeter. Es geht nicht um die Quantitäten. Es geht eben darum, dass zwar seitenmäßig nicht so viel, aber gerade das wichtigste nicht vorhanden ist wie zum Beispiel die Vereinbarungen zwischen KGB und den ungarischen Sicherheitsdiensten. Das sind meinetwegen nur 50 Seiten."
    Das wären aber die wichtigsten für Ungvari, weil sie viel über das Funktionieren des ungarischen Geheimdienstes verraten könnten. Und das gilt auch für andere Geheimdienstarchive. Denn das gesammelte Material ist ein anderes als das normaler Literaturarchive - Verhöre, Spitzelberichte, abgefangene Briefe oder abgehörte Telefonate, Protokolle von Führungsoffizieren liefern unautorisierte Biografien, die mit polizeilicher, nicht literaturwissenschaftlicher Akribie geschrieben wurden. Diese 'düsteren Literarturarchive' sind dennoch ein Glücksfall, sagt Hubertus Knabe, Direktor der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen - auch, weil die Akten die Abgründe von Diktaturen offen legen.
    Eine Geschichte, als Filmstoff geeignet
    "Persönlich hat mich am meisten betroffen die Geschichte von Hans-Joachim Schädlich, dem Schriftsteller, der ausgeschlossen worden ist aus dem Schriftstellerverband der DDR - und der von seinem eigenen Bruder bespitzelt worden ist. Hans-Joachim Schädlich hat mir mal gesagt, von einem Ehemann - auch das hat es gegeben, der Ehemann der spitzelt - kann man sich scheiden lassen, von einem Bruder aber nicht."
    Eine Geschichte, die sich für Hubertus Knabe als Filmstoff eignet. Auch in anderen Ländern, wie etwa in Ungarn, wurde viel zur Literatur- und Kunstszene hinter dem Eisernen Vorhang in den Geheimdienstarchiven geforscht. Nur anhand von ungarischen Stasi-Akten konnte so etwa die Happening-Kunst im Budapest der Sechzigerjahre erzählt werden, über die es nirgends anders so umfangreiche Dokumente gibt. Die meisten Geheimdienstakten der kommunistischen Ära Ungarns sind allerdings noch verschlossen. Das ist nicht das einzige Problem für den Historiker Krisztián Ungváry, das die Aufklärung über ehemalige Stasi-Spitzel in der Literaturszene behindert.
    "Es gibt ein noch viel größeres Hindernis. Nämlich die Gesetzlage, die in Ungarn heute so ist, das praktisch niemand bei Namen genannt werden kann, selbst wenn die Nachweise völlig offenkundig sind. Selbst dann ist es ein Risiko, über jemanden zu schreiben, er sei inoffizieller Mitarbeiter der Staatsicherheit gewesen. Denn nach der ungarischen Praxis gewinnen alle inoffiziellen Mitarbeiter die Prozesse."
    Doch wer in den Geheimdienstarchiven kommunistischer Regime forscht, braucht mehr als nur klare Gesetze – so ein Fazit der Berliner Konferenz. Denn die Geheimdienstakten haben ihre ganz eigene, ideologisch gefärbte Sprache und gleichzeitig viele Leerstellen. Um ihren Wahrheitsgehalt zu entschlüsseln brauchen Forscher viel archäologisches Gespür für die 'düsteren Literaturarchive' der Geheimdienste.