Mittwoch, 24. April 2024

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Britisches Kollektiv Sault
Langlebiges für die (politische) Seele

Die Band Sault aus London lieferte 2020 mit aktuellem R'n'B, House und 60/70er-Sounds den inoffiziellen Soundtrack zur Black Lives Matter-Bewegung. Ihr neues Album "Nine" steht für 99 Tage gratis im Internet, zeigt düstere Realitäten der Londoner Jugend und ist zugleich kein schnelles Konsum-Produkt, sondern langlebige Kunst für die Seele.

Von Linda Kühl | 04.07.2021
    Menschen bei einer Kundgebung von Black Lives Matter in Washington D.C. An einem Stand verteilt ein Mann mit "Stay Woke"-T-Shirt Flyer.
    Menschen bei einer Kundgebung von Black Lives Matter in Washington D.C. (imago-images / ZUMA Wire / Amy Katz)
    In welche Schublade passt Sault? Die britische Band aus Produzent Inflo, Sängerin Cleo Sol und ihren Gastmusikerinnen und Musikern inszeniert einen genrefluiden Mix: Zwischen Soul, Gospel, Disco, Psychedelic Rock, Funk und modernen Beats groovt es gewaltig. Musikalische Referenzen aus den 60ern und 70ern wirken vertraut – und dennoch bewegt sich Sault in der Gegenwart. Die Band ist ein Mysterium: Gut 52.000 Follower durften bei Instagram bislang 60 mehr oder weniger kryptische Posts lesen. Klar wird: Es geht bei Sault nicht ums Personal, sondern um Musik.
    Musik: "London Gangs"

    Inoffizieller Soundtrack zu BLM

    "London Gangs": ein Uptempo Song der musikalisch an die punkige Rotzigkeit ihrer ebenfalls britischen Kollegen von The Prodigy erinnert, beschreibt das Leben in einer Straßen-Gang. Mit ihrem mittlerweile fünften Album "Nine" holen Sault ihre Hörerinnen und Hörer genau dort ab, wo sie sie nach ihren letzten beiden Alben zurückgelassen haben. Die Vorgänger "Untitled (Black Is)" und "Untitled (Rise)" waren direkte Antworten auf den Mord an George Floyd und an ein durch Rassismus zerfressenes System. Ohnmacht, Wut, Schmerz, aber auch ein Zusammenschluss der internationalen Black Community und Alliierter jeglicher Hautfarbe. Diese Achterbahnfahrt von Gefühlen machten die beiden "Untitled"- Alben letztes Jahr zum inoffiziellen Soundtrack der Black Lives Matter- Bewegung. Auf "Nine" stellt Sault das Brennglas etwas schärfer und blickt auf Londoner Realitäten:
    Jugendliche zwischen alltäglichem Rassismus, Polizeigewalt, rivalisierenden Gangs und Drogen. Eine traurige Lebensrealität in der "Trap", der Falle, aus der sie nicht entfliehen können, zu hören im Song "Trap Life".
    Musik: "Trap Life"
    Die repetitiven Vokal-Phrasen deuten auf einen sich ständig wiederholenden Kreislauf in der "Trap" hin, der nicht zu durchbrechen scheint. Musikalisch findet man sich auf "Trap Life" mit den groovenden Drums und Percussions, seiner funky Bassline und dem mehrstimmigen Shout-Gesängen irgendwo zwischen dem Funk König James Brown, der Afrobeat Legende Fela Kuti und dem aktivistischen schwarzen Musiker Gil-Scott Heron wieder. Doch es ist eben nicht nur gemütlich: Im letzten Drittel mündet der Song plötzlich in einem harten elektronischen Beat. Gerade noch seliger 60er-Soul und jetzt harter britischer Grime Rap. Wer einmal in der "Trap" ist, wird Teil von hier, identifiziert sich vielleicht sogar damit.
    Musik: "Bitter Streets"

    Unterprivilegierte Hoffnungslosigkeit

    Der sprechende Titel "Bitter Streets": leichte Drums, träumerische Basslinie, fast mellotron-artige Hintergrund Chöre zur Leadstimme von Cleo Sol. Besser, schöner und zugleich ambivalenter ist die unterprivilegierte Hoffnungslosigkeit der Jugendlichen auf eine bessere Zukunft derzeit kaum vertonbar. Die süßlichen Streichinstrumente ab der Songmitte sind wiederkehrendes Stilmittel bei Sault und erinnern an legendäre Quincy Jones-Sounds, opulent und mit leichtem Hang zum Kitsch.
    Musik: "Nine"
    Mit dem Song "Nine" verabschiedet sich Sault endgültig von dem dunklen Teil der Erzählung und leitet eine positive, lebensbejahende Wendung ein. Die psychedelischen Beatles treffen auf Songwriting und den Stil von etwa Lianne La Havas: Singend plädiert Cleo Sol für den Traum von einer besseren Zukunft. Der Phaser-Effekt auf ihrer Stimme schafft zugleich Sphäre und Eindringlichkeit.

    Kein Produkt für schnellen Konsum

    "Nine" erscheint wie seine Vorgänger auch schon auf dem eigens gegründeten Label "Forever Living Originals" und mit einem ungewöhnlichem PR-Konzept: Das Album wird auf den gängigen Streaming Plattformen, zum gratis Download auf der eigenen Homepage und dem Erwerb auf Vinyl für lediglich 99 Tage seit dem 25. Juni bis zum 2. Oktober 2021 verfügbar sein. Damit stellt sich Sault der Idee ständiger Verfügbarkeit von Musik in der Streaming-Welt entgegen und zeigt einmal mehr, dass ihr Werk kein Produkt für schnellen Konsum, sondern langlebige Kunst für die Seele ist.