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Geheimnis der Regelmäßigkeit

Physiologie. - Dass Blätter und Blüten absolut regelmäßig um einen Pflanzenstengel herum angeordnet sind, fasziniert Philosophen, Dichter und Wissenschaftler seit dem Altertum. Was die Sache für einen tieferen Sinn haben könnte, war auch schon lange plausibel: das Sonnenlicht wird so optimal ausgenutzt. Nur was eigentlich in der Pflanze genau passiert, damit es an einer ganz bestimmten Stelle zu einem neuen Blatt kommt, das war bislang noch reichlich unklar. Ein internationales Forscherteam hat in der aktuellen Ausgabe von "Nature" ein neues Modell der "Phyllotaxis", der Pflanzenarchitektur vorgestellt.

Michael Gessat | 20.11.2003
    Was hat eine Sonnenblume oder ein Kaktus mit einem Mathematiker aus dem Mittelalter zu tun? Eine ganze Menge, denn Leonardo Pisano, genannt Fibonacci, brachte nicht nur das arabische Zahlensystem und die dazugehörige Algebra nach Europa. Er stieß auch auf eine merkwürdige Zahlenreihe, bei der jede Folgezahl durch Summieren der beiden jeweils vorangegangenen erhalten wird. In der Reihe steckt Zahlenmagie: Der Quotient zweier aufeinanderfolgender Fibonacci-Zahlen ergibt das aus der Architektur und Kunst berühmte "ideale" Teilungsverhältnis, den "goldenen Schnitt".

    In einem Kreis entspricht dieser "goldene Schnitt" einem Winkel von 137,5 Grad. Und das ist genau die in der Natur häufigste Anordnung von Blättern und Blüten um einen Pflanzenstengel. Didier Reinhardt vom Institut für Pflanzenwissenschaften der Universität Bern:

    Bei spiraligen Systemen, da wird immer dieser Winkel von 137 Grad eingehalten zwischen aufeinanderfolgenden Blättern. Und man hat festgestellt, dass die ganze Geometrie solcher Systeme, die man in einem Kaktus oder in einem Steinbrech sehen kann, genau der Gesetzmäßigkeit der Fibonacci-Reihe entspricht. Und das hat natürlich die Mathematiker stimuliert, diese Gesetzmäßigkeit zu studieren...

    ...und in Computerprogrammen mit völlig der Natur entsprechenden Ergebnissen zu simulieren. Schon recht früh hatte man nämlich eine Hypothese aufgestellt, wie die ganze schöne Ordnung zustande kommen könnte: Offensichtlich halten die einzelnen Bauelemente einen genau definierten Mindestabstand zu ihren gleichartigen Nachbarn ein. Es gibt also einen Faktor, der die Organbildung hervorruft, einen Aktivator; und einen anderen Faktor, der das Wachstum des nächsten Organs an der gleichen Stelle verhindert, es erst in einiger Entfernung zulässt -ein Inhibitor.

    Reinhardt und seine Kollegen beschäftigen sich schon seit geraumer Zeit mit einem ganz besonderen Stoff, dem Pflanzenwachstumshormon Auxin. Eine asymmetrische Verteilung von Auxin im Schaft der Sonnenblume sorgt zum Beispiel dafür, dass sich die Pflanze dem Licht zuneigt: Die der Sonne abgewandte Seite wächst schneller. Und Auxin gibt, das hatten die Forscher in einer früheren Studie dargelegt, den Impuls, ein neues Blatt oder eine neue Blüte entstehen zu lassen. Reinhardt:

    Nachdem wir festgestellt hatten , dass es eben dieses Hormon Auxin ist, das die Blattbildung stimuliert, war die nächste Frage, gibt es noch einen Zusatzstoff, der auch die Blattbildung inhibiert und dann für diese Musterbildung verantwortlich ist oder könnte es sein, dass es nur das Auxin allein schon ist, dessen Verteilung die Blattbildung festlegt. Und unsere Theorie war jetzt: Könnte es sein, dass die bestehenden Blätter ihre inhibitorische Wirkung ausüben, indem sie das Auxin absorbieren aus der Nähe?

    Auxin wandert nicht einfach etwa mit dem Wasserkreislauf durch die Pflanze. Es wird von spezifischen Molekülen gleichsam huckepack genommen, die das Hormon in die Zelle einschleusen und dann auch wieder ausschleusen, es von Zelle zu Zelle in eine ganz bestimmte Richtung transportieren. Um der dynamischen Verteilung von Auxin auf die Spur zu kommen, nahmen die Wissenschaftler also ein solches Transportvehikel, das Protein PIN1 unter die Lupe.

    Bei mutierten Pflanzen, bei denen dieser Transportmechanismus per PIN1 defekt ist, gerät auch die Blattbildung in Unordnung: Die Ausbildung der regelmäßigen Strukturen, so fasst Didier Reinhardt das Ergebnis zusammen, beruht auf einer positiven Rückkopplung zwischen Auxin und PIN1:

    Wir haben gesehen, dass Auxin selber diesen Transporter stimuliert. Also da wo ein Blatt ist, das durch Auxin induziert wurde, da wird auch der Transporter aktiviert und die Richtung des Auxintransports weist dahin, wo schon Auxin ist.

    Das akkumulierte Auxin an einem existierenden Blattansatz sorgt für einen Auxinmangel in der unmittelbaren Umgebung. Ein neues Blatt kann also erst wieder in gebührendem Abstand entstehen: im einfachsten Fall genau gegenüber im Winkel von 180 Grad. Die Spiralstrukturen mit ihren "goldenen" Winkeln ergeben sich hingegen dann, wenn die Auxinverteilung nicht nur das nächste, sondern auch noch das übernächste Blatt beeinflusst. Welche Struktur letztlich ausgebildet wird, das hängt vor allem von dem zeitlichen Ineinandergreifen der ablaufenden Einzelschritte ab: Dynamische Prozesse, die noch weitgehend unerforscht sind. Didier Reinhardt und seine Kollegen werden Fibonacci weiter auf der Spur bleiben.