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Geheimnisse der männlichen Seele

Selbstenthüllungsprosa verkauft sich bestens - vor allem, wenn Prominente ihre Feuchtgebiete bloßstellen. Der Pariser Wissenschaftsjournalist Grégoire Bouillier war nicht prominent, als er begann, von sich selbst zu erzählen. Dafür versteht er Einiges von Literatur. Internationale Beachtung, vor allem in den USA, fand er mit seinem zweiten Buch "Der Überraschungsgast".

Rezensiert von Christoph Vormweg | 17.04.2009
    Grégoire Bouillier schreibt über Grégoire Bouillier. "Bericht über mich" hieß der programmatische Titel seines Erstlings, in dem er seine ersten 40 Lebensjahre Revue passieren ließ. In seinem zweiten Buch "Der Überraschungsgast" fixiert er eine Episode aus diesen 40 Jahren: das Jammertal des Verlassenen im finalen Stadium, kurz vor seiner Überwindung. Kommentarlos hatte ihn seine Ex-Geliebte vor Jahren sitzen gelassen. Jetzt ruft sie plötzlich an. Doch nicht um die Aussprache nachzuholen. Nein, Grégoire Bouillier soll bei der berühmten Künstlerin Sophie Calle auf der Geburtsfeier den traditionellen Überraschungsgast mimen.

    "Es gibt jemanden in mir, der diesen armen Grégoire Bouillier dabei beobachtet, wie er sich durch sein Leben schlägt: Ich nenne ihn den Schriftsteller. Wenn er zu schreiben beginnt, befindet er sich zwangsläufig in der Position des Zuschauers. Er guckt dem anderen beim Leben zu, beim Handeln, [...] besichtigt das Desaster seiner Existenz. Und manchmal höre ich ihn schon sagen: 'Los jetzt, Grégoire, mach schon, ich werde hinterher auch einen Text daraus machen! Leg los!' Ich beziehe dann die Prügel, und er beschreibt die Scherereien: Das ist manchmal ungerecht."

    Für den Leser ist dieser Zwiespalt von handelndem und schreibendem Ich äußerst amüsant. In locker aufgefächerten Langsätzen rekapituliert Grégoire Bouillier das Hin und her im sich erinnernden Hirn, die Stadien des mehrjährigen Vereinsamungsrausches, das Pendeln zwischen Hassausbrüchen und Selbstanklagen. Und natürlich keimt heimlich die Hoffnung, dass das Wiedersehen auf der Geburtstagsfeier endlich Klarheit in die eigene Existenz zurückbringen könnte. Das einst tragisch Empfundene wandelt sich dabei im Rückblick oft ins Tragikomische.

    Ich, der ich Rollkragenunterziehpullover immer verabscheut hatte, ebenso wie Männer, die Rollkragenunterziehpullover tragen – für mich die abscheulichste Sorte Mann, die es gibt, die pseudoschneidigste und wendehalsigste, wie man so sagt -, ich hatte also, nachdem sie mich verlassen hatte, angefangen, Rollkragenunterziehpullover zu tragen, scheußliche Rollkragenunterziehpullover, die ich so gut wie gar nicht mehr ablegte, wahrscheinlich weil ich mich so in der Illusion wiegte, dass mich dadurch nichts und niemand je wieder ablegen könnte, jedenfalls hatten sie Einzug in mein Leben gehalten, ohne dass ich es bemerkt hatte, und danach war es zu spät gewesen, das Verhängnis der Rollkragenunterziehpullover hatte sich meines Lebens bemächtigt, ja, es war über mich hereingebrochen und hatte mich nie wieder jenes Gefühl des Windes an meinem Hals verspüren lassen, das untrennbar mit dem der Freiheit verbunden ist.

    "Der Überraschungsgast" ist ein selbstironisches, mit den verkappten männlichen Eitelkeiten und Melancholien spielendes Buch. Wunderbar verzögernd erzählt Grégoire Bouillier den Weg zum Showdown mit der fremd gewordenen Ex-Geliebten. Er gipfelt in dem Moment, wo das Gebilde der gesammelten Wahnvorstellungen mit der Banalität der Geburtstagsfeier kurzgeschlossen wird. Was jahrelang als Kern des eigenen Daseins umkreist wurde, zerbröselt in Höchstgeschwindigkeit zu Nichtigkeiten und Höflichkeitsfloskeln.

    "Ich glaube, Literatur hat ihren Ursprung in der Erfahrung, in dem, was wir erleben, dem tatsächlich Empfundenen. Mit Worten wird es rekonstruiert. Eigenartig ist dabei nur, dass auch die Wirklichkeit mit Fiktionen durchsetzt ist - vor allem aus unseren Lektüren. So entsteht eine Art Kreislauf, der dazu führt, dass die Realität nicht genau das ist, was wir dafür halten. Sie ist ihrerseits auch eine Fiktion. Und meine Arbeit als Schriftsteller besteht darin, die Realität wie eine Fiktion wahrzunehmen. Das amüsiert mich am meisten."

    Grégoire Bouilliers soghafte Ego-Prosa erzählt aber nicht nur vom Scheitern einer Liebe. Sie nimmt auch das Dauerfeuer der Medien-Fiktionen und die Abnutzungserscheinungen der Alltagssprache aufs Korn. Penetrant ist seine Zeitkritik aber nie, eher beiläufig. Zu guter Letzt liefert dann die Literatur – wenn schon nicht den Sinn – so doch eine mögliche Deutung.

    "Alles, was ich erzähle, hat so stattgefunden. Die Erkenntnis, dass die weibliche Hauptperson unter dem Einfluss von Virginia Woolf gestanden haben könnte, habe ich wirklich am Abend meiner Rückkehr von dieser Feier gemacht. Ich habe das so beschrieben, wie ich es erlebt habe. Ich glaube, es gibt eine imaginäre Komponente in unserer Existenz."

    Auslöser der Vermutung war ein Satz der Ex-Geliebten über die Geburtstagsrosen, der aus Virginia Woolfs Roman "Mrs Dalloway" stammt, ihrem einstigen Lieblingsbuch. Daraufhin entschlüsselte Grégoire Bouillier eine Vielzahl von Indizien, die belegen, dass die Trennung den Plot des Romans nachexerzierte. Die verinnerlichte Literatur kehrte buchstäblich ins Leben zurück. Den Wahrheitsgehalt aber – auch das gehört zur Ironie - konnte er nicht mehr überprüfen. Denn nach der Geburtstagsfeier verabschiedete sich die Ex-Geliebte wieder in die Unerreichbarkeit. Für Trost war jedoch bald gesorgt. Eine Frau, die ihn – wie es heißt – "trotz seiner Rollkragenunterziehpullover liebte" -, teilte die Rückkehr in die Normalität.
    Grégoire Boulliers schmales, höchst unterhaltsames Buch stellt nie bloß. Dafür verrät es mit subtilem Humor ungemein viel über die männliche Seele. Und es lüftet nicht zuletzt, was aus Grégoires sündhaft teurem Überraschungsgeschenk für die Künstlerin Sophie Calle wurde.

    Grégoire Bouillier: Der Überraschungsgast.
    Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
    Nagel & Kimche Verlag, München 2008.
    127 Seiten, 14,90 Euro.