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Geiselnahme von Beslan
EGMR wirft Russland schwere Versäumnisse vor

Beim Geiseldrama von Beslan im Nordkaukasus kamen 2004 mehr als 330 Menschen ums Leben. Opfer und Angehörige machen die Sicherheitskräfte für den tragischen Ausgang mitverantwortlich. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte Russland nun zur Zahlung von drei Millionen Euro an Angehörige und Überlebende.

Von Gesine Dornblüth | 13.04.2017
    Bewohner von Beslan bei einer Gedenkveranstaltung zum 10. Jahrestag der Geiselnahme in einer Schule (am 1. September 2004), bei der mehr als 300 Menschen starben.
    Gedenken am 10. Jahrestag des Terroranschlags von Beslan 2014. (picture-alliance / dpa / Evgeny Biyatov)
    409 Personen hatten beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage eingereicht: Überlebende, Verletzte, Angehörige der mehr als 330 Toten von Beslan. Sie werfen den russischen Sicherheitskräften vor, diese hätten zu wenig getan, um das Leben der Geiseln damals, im September 2004, zu retten; mehr noch: sie seien falsch vorgegangen und hätten damit für noch mehr Tote gesorgt.
    Die Sicherheitskräfte setzten bei der Befreiung der Geiseln schwere Waffen ein, unter anderem Granatwerfer. Bei dem Beschuss geriet die Turnhalle der Schule in Brand, dort waren viele Geiseln gefangen, die meisten kamen in den Flammen um. Der Moskauer Anwalt Kirill Korotejew vertritt die Kläger in Straßburg.
    "Als der Anschlag passierte, gab es keine geplante, angemessene Rettungsaktion für die Geiseln. Die Ermittlungen haben gezeigt, dass bei den Rettungskräften ein heilloses Durcheinander herrschte. Es gab zum Beispiel zwei Einsatzstäbe, aber einige Leute haben erst am 4. September erfahren, dass sie einem der Stäbe angehörten. Da war alles schon vorbei. Zwei Stunden lang wurde nicht entschieden, den Brand in der Turnhalle zu löschen. Das hat Dutzende Menschen das Leben gekostet."
    Hunderte Verfahren in Russland ohne Ergebnis
    Die Kläger glauben zudem, dass die Sicherheitskräfte die Geiselnahme hätten verhindern können. Denn es hatte Warnungen vor einem bevorstehenden Anschlag gegeben, aus Moskau waren entsprechende Telegramme in den Nordkaukasus versandt worden.
    Ein dritter Schwerpunkt der Anklage: In Russland wurde keiner der Militärs, keiner der Leiter der Antiterroroperation je zur Verantwortung gezogen. Der Anwalt Kirill Korotejew:
    "Kein einziges russisches Gericht hat je alle Beweise berücksichtigt und rekonstruiert, was in Beslan wirklich passiert ist, und es angemessen juristisch bewertet."
    Dabei gab es in Russland hunderte Verfahren. Ella Kesajewa leitet die "Stimme von Beslan", eine Selbsthilfeorganisation der Opfer und ihrer Angehörigen. Sie selbst verlor ihren Schwager und zwei Neffen. Ihre Tochter überlebte die Geiselnahme, sie war damals zwölf Jahre alt. Ella Kesajewa telefonisch aus Beslan:
    "Für eine Mutter macht es keinen Unterschied, ob Sicherheitskräfte oder Terroristen ihr Kind umgebracht haben. Der Staat hat viel getan, um die Kläger einzuschüchtern."
    Proteste am Jahrestag
    Jedes Jahr am 1. September versammeln sich die Bewohner von Beslan zu einer Trauerstunde in der ehemaligen Schule. Letztes Jahr nutzten fünf Frauen das für eine kleine Protestaktion, darunter Kesajewa. Sie trugen T-Shirts mit dem Aufdruck "Putin ist der Henker von Beslan". Die Frauen wurden abgeführt und jeweils zu umgerechnet rund 200 Euro Geldstrafe verurteilt.
    "Das war äußerst zynisch, den Opfern sogar am Tag der Trauer zu verbieten, die Wahrheit über Beslan zu sagen."
    Kesajewa ist zuversichtlich, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte heute zu ihren Gunsten entscheiden und den russischen Staat verurteilen wird. Russland beschäftigt die Straßburger Richter wie kein anderes Land. 2016 betraf knapp ein Viertel aller Urteile Russland. Und in sage und schreibe 225 von insgesamt 228 Fällen stellten die Richter fest, dass der russische Staat eines oder mehrere Menschenrechte verletzt hat, meist das Recht seiner Bürger auf Freiheit und Sicherheit.
    Russland setzt die Urteile aus Straßburg von je her nur zum Teil um. Der Staat zahlt den Opfern zwar in der Regel eine Entschädigung; zu neuen Ermittlungen in Russland kommt es aber so gut wie nie, die Täter bleiben damit straffrei. Der Anwalt Korotejew verweist auf zahlreiche Urteile in Bezug auf Tschetschenien.
    Russische Gerichte können Urteile ignorieren
    "Die Standardreaktion der russischen Regierung war immer, die Schlüsse des Europäischen Gerichts einfach zu ignorieren. Ich fürchte, das wird auch im Fall von Beslan so sein."
    Vor zwei Jahren hat Russland zudem ein Gesetz verabschiedet, dass es dem Obersten Gericht erlaubt, Urteile internationaler Gerichte zu ignorieren, sofern diese der russischen Verfassung widersprechen. Unter der derzeitigen Regierung werde kein russisches Gericht die Ereignisse von Beslan neu bewerten, da ist sich auch Ella Kesajewa von der "Stimme Beslans" ganz sicher.
    "Aber die Entscheidung heute in Straßburg ist trotzdem wichtig, und zwar für die gesamte Gesellschaft. Denn die Tragödie von Beslan zeigt, wozu die Sicherheitskräfte fähig sind, wenn sie eine entsprechende Anweisung von der Führung des Landes bekommen. Sie sind fähig zu töten."