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Geisteswissenschaften
Des Geistes Jagd nach Anerkennung

Geisteswissenschaftler versuchen ihre Sujets aufzuwerten statt sie infrage zustellen - als Kompensation eigener Minderwertigkeitskomplexen. Das sagt der Philosoph Wolfgang Ullrich im Deutschlandfunk. Die Exegeten heischen nach erhabenen Thesen; sie wollen verblüffen. Ullrich geht der Frage nach, warum heute andere Typen von Thesen beliebter sind als noch vor einigen Jahrzehnten.

Von Wolfgang Ullrich | 07.09.2014
    Eine Besucherin der Ausstellung betrachtet Gerhard Richters Werk "Kerze", ein Bild mit einer großen Kerze drauf, Frau ist nur von hinten zu sehen.
    Eine Besucherin der Ausstellung betrachtet Gerhard Richters Werk "Kerze" (dpa/picture alliance/Uli Deck)
    Wolfgang Ullrichs Essay untersucht, wie etwa die Methode des Vergleichs momentan fast nur dazu genutzt wird, Ähnlichkeiten aufzuzeigen, nicht aber zur Analyse von Differenzen. Was aber bedeutet das für die Geisteswissenschaften? Ullrich bietet mehrere überraschende Antworten auf diese Frage, die sowohl auf tiefere gesellschaftliche Prägungen wie auf individuelle Motive einzelner Wissenschaftler verweisen.
    Der Autor Wolfgang Ullrich
    Wolfgang Ullrich, geboren 1967, ist Kunsthistoriker und Autor zahlreicher Publikationen zur Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs. Er befasst sich außerdem mit bildsoziologischen Fragen sowie der Konsumtheorie. Momentan ist Ullrich Professor für Kunstwissenschaft und Medienphilosophie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, wo er auch Prorektor für Forschung ist.

    Lesen Sie hier das komplette Manuskript des Beitrags:
    Kunstwissenschaftler sind weiter vom Markt entfernt als andere Akteure des Kunstbetriebs. Anders als bei Galeristen, Sammlern, Museumsdirektoren oder Kuratoren hängt ihr Ansehen sowie ihre ökonomische Stellung auch nicht vom Wert der Werke ab, mit denen sie zu tun haben: Man wird als Wissenschaftler nicht wichtiger, nur weil ein Werk dank der Interpretation, die man ihm angedeihen ließ, an Bedeutung gewonnen hat. Allerdings habe ich den Eindruck, dass viele Wissenschaftler genau dies glauben. Sie besitzen nämlich ein einseitiges Interesse daran, ihre Sujets bedeutsam erscheinen zu lassen. Keine Assoziation ist dann zu lose, um sie nicht enger knüpfen zu wollen, damit sich eine aufregende und überraschende These daraus ergibt. Umgekehrt trifft man kaum einmal auf Texte, die die Hochschätzung eines Künstlers infrage stellen oder auch nur Grenzen seiner Bedeutung analysieren. Aus jeder Analogie wird vielmehr noch ein wenig Tiefsinn geschürft. Oder eine Relevanz abgeleitet. Oder ein Geheimnis in Szene gesetzt.
    Man könnte solche Versuche einer unbedingten Aufwertung als Kompensation von Minderwertigkeitskomplexen sehen, wie sie gerade unter Geisteswissenschaftlern üblich sind. Viele von ihnen haben starke Zweifel, ob sie die Gesellschaft prägen oder gar verändern können. Sie beneiden Ingenieure, Juristen und Chemiker, denen allen eine gewisse Macht zu attestieren ist. Daher dünsten geisteswissenschaftliche Texte oft eine unangenehme Bedürftigkeit aus. Ihre Autoren heischen nach erhabenen Thesen; sie treiben viel Aufwand, um Zusammenhänge zu konstruieren; sie wollen verblüffen. Zu gerne hätten sie mehr Anerkennung, würden es genießen, brächte man ihnen Ehrfurcht entgegen.
    Die Bringschuld
    Im Fall der Kunst dürfte ferner das Gefühl einer Bringschuld eine Rolle spielen. Hat man nicht gelernt, dass ein Kunstwerk unerschöpflich in seinen Bedeutungen ist? Und kann jede Interpretation daher nicht immer nur höchstens einzelne Partikel davon erfassen? Muss man also nicht wenigstens versuchen, möglichst viel anzusprechen? Geht es nicht darum, das Besondere der Kunst dadurch zu vermitteln, dass man ihre Fülle erfahrbar macht? Sind die auf Vermittlung und Interpretation konzentrierten Kunstwissenschaftler nicht sogar Priestern vergleichbar, die im Dienst einer höheren Macht stehen und diese in all ihrer Herrlichkeit zu vergegenwärtigen haben? Sind sie nicht, obgleich unabhängig von ökonomischen Zwängen, umso abhängiger von den hohen Ansprüchen, die im Begriff von Kunst enthalten sind?
    Doch würde ich bezüglich der Neigung vieler Geistes- und gerade Kunstwissenschaftler zu Aufwertungen und Bedeutungsakkumulationen gerne noch etwas Drittes in Erwägung ziehen. Wenn sie bevorzugt mit Methoden der Wertschöpfung arbeiten, sind sie vielleicht einfach nur vom Geist des Kapitalismus geprägt. Ohne sich vermutlich eigens Rechenschaft darüber abzulegen, stehen sie genauso im Bann hoher Preise und spektakulärer Wertversprechungen wie diejenigen, die mit Kunst handeln oder in anderen Branchen tätig sind, in denen es darum geht, mit Waren Gewinn zu erzielen. Der Kunstmarkt mit seinen Rekordsummen hat, spätestens seit den 1990er Jahren, die Wahrnehmung so beeinflusst, dass Kunstwerke generell im Licht von Waren erscheinen, sie deshalb von denen, die sich ihnen verpflichtet fühlen, einseitig als solche in Szene gesetzt werden. Beschreibung wird zu Werbung, Interpretation dient einer Steigerung des Tauschwerts. Der Auktionskatalog ist das Leitmedium der Kunstexegese.
    Deutung gleicht Image-Defizite aus
    An einem Beispiel möchte ich anschaulicher machen, dass und wie Kunstwerksexegese üblicherweise mit Formen der Aufwertung einher geht. Dabei nimmt eine Deutung oft von einer Denkfigur, einer Metapher oder einem Vergleich ihren Ausgang. Caspar David Friedrichs berühmtes Gemälde Eismeer (1823/24) bringt eine Fraktion von Interpreten etwa dazu, das Eis „wie schwere erzene Platten, mit denen Grüfte verschlossen werden" , oder „wie eine Grabplatte" zu empfinden oder es „zu einem großen Grabmal aufgetürmt" zu sehen. Dies umso mehr, wenn es unter seinem alternativen Titel – Die gescheiterte Hoffnung – vorgestellt wird. Mit der Grabmetaphorik ist schon vorgegeben, das Werk als Symbolbild für den Tod zu verstehen, im Eis aber auch einen Ort des Totengedenkens zu erblicken. So lässt sich Friedrichs Gemälde mit einem Denkmal in Beziehung bringen, das an Tote – an Opfer – erinnert. Ein Interpret assoziiert es daher mit „dem ‚Denkmal für die Märzgefallenen', d.h. die linken Opfer des Kapp-Putsches vom März 1920", das Walter Gropius 1922 in Weimar entwarf.
    Ein solcher Vergleich wirkt sich aber in doppelter Weise positiv auf das Image von Friedrich aus. Sein Gemälde wird mit einem Werk der Avantgarde verknüpft, ja die Eisblöcke nehmen, so die Behauptung, die abstrakte Formsprache einer auf Traditionsbruch fixierten Moderne vorweg. Zugleich erfährt Friedrich eine Politisierung, ist das Denkmal von Gropius doch linken Kämpfern gewidmet. Tatsächlich unterstellt derselbe Interpret Friedrichs Gemälde eine „verborgene politische Botschaft" und attestiert dem Künstler, der sonst oft als zurückgezogen und weltfremd geschildert wurde, das Zeug zu einem Widerstandskämpfer. Die Deutung gleicht also gezielt Image-Defizite aus.
    Kunstwissenschaftler als Veredler
    Eine andere Fraktion der Exegeten denkt bei den Eisschollen im Vordergrund hingegen an Sakralarchitektur, etwa „an Stufen eines Tempels". Damit liegt eine religiöse Deutung nahe, die ihrerseits zu Vergleichen mit Werken führen kann, welche einer anderen Zeit entstammen und Friedrichs Gemälde mit der Bedeutung einer zweiten Epoche aufladen. So stellt ein Interpret, für den das gefrorene Wasser „wie ein Altar" inszeniert ist, der den Betrachter „quasi vor einer Schranke" stehen lässt, Bezüge zur Installation Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch (1985) von Joseph Beuys her. Hier sei ebenfalls „eine unzugängliche Zone der Kälte" geschaffen, womit „die Distanz zwischen Mensch und Kosmos" sichtbar gemacht werde. Weiter wird gefolgert, dass „beide Werke [...] die Zivilisation gegenüber der Natur" relativieren und den „Eroberungen der modernen Aufklärung" eine Sicht entgegensetzen, bei der „die Grenzen der menschlichen Existenz" zum Thema werden. Friedrich ist in diesem Fall also kein Proto-, sondern ein Antimodernist, der religiöse Demut anmahnt, dabei aber nicht reaktionär erscheint, sondern zum frühen Wahlverwandten des Schamanen und Sozialhelden Beuys wird.
    Auch dieser Vergleich dient einem doppelten Interesse. So soll nicht nur Friedrich an Beuys' Charisma teilhaben, sondern dieser umgekehrt an die klassische Kunsttradition rückgebunden werden. Wieder werden beide genau da gestärkt, wo ihr Image Defizite aufweist; infolge des Vergleichs legen sie an Bedeutung zu. Damit betätigt sich der Kunstwissenschaftler als Veredler, der Kunst so imposant wie möglich zur Geltung bringen will. Mit jedem Vergleich übersteigt das jeweilige Werk sich selbst und scheint in einem anderen aufgehoben zu sein.
    Exegeten in der Nähe von Kuratoren
    Auf der Suche nach neuen Zusammenhängen laufen Kunstwissenschaftler jedoch Gefahr, in den Verdacht semantischer Wucherei zu geraten. Vergleiche überspannen Gattungen und Jahrhunderte, um möglichst viel, was Bedeutsamkeit erfasst, mit einzubeziehen. Und da allein die Behauptung von Ähnlichkeiten zu einem Austausch von Bedeutungen und Imageveränderungen führt, verfiele keiner darauf, die Unterschiede von Friedrich und Gropius oder Friedrich und Beuys zu erörtern. Sie erschienen ohnehin zu groß, als dass ihre Analyse Interessantes verheißen könnte. Vielmehr würde nur die Willkürlichkeit des Vergleichs offenbar, während es andererseits zumindest einen Verblüffungseffekt und neue Erkenntnisfelder verspricht, miteinander zu vergleichen, was noch nie miteinander verglichen wurde.
    Im Fall von Friedrichs Gemälde brachte ein sprachlicher Vergleich die Interpreten auf einen Vergleich von Werken, wobei jeweils formale Parallelen – Variationen von Hartkantigem – eine Evidenz garantierten sollten. Von äußerlichen Ähnlichkeiten wurde auf andere – programmatische – Ähnlichkeiten geschlossen, ohne jedoch die Berechtigung eines solchen Schlusses zu reflektieren. Ist erst einmal eine Brücke gebaut, wird also alles Mögliche darüber zu transportieren versucht. Diese Einseitigkeit des Vorgehens bringt die Wissenschaftler in die Nähe von Kuratoren, die ihrerseits Werke oft nach formalen Verwandtschaften auswählen und gruppieren, ja sich daran orientieren, was im Medium der Ausstellung gut zueinander passt.
    Das eigene Tun als Opfer
    Allerdings sind Verknüpfungen mit großen Namen oder Vergleiche, die nur wegen Ähnlichkeiten und damit auf Bedeutungsübertragungen hin angestellt werden, keineswegs die einzigen Methoden von Geisteswissenschaftlern, die sie mit wertschöpfenden Ambitionen anwenden. So besteht eine andere Strategie darin, sich etwas bisher Unbeachtetes vorzunehmen. Etwas, das immer als banal oder trivial erschien: als nichts, das es lohnen würde, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Dann stellt jede These, durch die das vermeintlich Unbedeutende als etwas betrachtet und mit dessen Bedeutung in Verbindung gebracht wird, schon eine Wertschöpfung dar. Für einen Kunstwissenschaftler genügt es also, sich Bildern zu widmen, die nicht dem Hort hoher Kunst oder einem Kanon angehören. Je profaner ein Bild ist, desto mehr verspricht die Beschäftigung damit Wertzugewinne. Kein Theoretiker, der etwas von einem Spekulanten an sich hat, wird sich die Chance auf eine hohe intellektuelle Rendite entgehen lassen: Selbst noch mit einer bescheidenen These Wertschöpfung zu erreichen, ist als Arbeitsmaxime attraktiv.
    Ein weiterer Vorteil dieser Methode besteht darin, dass man sich selbst wie anderen gegenüber leicht suggerieren kann, es gehe gar nicht um Spekulation; vielmehr sei das Engagement Folge gesteigerter Sensibilität, man beweise damit Sinn für Minderprivilegiertes. Man kann sich also in einer aufklärerisch-linken Tradition sehen und als Anwalt einer Bildkultur auftreten, die sonst mit Missachtung gestraft wird. Dann gibt man Bilder, wie es etwa der US-amerikanische Kunstwissenschaftler W.J.T. Mitchell prominent getan hat, als schwach und subaltern aus und fordert, sie müssten, nachdem andere Benachteiligte wie Frauen und Schwarze schon halbwegs befreit seien, endlich auch in ihren Wünschen und Rechten anerkannt werden. Vielleicht spielt man dabei zugleich ein Ressentiment gegen die Hochkultur und ihre exklusiven Mechanismen aus. Oder man besitzt die Chuzpe, das eigene Tun als Opfer darzustellen: Muss denn nicht auf die Beschäftigung mit stimulierenden Meisterwerken verzichten, wer sich an mittelmäßiger Alltagsästhetik abarbeitet?
    "Readymade"
    Allerdings kommt es mir so vor, als treibe die meisten doch ein – wenngleich noch so vages – ökonomisches Interesse zu Sujets, die gemeinhin als wertlos gelten, aber potenziell wertvoll sein könnten. Vielleicht ließe sich hier auch von einer Schatzsuchermentalität – als einer Sonderform von Forscherneugier – sprechen. Doch während diese nicht spezifisch für einzelne Epochen und Sparten sein dürfte, wirkt bei Kunstwissenschaftlern meiner Generation ein Ereignis nach, das uns zusätzlich motiviert, gerade Triviales in Thesen und Strategien der Wertschöpfung einzubeziehen. Ich meine den unglaublichen Erfolg des Prinzips ‚Readymade', also der Idee, einen banalen Alltagsgegenstand allein durch Transfer in ein exklusives Ambiente – einen der Kunst vorbehaltenen Museums- oder Ausstellungsraum – in etwas Wertvolles zu verwandeln. Zwar war das Readymade in seiner ersten Konzeption durch Marcel Duchamp nicht als Strategie der Wertschöpfung gedacht – vielmehr sollte einer Skepsis hinsichtlich jeglicher Wertzuschreibung Ausdruck verliehen werden –, doch ist es in seiner Wirkungsgeschichte zum wohl größten Motor spekulativer Phantasien geworden. Künstler schafften es über Jahrzehnte hinweg wieder und wieder, gerade etwas, das alle herkömmlichen Vorstellungen von Kunst unterbot, als besonders teure Kunst zu lancieren.
    Längst gibt es auch Theorien, die den Mechanismus des Readymade als Universalschlüssel zur Erzeugung von Neuem und Wertvollem ausgeben. Der profane Raum wird dabei, so beschreibt es etwa Boris Groys, als „Reservoir für potentiell neue kulturelle Werte" begriffen – als Renditechance, die nutzt, wer den Transfer vollzieht und das Profane in einen anders codierten Raum versetzt. Das Readymade erscheint damit als Essenz kapitalistischer Logik, die alles auf seine Potenziale hin betrachtet und zugleich der Prämisse folgt, diese möglichst effizient zu entfalten. Was aber könnte effizienter sein als eine einfache Translozierung einer Sache in einen anderen Raum? Wie der Begriff ‚Readymade' signalisiert, ist eigentlich schon alles fertig, es bedarf nur eines leicht anderen Umgangs mit dem Objekt, um aus ihm einen Schatz zu machen.
    Das Triviale im Feld von Theorie
    Zugleich aber offenbart die Idee des Readymade in Reinform das Prinzip einer auf Wertschöpfung spekulierenden Thesenbildung. Auch hier geht es um einen Transfer, nämlich um die Übertragung einer Bedeutung auf etwas anderes. Dem Theoretiker gelingt dies mit Hilfe von Vergleichen und Assoziationen; er entwickelt ein Setting, bei dem das bisher als banal angesehene Sujet in enge Beziehung zu anderem gelangt, das als wichtig und wertvoll gilt. Aber schon der Akt des Theoretisierens genügt, um die Banalität des Banalen zumindest zu überhöhen. Sobald sich ein Theoretiker seiner annimmt, signalisiert das Bedeutsamkeit – so wie es Bedeutsamkeit signalisiert, wenn jemand ein Alltagsobjekt in ein Museum bringt. Dass es dort in die Nähe zu anderem gelangt, dessen Rang bereits gesichert ist, ermöglicht eine konkrete Bedeutungsübertragung. Genauso wird das triviale Sujet durch eine bestimmte These gewissermaßen unter einem Brennglas betrachtet; seine zuerst nur postulierte Bedeutsamkeit erfährt eine Ausrichtung.
    Doch trotz der Verknüpfung mit anderen, in ihrer Bedeutung konsolidierten Sujets kann das Triviale – das Readymade – seinen Charakter als Fremdkörper im Feld von Theorie – oder Hochkunst – nicht ganz verleugnen. Es bleibt immer ein Fragezeichen, ein Rest an Rätsel, was der ungewohnte Umgang mit ihm zu bedeuten hat. Das aber ist kein Manko, sondern steigert im Gegenteil die Eignung des Sujets als Spekulationsobjekt. Statt durch Bezugsetzungen klar definiert zu werden, verharrt es im Status einer postulierten Bedeutsamkeit. Vor allem anderen ist es Verheißung. Und dass ein Readymade auf dem Kunstmarkt zum Millionenereignis werden kann, liegt viel mehr an seiner verheißungsvollen Indefinitheit als an jeglicher konkreten Wertschöpfung durch Bedeutungsübertragung.
    Schatzsucherphantasien
    Meine Diagnose, das Readymade biete die Essenz kapitalistischer Logik, kann ich also zuspitzen: Nicht das Aufwerten durch einzelne Umcodierungen, sondern die Verwandlung des Objekts in einen Gegenstand der Spekulation eröffnet die größten Renditechancen. Wem es gelingt, das Postulat von Bedeutsamkeit mit Autorität in Szene zu setzen und zugleich immer wieder einzelne Kostproben davon zu geben oder anzuregen, welche Bedeutungen dem Objekt zugesprochen werden könnten, wird die spektakulärsten Wertzuschreibungen – und entsprechend große ökonomische Erfolge – erzielen.
    Genauso gilt für Theoretiker, dass sie ihr Sujet – und zugleich sich selbst – am interessantesten machen, wenn sie nicht nur überraschende und überzeugende Settings entwickeln, durch die sogar das Banalste zu einem aufschlussreichen Phänomen wird, sondern wenn ihr Theoretisieren dazu führt, eine Aura von Bedeutsamkeit zu erzeugen. Durch sie kann das Sujet sich seinerseits in ein Spekulationsobjekt verwandeln. Dazu darf es nicht zu streng definiert werden. Während daher etwa Vergleiche, die Unterschiede sichtbar machen, nachteilig sind, weil sie einem Sujet einzelne Eigenschaften fest zuschreiben, sind Formen lockereren Assoziierens geeignet. Sie führen zu Bedeutungsakkumulationen, öffnen aber auch Spielraum für eine Schatzsucherphantasie.
    Analogie so verblüffend wie eine Paradoxie
    Noch besser dient es einer Aura von Bedeutsamkeit, wenn man Sujets so miteinander assoziiert, dass eine überraschende Ähnlichkeit zwischen ihnen suggeriert wird, diese aber zugleich zweifelhaft bleibt. Der Zweifel sorgt dann für eine Unruhe, die den Moment der Überraschung verlängert und zu der Frage führt: Was wäre, wenn diese Ähnlichkeit wirklich bestünde? Je mehr man zweifelt, desto verheißungsvoller erscheint im Umkehrschluss die Erkenntnis, fände man die behauptete Ähnlichkeit schließlich doch plausibel.
    Im Extremfall überrascht ein Theoretiker mit einer Analogie, die so verblüffend ist wie eine Paradoxie. Dafür ein Beispiel. In dem zeitdiagnostischen Traktat Transparenzgesellschaft von Byung-Chul Han, aus dem Jahr 2012, der sich kritisch mit dem gesellschaftlichen Ideal der Transparenz auseinandersetzt und in dem das Transparente mit dem Positiven identifiziert wird, das der Autor im weiteren sehr düster als stromlinienförmig-eindimensional, oberflächlich, obszön-direkt beschreibt, geht es in einer Passage um digitale Fotografie. Dazu heißt es: „In der digitalen Fotografie ist jede Negativität getilgt. Sie bedarf weder der Dunkelkammer noch der Entwicklung. Kein Negativ geht ihr voraus. Sie ist ein reines Positiv." – Zitatende - Damit erscheint die digitale Fotografie dem Autor als symbolhaft für eine gesamte Epoche, in der das Negative zugunsten eines Wunsches nach Positivität und Transparenz verdrängt wird. Doch sind ein fotografisches Negativ und das Negative im Sinne eines Verneinens und Verbergens – im Sinne von Intransparenz – wirklich miteinander gleichzusetzen? Genau hier regen sich Zweifel, aber man findet kein schlagendes Argument, Negativ und Negativität strikt zu trennen. Also bleibt die Analogie im Raum – und verheißt die Aussicht auf eine Theorie, in der vieles, das sonst weit auseinander liegt, zusammengedacht wird – in der also infolge genialischer Synopsis eine große, bisher verborgene Signatur der Gegenwart sichtbar wird.
    "Intellektuelle Hütchenspielerei"
    Wohlgemerkt: Es würde dem Theoretiker schaden, bemühte er sich darum, das in einer solchen Analogie Suggerierte Punkt für Punkt auszuführen und eigens zu begründen, warum sich Negativ und Negativität zusammendenken lassen. Nein, es erregt mehr Aufsehen, bedient besser eine Schatzsuchermentalität, versieht sich selbst stärker mit dem Image eines Sehers, wirkt also insgesamt bedeutender, wenn er seine Sujets im Modus von Spekulationsobjekten belässt.
    Allerdings ist eine solche Praxis nicht ohne Risiko. Man kann sich verspekulieren, vielleicht werden die Zweifel bei den Rezipienten zu groß und sie kommen zu dem Schluss, eine Assoziation für prätentiös oder abstrus zu halten. Manche sind auch grundsätzlich skeptisch gegenüber Analogien, die auf der Basis von Etymologien gebildet werden, von einer historischen Koinzidenz ihren Ausgang nehmen oder nur aus äußerlichen Details bestehen. Sie fühlen sich als Opfer einer intellektuellen Hütchenspielerei, sehen aber zumindest die Grenze zwischen einer erkenntnisfördernden und einer bloß verführenden Assoziation verletzt. Oder sie unterstellen Theoretikern generell einen Hang zum bösen Assoziieren, ohne jedoch ihrerseits klare Kriterien dafür angeben zu können, woran es zu erkennen oder wie es zu vermeiden ist.
    Indirekt renditeträchtige Ware
    Dass eine Assoziation, die die assoziierten Elemente in Fremdheit zueinander versetzt, für umso mehr Verheißung sorgt, macht man sich in philosophischen, geisteswissenschaftlichen und essayistischen Texten immer wieder zunutze. In ihnen gelangen fortwährend Varianten derselben Methode zur Anwendung, der das Prinzip des Readymades folgt: Statt sich um eine Definition von Sujets zu bemühen, bereitet man sie als Spekulationsobjekte auf.
    Anders als Kunstwerke sind Theorien, von denen viel Verheißung ausgeht, aber höchstens indirekt renditeträchtige Ware. Zwar bekommen ihre Autoren mehr Einladungen und können für Vorträge und Auftritte mehr Geld verlangen, doch werden sie für ihre zu Spekulation anregenden Texte vor allem damit belohnt, dass sie häufiger zitiert und in Diskussionen mit mehr Ehrfurcht erwähnt werden. Wer Verheißungsvolles zu bieten vermag, erlebt erstaunliche Zugewinne an Autorität. Das zeugt von streng hierarchischen Verhältnissen innerhalb von Wissenschaft und Theorie, vor allem vom Wunsch nach Leit- und Heilsfiguren, die Zugänge zu sonst verschlossenen Sinnressourcen bahnen.
    Analogie von Theorie und Religion
    Daher ist es für Theoretiker auch so attraktiv, möglichst vieles mit einer Aura von Bedeutsamkeit zu versehen. Ihr Hang zum Verheißungsvollen bringt sie also nicht nur in Übereinstimmung zur Logik des Kapitalismus, der zufolge Spekulatives die größten Renditen erhoffen lässt, sondern ermöglicht ihnen bestenfalls sogar eine ähnliche Rolle wie ehedem Propheten und Evangelisten. Die Schriftgläubigkeit innerhalb der Buchreligionen setzt sich in der Rezeption von Theorie bis heute fort: Am liebsten wird in Texten nach Verheißungen gesucht.
    Will man diesen Gedanken seinerseits überhöhen und bedeutsamer machen, liegt es nahe, der Analogie von Theorie und Religion weiter nachzugehen. Folgende Fragen wären dann etwa zu stellen: Beruht nicht das gesamte Christentum auf einer Idee von Verheißung? Liegt ihm nicht ein Adventismus zugrunde? Versetzt nicht der Glaube an die Wiederkehr Christi jeden Christen in einen Stand der Erwartung? Der Erwartung von Großem und Erlösendem? Ist die Verwandlung von Sujets in Gegenstände der Verheißung, wie Theoretiker sie betreiben, also nicht ein Reflex, eine späte Folge, eine pagane Variante eines urchristlichen Motivs? Und ist nicht sogar der gesamte Kapitalismus mit seinen Techniken des Spekulierens als eine Bewegung zu begreifen, die dem Muster des Christentums folgt? Die die Welt zu einer Abfolge von Erwartungsereignissen werden lässt? Die selbst eine Form von Adventismus darstellt?
    Das Verführerische
    Religion, Wirtschaft, Denken, Kunst – das alles kann, wer will, auf einmal als analog, ein und demselben Prinzip folgend, erkennen. Je nach Anlass und Interesse könnte ich im Weiteren das Readymade christologisch aufladen, Theorie zum Ereignis kapitalistischer Logik erklären, den Kapitalismus als Epiphänomen des Christentums darstellen oder umgekehrt im Christentum bereits die Struktur des Kapitalismus entdecken. Ich könnte Kunst und Theorie vorwerfen, sich zum Büttel des Kapitals gemacht zu haben, könnte den Kapitalismus aber auch als eschatologische Religion beschreiben. Ich könnte den religiösen Kern von Theorien offenlegen, deren Leistung nicht in Definitionen besteht, oder zeigen, dass das Readymade die logische Folge einer ursprünglich klassizistisch-romantischen Kunstreligion war. Tatsächlich wäre es nicht schwer, für jede dieser Thesen Beispiele zu finden, sie mit Zitaten zu instrumentieren, sie aufregend zu gestalten und gar mit anderen Thesen zu verbinden, die den Horizont noch mehr erweitern.
    Allerdings ist es mir kein Bedürfnis, diese möglichen Thesen zu verfolgen. Wo immer ich auf Thesen von solchem Charakter stoße, befällt mich sogar ein Gefühl des Überdrusses, eines leichten Ekels. Zu sehr misstraue ich den darin behaupteten Ähnlichkeiten, dem Mechanismus des Assoziierens. So wenig ich Negativ und Negativität kurzschließen will, so wenig christlichen Adventismus mit den Verheißungen von Theorien oder mit den Spekulationsobjekten eines Kapitalisten. Gewiss, ich ließ erkennen, dass ich zwischen Kunst, Theorie und Wirtschaft Analogien sehe, ich sprach sogar davon, im Prinzip ‚Readymade' komme die Logik des Kapitalismus mustergültig zum Vorschein. Aber ich hütete mich, kausale Beziehungen zu behaupten oder etwas anderes zu unternehmen, das als dramaturgische Zuspitzung wirken könnte. Ich finde es reizvoll, Analogien zwischen verschiedenen Bereichen zu entdecken, mag es auch, ihnen nachzugehen, verfalle dann aber schnell darauf, genauso auf Unterschiede zu achten. Auf diese Weise aber ist der Weg zu einer pointierten These genauso verbaut wie zum großen Bogen einer Theorie.
    Gewiss: Dramatisierungen, Aufwertungen und starke Bedeutungen sind verführerisch. Man bietet Emotionen, erzeugt Sinn, schafft Märkte, bedient Interessen, wird wichtig. Doch wer sich und sein Metier als Theoretiker ernst nimmt, sollte es nicht dabei belassen. Vielmehr sollte es ebenso Bestandteil des eigenen Ethos sein, immer wieder zu überprüfen, was zu einem Symptom erklärt wurde, warum etwas eine Schlüsselstellung zugewiesen bekam und was genau hinter einer Verheißung steckt. Man darf die erkenntnisfördernde Kraft einer Metapher, einer Denkfigur, eines Plots zwar nutzen, sollte aber zugleich eine Ethik des Assoziierens verinnerlicht haben, um einem bloß spekulativ-verführenden Gebrauch von Methoden widerstehen zu können. Statt die Welt nur mit großen Thesen zu füllen, möge man genauso lernen, in ihr aufzuräumen.
    Manuskripte zur Sendung zum Download: