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Geistiger Führer Russlands

Kaum je ein Autor hatte weltweit eine so gewaltige Wirkung mit seinen Romanen wie der russische Schriftsteller Fjodor Michajlowitsch Dostojewski. Nach seinem Tod am 9. Februar 1881 begleiteten etwa 100.000 Menschen seinen Sarg. Der Religionsphilosoph Wladimir Solowjow sagte in seiner Grabrede: "Russland hat seinen geistigen Führer verloren."

Von Karla Hielscher | 09.02.2006
    Der geniale russische Schriftsteller Fjodor Michajlowitsch Dostojewskij hat in seinem gewaltigen epischen Werk die Probleme der modernen Gesellschaft und die ewigen Menschheitsfragen im künstlerischen Experiment auf die Spitze getrieben. Dostojewskij - das ist das erbarmungslose Ausleuchten der Abgründe der menschlichen Seele; das ist das tiefe Mitleiden mit allen Erniedrigten und Beleidigten; das sind die bohrenden Fragen nach den Konsequenzen der Freiheit, nach Schuld und Verantwortung jedes Einzelnen für das Böse in der Welt; das ist die qualvolle Suche nach Gott.
    Dostojewskij - das ist aber auch die radikale Abrechnung mit dem Kommunismus wie dem gesamten bürgerlich liberalen Zivilisationsmodell des Westens, beides für ihn nur Ausgeburten eines materialistischen säkularisierten Denkens, dem er die Utopie einer vom "Gottesträgervolk" Russland ausgehenden, weltweiten christlichen Verbrüderung entgegenstellt.

    Geboren 1821 als Sohn eines Armenarztes in Moskau, wusste er von Jugend an, dass das Schreiben seine Berufung ist. An seinen Bruder schrieb er:

    "Ich glaube an mich. Der Mensch ist ein Geheimnis. Man muss es ergründen, und wenn man sein ganzes Leben darauf verwendet, so hat man doch keine Zeit vergeudet..."

    Von den Weltverbesserungsträumen der französischen utopischen Sozialisten begeistert besucht der junge Autor einen konspirativen revolutionären Zirkel, wird 1849 verhaftet, zum Tode verurteilt und erst auf dem Schafott begnadigt. In Ketten geschmiedet durchleidet er vier qualvolle Jahre Zwangsarbeit und sechs Jahre Verbannung in Sibirien. Dostojewskij kommt als extrem konservativer, tief orthodox religiöser Mensch aus dem sibirischen "Totenhaus" zurück. Auch in den folgenden Jahren macht der übersensible Epilepsiekranke, der leidenschaftlich Liebende, der süchtige Roulettespieler dramatische psychische Erfahrungen, die er - lange vor Freud - in seiner Prosa künstlerisch analysiert und verarbeitet. Auf der Flucht vor dem Schuldturm lebt der Schriftsteller mehrere Jahre in Westeuropa. Unter erbärmlichsten Lebensbedingungen entstehen an wechselnden Orten seine grandiosen, spannenden, fantastischen, philosophischen Romane "Verbrechen und Strafe", "Der Idiot", "Die bösen Geister" und später sein großes Vermächtniswerk "Die Brüder Karamasow".

    "Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt!"
    Das ist die Grundbotschaft der in seinem Werk verkündeten Ethik, die jedes moralische Handeln untrennbar an den christlichen Glauben bindet. Nachdem Dostojewskij 1871 endlich nach Russland zurückkehren konnte, wurde der inzwischen hochberühmte Autor nun auch mit seiner politischen Publizistik zur populären Leitfigur des nationalkonservativen, antiwestlichen Russland.

    Nach seinem Tod am 9. Februar 1881 begleiteten etwa 100.000 Menschen seinen Sarg, und Wladimir Solowjow, der berühmte Religionsphilosoph, sagte in seiner Grabrede:

    "Russland hat seinen geistigen Führer verloren."

    Der faszinierte Leser muss sich also dem Widerspruch zwischen dem tiefgründigen, alles verstehenden Künstler und dem antiaufklärerischen Ideologen stellen.

    Der Dostojewskijforscher Horst-Jürgen Gerigk: "Dostojewskij schrieb ja seine fünf großen Romane in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und das war die Zeit der Nationalismen in Europa. Nun ist der russische Nationalismus ein ganz besonderer. Wir haben es nämlich hier mit der Staatskirche zu tun. Das heißt: Die russische Orthodoxie konnte nicht vertragen, dass andere Weltreligionen ein Mitspracherecht hatten. Dadurch finden wir bei Dostojewskij eine Abneigung gegen den mosaischen Glauben, den Islam und den Katholizismus. Das bedeutet in konkreto: In seinen Werken - nicht nur in seinen Aufsätzen, seinen publizistischen Arbeiten - werden Juden, Polen und Türken immer negativ dargestellt."

    Die psychologisch realistischen Romane in ihrer Vielstimmigkeit und ihrem Dialogcharakter sprengen jedoch mit ihrer Sprachgewalt die ideologischen Beschränktheiten ihres Schöpfers:

    "Kein geringerer als Nietzsche hat ja gesagt, Dostojewskij sei der einzige Psychologe, von dem er etwas zu lernen hatte. Und das kann offensichtlich der heutige Dostojewskij-Leser auch."