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Gelebte Jahre

Welch provokanter Titel für einen Gedichtband. "Aus einem Tagebuch der Nicht-Ereignisse" heißt das neue Buch von Michael Hamburger. Hat dieser Autor in seinem Leben denn so Unerhebliches erlebt, immerhin feiert er justament zum Erscheinen des Bandes seinen 80. Geburtstag?!

Von Cornelia Jentzsch | 03.05.2004
    Um den Titel verstehen zu können, muß man die Betonung vom "Nicht" wegführen und auf das zweite Wort legen. Denn Michael Hamburger zieht in diesem Gedichtband, der eine achtbändige auf deutsch erscheinende Werkausgabe abrundet, keine enttäuschte Quersumme gelebter Jahre.

    Das Wort Nicht-Ereignisse bezieht der englische Dichter auf eine außerhalb der Menschen liegende Welt, die von der Sprache verschont geblieben ist. Eine, wenn man so will, weitestgehend unübersetzte Welt, die für sich bislang weder Identität noch Fortschritt erfunden hat. Hier wird keine Sprache benötigt, um sich untereinander zu verständigen. Denn Sprache ist manipulierbar und sogenannte Ereignisse, die mit Auftritten, mit Besonderheiten und Erfahrungen verbunden sind, gibt es demzufolge in dieser Welt nicht. In dieser Welt bedeutet der Tod nicht einmal einen Verlust an Identität und Selbständigkeit, denn diese Begriffe sind unbekannt, wie überhaupt Begriffe nicht zählen.
    Es ist, kurz gesagt, die Welt von Flora und Fauna, von Wind und Wetter. Der Mensch lebt, mehr eingebunden als ihm lieb ist, in dieser Natur. Da kann er sich noch so viele Hilfestellungen und Tricks ausdenken, mit Genen manipulieren und die Energiestärke von Sonnen in Atomkraftwerken nachahmen: Auf eine stille Weise bleibt diese Welt dem Menschen dennoch überlegen. Denn das, was in ihr vergeht, wird nicht - wie der einzelne Mensch - ausgelöscht, sondern taucht wieder ein in das verborgene Reich des Möglichen, in schlummernde Anlagen und untergründige Kräfte.

    Die Linde, fünfzehnjährig, Wurzeln regen-unterspült,
    Lehnt, die Weide beugt sich.

    Schau zum Grund und gründlich: rät der bewegliche Wind:
    Was hält sind Mikrokosmen, was so versagt
    Köpfe, die sie spiegeln könnten. Anstatt einzugreifen.
    Erheb Dich früh und du wirst sehen
    Andre Flammen, glühend-rot die Sonne ungefährlich
    Liegen am Himmelsrand des Felds.
    Obgleich lichtlos, bauscht der Saft die Knospen.
    Aus dunklen Raupen schlüpfen neue Flügel.
    Funkeln dann in jedem Wetter.
    Eine Weiße in der Nacht, ein schwaches Strahlen
    Das der kalte Mond jenseits der Wolken weiterschickt.


    Gegen den abfälligen Begriff des Naturlyrikers, um das gleich klarzustellen, hat sich Michael Hamburger schon immer gewehrt. Dieses Etikett wird, wie er schreibt, allein von städtischen Naturen und Dichtern benutzt, die sich der idyllischen Naturbetrachtung mit sauberen Händen hingeben könnten. Als ob die Wirklichkeit sich nur in den Großstädten abspiele und Baum- und Viehzucht nicht weniger wirklich seien als die Verarbeitung ihrer Produkte in Fabriken. Michael Hamburger schöpft, wenn er seine Gedichte schreibt, nicht aus einer verklärten Weltsicht, sondern aus genauen Beobachtungen und Erfahrungen.
    Oder ganz einfach auch aus praktischer Arbeit. Der Achzigjährige ist ein renommierter Züchter von Apfelsorten in seinem Suffolker Garten und dafür weit über seine Gegend hinaus bekannt.

    Ich habe jetzt 35 verschiedene Apfelsorten in meinem Garten, die ich alle entweder angepflanzt oder sogar aus Samen gezogen hab. Ich hab sogar welche gesammelt in Belgien, in Frankreich und in Deutschland... Auch in dem Garten von Ted Hughes. Der hatte nämlich einen wunderschönen Apfel, der hatte eine ganz dunkle Farbe, fast purpurnfarbigen, der nur in Devon wächst, wo er lebte. Und er hat mir einen solchen Apfel geschenkt und ich hab aus den Kernen zwei Bäume gezogen... In allen Büchern steht, man kann aus Kernen keine Apfelbäume ziehen, weil sie dann nicht artgetreu werden. Aber es stimmt nicht, aus all denen, die ich gezogen hab, war nur einer vielleicht, der hatte nicht die echte Art, die ich erzeugen wollte. So habe ich jetzt diese Sammlung von Äpfeln, die ich gar nicht mehr essen kann (lacht). Ich wurde sogar in der Zeitung abgebildet mit meinen Äpfeln, weil sich jetzt auch viele Leute für alte Apfelarten interessieren. In diesem Jahr z.B. kamen auch Leute in meinem Apfelgarten und holten sich Äpfel ab, die werden ausgestellt und die Leute dürfen sie kosten. Und auf diese Weise werden manche von diesen alten Apfelarten wieder ins Bewußtsein dieser Menschen kommen.

    In dem Englisch ausgesprochenen Vornamen Michael und dem deutsch ausgesprochenen Nachnamen Hamburger deuten sich die wechselvolle Biographie des Dichters an. Geboren wurde Michael Hamburger 1924 in Berlin. Zu Beginn des aufkommenden Faschismus rettete sich die jüdische Familie Hamburger mit ihren vier Kindern nach England, wo der Dichter bis heute ansässig geblieben ist.

    Eine andere Sprache bedeutet immer auch einen anderen Erlebnis- Kultur- und Gesellschaftsbereich, schreibt Hamburger in seinen Erinnerungen. Die Versetzung von der deutschen in die englische Sprache habe für ihn die Wucht eines zweiten Sündenfalles, einer zweiten Sprachverwirrung gehabt. Dadurch verlor er jene sprachliche Unschuld und Unbefangenheit, welcher man die Selbstverständlichkeit verdanke, die Dinge beim Namen zu nennen.
    Was für Michael Hamburger vom frühen Sprachwechsel zurückblieb, ist sowohl ein Gefühl für Übergänge als auch ein gründliches Mißtrauen gegenüber Reichtum und Wohlklang von Worten. Die ausgeprägte Sprachskepsis Hamburgers merkt man seinen Gedichten an. Die Worte werden um die Dinge gelegt, um sie wie eine schützende Hülle zu transportieren. Nie war Hamburger der Versuchung erlegen, mit den Worten selbst zu experimentieren, sie gegeneinander auszuspielen oder sie gar zu zerbrechen und neu zusammenzupuzzeln. Denn die Worte gehören jener Welt an, die er ohnehin – verglichen mit jener Welt der Nicht-Ereignisse – für eine nicht so wesentliche, weil selbstverschuldet desolate hält.

    Der Dichter Hamburger zählt zu einer Generation, die noch durch ein anderes Verständnis von Veränderung als die derzeit Jungen geprägt wurde. Bewegungen und Ortsveränderungen waren für Hamburger stets mehr den biografischen Notwendigkeiten, weniger einer unbändigen Reiselust geschuldet. Heute schieben den durchschnittlichen Mitteleuropäer Tourismus, Eventhopping, Globalökonomie oder einfach nur preisgünstige Verkehrsmittel durchs Land. Diese sprunghaften und seriellen Bewegungen bedeuten aber nicht immer Veränderungen. Denn das genaue, differenzierte Beobachten jener Bedingungen, die das Unterwegssein begleiten, wird kaum noch erprobt.
    Anders bei Michael Hamburger. Unterwegssein war für Hamburger lange Zeit nicht nur eine körperliche Situation, sondern wurde es für ihn zu einem wichtigen literarischen Begriff. Seine allererste Gedichtsammlung, maschinengeschrieben und von einem Freund in Umlauf gebracht, hieß: Reiseplan. Später und fast ein Jahrzehnt lang schrieb Hamburger an einem zweiteiligen Zyklus mit dem Titel Variationen, dessen erster Teil Travelling heißt. In Bewegung, wie Peter Waterhouse sehr genau übersetzte. Das entspricht vollkommen dem Zustand des Werks und seines Schöpfers, der zwischen England und Kärnten, römischem Altertum und Schottland, amerikanischen Seen und Griechenland in mentaler Bewegung und Berührung ist, in emotionaler wie geistiger Aufruhr. Unterwegssein bedeutet aber auch, daß das Werk Michael Hamburgers in viele Sprachen hinüber-gesetzt wurde.

    Ja, das kommt zum Teil von meinen vielen Freundschaften. Ich hab enorm viel Freundschaften gehabt. Und Erich Fried war unter diesen.
    Er war einer der frühesten meiner Übersetzer ins Deutsche. Er war ein so freimütiger Mensch. Sein Haus in London war immer offen für alle Leute, die überhaupt aus den deutschsprachigen Ländern kamen. Sie konnten dort wohnen, sie aßen dort, die Türen waren einfach offen.... ich habe gesehen, wie er auf einer großen Gesellschaft mit hundert Leuten vielleicht, hat er sich in die Ecke gesetzt und hat drei Gedichte geschrieben an einem Abend. So hat er gearbeitet.

    Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr, seitdem Michael Hamburger den Dichter Hölderlin für sich entdeckt und ihn erstmals ins Englische übertragen hat, bringt Hamburger in der Gegenbewegung dafür deutschsprachige Dichter ins Englische. Unter ihnen Goethe, Hans Magnus Enzensberger, Günter Eich, Peter Huchel, Johannes Bobrowski, Paul Celan und der vergessene Dichter Franz Baermann Steiner. Nicht wenige dieser Autoren verdanken es Hamburger, daß sie sogar erstmals auf Englisch zu lesen waren. Hölderlin blieb Hamburger in seiner Übersetzungsarbeit sogar ein Leben lang treu. Von Anfang an fessele ihn an diesen Dichter, daß Hölderlin der Wirklichkeitserfahrung unerbittlich seine Utopien entgegensetzte, obwohl er wußte, daß sie nicht zu verwirklichen waren. Inzwischen liegen fast 800 Seiten übersetzte Hölderlingedichte, teils in mehreren Variationen, vor.

    Immer, wenn ich mich interessierte, wollte ich es auch übersetzen, weil alles Deutsche eigentlich unbekannt war in England. Und darum mußte ich es übersetzen, um irgend etwas dafür zu tun... Ich habe die erste englische Hofmannsthal-Übersetzung herausgegeben und zum Teil auch selber übersetzt. Ich habe Rilke übersetzt, ich habe Gottfried Benn übersetzt, ich habe Trakl übersetzt.
    Manche meiner Übersetzungen sind eigentlich verloren gegangen, weil ich keinen Verlag dafür fand. Und ich habe immer noch Übersetzungen, die nie gesammelt wurden oder in einem Buch erschienen. Ich habe zum Beispiel auch Kleist übersetzt, aber da kam es nie zu einem Buch, und ich hab Novalis übersetzt als ich jung war, und das ist auch nie ein Buch geworden.

    Brecht habe ich wohl erst in den fünfziger Jahren überhaupt kennengelernt und habe auch ziemlich viele Gedichte von ihm übersetzt. Aber da war auch wieder eine Schwierigkeiten, weil die Rechte von dem Sohn verwaltet wurden in Amerika. Und er hat mir einen Vertrag geschickt, als meine ersten Übersetzungen fertig waren. Er sollte mir einen Dollar bezahlen, dafür hat er sich alle meine Rechte für immer geholt, was ich auch von Brecht übersetzte, gehörte ihm. Und den Dollar habe ich auch nicht bekommen.

    Den Grund, warum er Gedichte, warum er überhaupt schreibe, verrät Michael Hamburger in seinen "Erinnerungen". Früher oder später werde fast alles über das Leben eines Menschen vergessen, von demjenigen, der es lebte und von den anderen. Das große Geheimnis des geschriebenen Wortes liege deshalb in seiner Fähigkeit, der biologischen Zeit zu widerstehen und seine eigenenzeitliche Dimension zu schaffen, die Dimension, die den Menschen vom Tier unterscheide.


    Michael Hamburger
    Aus dem Tagebuch der Nicht-Ereignisse
    Folio Verlag, 140 S., EUR 18,-