Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Gelehrte Aufzählungen ohne Idee

Tymofiy Havrylivs Roman "Wo ist dein Haus, Odysseus?" ist misslungen: Namedropping, prätentiöse Bildungshuberei der übelsten Sorte. Keine Handlung, keine Idee.

Von Uli Hufen | 04.02.2010
    Aus Fehlern lernt man und schlechte Bücher können interessante Fragen aufwerfen. Ein solcher Fall liegt hier vor. Tymofiy Havrylivs Roman "Wo ist dein Haus, Odysseus?" ist ein misslungener Roman. Man muss das so deutlich sagen. Nicht weil er sprachlich schwach wäre und allzu offensichtlich auf kommerziellen Erfolg abzielte. Beides kann man Havryliv nicht vorwerfen. Der Lemberger Germanist kann mit Wörtern umgehen, und dass er beim Schreiben auch nur eine Sekunde daran gedacht hätte, wie sich sein Werk wohl verkaufen mag, ist unwahrscheinlich. "Wo ist dein Haus, Odysseus?" ist ein schlechter Roman, weil er das Kunststück fertig bringt, ebenso langweilig wie prätentiös zu sein.

    "Wo ist dein Haus, Odysseus?" gibt vor, von den Reisen seines Ich-Erzählers durch Europa zu berichten. "Ein Odysseus unserer Zeit", wie der Klappentext blumig formuliert, "bricht auf. Sein Meer heißt Europa, sein Ithaka ist die Ukraine."

    Das klingt vielversprechend: Der Russe Eduard Limonow oder die Kroatin Dubravka Ugresic haben in Büchern wie "Fuck Off America" beziehungsweise "Das Ministerium der Schmerzen" gezeigt, wie viel Kluges und Neues der Blick reisender oder in den Westen emigrierter Osteuropäer offenbaren kann. Der Fall der Ukraine ist mindestens ebenso spannend, wie der des zerfallenen Jugoslawien, weil die Ukraine bis heute zwischen den Welten steht: Glaubt man den Sonntagsreden der Politiker, so ist sie als Land willkommen in Europa. Wie die Wahrheit aussieht, erfahren die Ukrainer auf den Konsulaten der EU-Staaten in Kiew. Trotz aller Visa-Schikanen arbeiten mehrere Hunderttausend Ukrainer illegal in der EU, als Putzhilfen, Pflegekräfte, Kellner und Prostituierte.

    Dieser Alltag ukrainischer Migranten in Europa böte für einen Roman gutes Material; auch die Berichte eines aufmerksamen Reisenden wären potenziell vielversprechend. Tymofiy Havyrliv verspricht beides, löst das Versprechen aber nicht ein. Zunächst mal ist sein Roman kein Roman im landläufigen Sinne. Es gibt keine Handlung, es gibt, abgesehen vom Ich-Erzähler keinerlei tragende Figuren, die Städte, in denen sich der Erzähler aufhält, bleiben namenlos. "Wo ist dein Haus, Odysseus?" ist eine lange Abfolge kurzer Texte, in denen Havryliv ziemlich beliebig über Gott und die Welt schreibt. Die folgende Passage aus dem Kapitel "Das Fest des Kaufens und Verkaufens" ist für seinen Stil exemplarisch:

    Meine Aufmerksamkeit wurde von den Fahnen in Anspruch genommen. Sie hingen überall: vor Ämtern und Tankstellen, Geschäften und Denkmälern, auf Kreuzungen und an Haltestellen, entlang der Straßen und Brücken, von den Balkons politischer Parteizentralen und privater Unternehmen, aus den Fenstern des Zivilinvalidenverbands und der Investoren der Hypothekenbank, der Gesellschaft der Hundezüchter und der Initiative zum Verbot von Kampfhunden, der Vereinigung der Jäger und der Bewegung gegen die Waljagd, der internationalen Freundschaftsgesellschaft und des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit, der Redaktionen der Musikzeitschrift "Grammophon" und der Literaturzeitschrift "Graphoman", auf der Spitze des Schlossbergs und auf seinen Terrassen, sogar die Straßenbahnen fuhren mit Fähnlein geschmückt.

    Was Havyrliv hier tut, hat mit Beobachtung nicht das Geringste zu tun. Er beschreibt keine realen Fahnen in einer realen Stadt, genauso wenig wie er später den realen Ausverkauf in einem realen Kaufhaus beschreiben wird. Der Ausverkauf, das Kaufhaus, die Fahnen - all das sind schlicht Signalbegriffe, die in Havryliv den Drang auslösen, Worte aneinanderzureihen. Viele Worte. Die Aufzählung ist das Grundprinzip seiner Arbeit. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn das Ergebnis ästhetisch aufregend wäre, witzig oder verblüffend. Doch was Tymofiy Havryliv produziert ist: Langeweile.

    Aus unerfindlichen Gründen hat Havryliv Freude an schalen Wortspielen wie "Interieur-Exterieur-Foxterrier" oder "Lexus-Faxus-Kaktus". Er macht aus MacDonalds MacRonalds, schwafelt von schlitzäugigen Samsungs und einem Micro Sensitive System namens KGB.

    Vollends unerträglich wird das Buch durch einen dichten Schleier literarischer Anspielungen, der über all den misslungenen Witzen, endlosen Aufzählungen und pseudophilosophischen Schlaumeiereien liegt wie ein Grabtuch. Unter Kafka und Homer geht gar nichts. Die Geliebte des Erzählers heißt Milena, Odysseus wird schon im Titel missbraucht und so geht das endlos weiter. Schließlich ist Havryliv Germanist, hat über Konstruktionen mit den modalen Hilfsverben Sollen und Wollen promoviert und seither Celan, Joseph Roth und Georg Trakl übersetzt. Beides, die grammatische und die literarische Bildung, lässt er seine Leser auf Schritt und Tritt spüren. Eine typische Passage, wahllos herausgegriffen, aus dem Kapitel "Hotels am Meer":

    Ich weiß nicht, woher diese meine Nummernphobie kommt: von der Angst vor Irrenhäusern und Wahn? Vor Gulags und Guantanamos, Auschwitz und Mauthausen? Bereza Kartuska? Dem Lukjaniv-Gefängnis? Pol Pot? Vor phantastischen Romanen und gesellschaftlichen Utopien? Der bis zur Perfektion getriebenen Aufklärung oder dem Aufstand gegen sie? Vor ihrer Pervertierung? Perpetuierung? Extrem irrationalen Rationalisierung? Vor dem Eingesperrt-Sein in einem Metallkäfig, a la Ezra Pound? Schließlich bin ich auch Dichter, und sind Reisen denn nicht auch Poesie?

    Man unterdrückt ein Gähnen und hofft. Doch auch aus dieser ach so gelehrten Aufzählung folgt: nichts, gar nichts. Kein Gedanke, keine Idee, nichts. Der Zauber ist vorbei, sobald die Wörter hingeschrieben sind. Es ist die reine Blutsaugerei: Namedropping, prätentiöse Bildungshuberei der übelsten Sorte.

    Und damit sind wir an dem Punkt, wo die Sache interessant wird. Warum ist das so? Warum haben halbwegs junge Schriftsteller aus der Westukraine - der 38-jährige Havryliv hat da einiges gemein mit seinem in Europa viel hofierten Landsmann Juri Andruchowytsch -, warum haben diese Schriftsteller ein derart unstillbares Bedürfnis, die literarischen Experimente der Moderne und der Postmoderne nachzustellen oder doch wenigstens auf Schritt und Tritt zu beweisen, dass sie von diesen Experimenten gehört haben und von ihnen hoffnungslos fasziniert sind? Was spricht da? Die Minderwertigkeitskomplexe einer jungen Literatur, die viel zu viel so schnell wie möglich meint, auf- und nachholen zu müssen, obwohl das absolut niemand von ihr verlangt? Provinzielles Strebertum?

    Man begreift es nicht. In jedem Fall deutet wenig darauf hin, dass der große ukrainische Roman in den Universitäten und Schreibstuben des k.-u.-k.-seeligen Lemberg entstehen wird. Man sollte mal überprüfen, ob nicht irgendwer im Osten der Ukraine an einem großen realistischen Roman über die Kohlegruben und Stahlwerke des Donbass schreibt. Den würde man gerne lesen.

    Tymofiy Havryliv: Wo ist dein Haus, Odysseus?
    Aus dem Ukrainischen von Harald Fleischmann
    Ammann, Zürich, 297 Seiten, 21,95 Euro