Dienstag, 19. März 2024

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Gender in der Literaturkritik
"Im Feuilleton dominieren männliche Kritiker"

In der Literaturkritik gebe es viel zu wenig Frauen, beklagt die österreichische Germanistin Veronika Schuchter. Gesellschaftliche Mechanismen wie die Unterrepräsentation von Frauen oder die Zuweisung "weiblicher", weniger prestigeträchtiger Rollen fänden sich auch im Literaturbetrieb, sagte sie im Dlf.

Veronika Schuchter im Gespräch mit Tanya Lieske | 22.05.2018
    Bücherregal in der Berliner Kiez-Buchhandlung "Lesen & Lesen Lassen" in Berlin-Friedrichshain
    Für Debütantinnen sei es ungleich schwerer, sich in der Literatur zu etablieren, als für ihre männlichen Kollegen, sagte die Germanistin Veronika Schuchter im Dlf (imago stock&people)
    Tanya Lieske: Wenn man "Gender in der Literaturkritik" eingibt, dann spuckt das Internet viel Disparates aus. Darunter mit etwas Glück ein interessanter Aufsatz: Männer werten anders, Frauen auch, heißt es da. Die Germanistin Veronika Schuchter hat diesen Aufsatz geschrieben und sie stellt darin unter anderem folgende These auf: Autorinnen haben es schwerer, in den literarischen Kanon aufgenommen zu werden, weil es zu wenige Kritikerinnen gibt. Veronika Schuchter leitet dazu ein Forschungsprojekt an der Universität Innsbruck. Vor der Sendung habe ich mit ihr gesprochen und ich habe sie gefragt, warum sie sich denn dem Thema "Gender in der Literaturkritik" zugewandt hat.
    Veronika Schuchter: Im Prinzip war das ein disparates Gefühl, dass irgendwas schiefläuft in der Literaturkritik, dass es sehr viel mehr Kritiker gibt, sehr viel weniger Kritikerinnen, dass sehr viel mehr Texte von Autoren besprochen werden als von Autorinnen. Und dann hab ich beschlossen, dass ich mir das genauer anschauen möchte und eben aber nicht nur auf dieser Ebene des Auszählens - das ist etwas, das sehr wichtig ist und das man auch machen muss -, aber eben auch auf Wertungsebene, also gibt es so was wie ein männliches oder weibliches Werten. Und da hab ich zum Anlass genommen Ruth Klügers wunderbaren Essay, den nennt sie "Frauen lesen anders", und da hab ich mich gefragt, wenn Frauen anders lesen, und das legt sie ja sehr überzeugend dar, werten sie dann auch anders.
    "Im Feuilleton etwa 70 Prozent männliche Kritiker"
    Lieske: Um erst mal noch bei der Ebene des Auszählens zu bleiben: Dem Ganzen ist ja ein etwas größer angelegtes Projekt auch, angesiedelt an der Universität Innsbruck, gefolgt. Sie haben über 15 Jahre hin Tageszeitungen ausgewertet: Die "FAZ", "der Standard" ist dabei, die "TAZ" und die "NZZ". Sie haben geschaut, wer kritisiert und was wird kritisiert. Was sind denn die Ergebnisse?
    Schuchter: Also das ist ein Projekt, das jetzt erst so richtig startet, aber wir haben natürlich im Vorhinein schon Auszählungen gemacht, um ein bisschen ein Gefühl zu bekommen. Und da hab ich zum Beispiel eben aus über einen Zeitraum von 15 Jahren drei Jahre rausgenommen und jeweils drei Monate ausgezählt. Das divergiert natürlich das Geschlechterverhältnis der Kritiker und Kritikerinnen von Medium zu Medium, das ist klar, aber im deutschsprachigen überregionalen Feuilleton - das zeigen diese ersten Stichproben - dominieren männliche Kritiker mit circa 70 Prozent auf alle Zeitungen verteilt. Das waren die, die wir hier ausgezählt haben. Nur ungefähr ein Viertel von den Rezensionen stammt also von Frauen und bei den besprochenen Texten, haben wir festgestellt, sieht es nicht besser aus. Auch da kommen wir höchstens auf ein Viertel, häufig liegen wir deutlich darunter.
    Allerdings ist nicht nur die reine Zahl entscheidend, sondern auch weiche Faktoren, wie zum Beispiel die Verteilung prestigeträchtigerer Domänen, Personalisierung: Also welche Kritiker bekommen zum Beispiel fixe Kolumnen, bekommen Radio- oder Fernsehsendungen, wer wird gefragt, wenn irgendein Thema gesellschaftspolitisch relevant ist wie jetzt zum Beispiel die Debatte um den Literaturnobelpreis, wer ist also so was wie ein Gesicht der Literaturkritik und hat Meinungshoheit. Und das sind immer noch größtenteils Männer.
    "Spiegel der Gesellschaft"
    Lieske: Bei der Beschreibung des Erscheinungsbildes konnten Sie auch zu Ursachen vordringen.
    Schuchter: Der Literaturbetrieb und eben auch die Literaturkritik sind ein gesellschaftlicher Mikrokosmos, das heißt, wir finden hier viele Formen und Mechanismen des Geschlechterverhältnisses, wie wir sie in der Gesellschaft als solche auch finden. Das ist Unterrepräsentation von Frauen, das ist Marginalisierung, das ist die Zuweisung, ich sag mal, weiblicher und damit auch weniger prestigeträchtigerer Rollen. So sind weibliche Kritikerinnen etwa bei der Kinder- und Jugendliteratur überrepräsentiert, weil es so ein weiblicher Bereich ist - die Erziehung von Kindern -, bei Texten kanonisierter Autoren hingegen sind sie unterrepräsentiert. Das ist also ein Spiegel der Gesellschaft.
    Lieske: Man kann Kritik ja als Machthandlung verstehen: Der Kritiker, die Kritikerin bemächtigt sich selbst, indem er oder sie urteilt, er oder sie übt aber tatsächlich auch möglicherweise ökonomische Macht aus für den Autor, die Autorin, die besprochen wird. Bleiben wir zunächst mal auf der Seite der Autorin: Eine junge Autorin hat einen Debütroman geschrieben - wann ist ihr Aufmerksamkeit gewiss?
    Schuchter: Man kann da zwei Inszenierungsstrategien feststellen: Das eine, das wir schon länger kennen, ist dieses "Fräulein Wunder". Wenn wir uns zurückerinnern an Judith Hermann, wie die inszeniert wurde - melancholisch, intellektuell, so in der Nachfolge von Virgina Woolf, auch was die Autorinnenporträts anging, die da sehr wichtig ist -, das ist die eine Linie, und das Zweite, was wir mittlerweile häufig feststellen, das ist diese junge, moderne, sexy und feminine Linie wie sie zum Beispiel Vea Kaiser oder Valerie Fritsch repräsentieren.
    Mehr männliche Aufmerksamkeit für männliche Debütanten
    Lieske: Junge österreichische Debütantinnen. Wenn wir Vea Kaiser mal als Beispiel nehmen - "Blasmusikpop" war ein viel beachtetes Debüt: Wer hat das denn besprochen, wie viele Männer, wie viele Frauen?
    Schuchter: Hier sieht man einen deutlichen Unterschied, dass Debüts von Frauen hauptsächlich von weiblichen Kritikerinnen besprochen werden, das geht bis zu 90 Prozent. Debüts von Männern werden auch häufiger von Frauen besprochen, weil sie einfach noch nicht so etabliert sind, aber trotzdem werden sie schon deutlich häufiger von Männern besprochen. Wenn man zum Beispiel Vea Kaiser und Clemens Setz, ihre Debüts anschaut, dann sind wir bei Setz bei 60 Prozent Männer, bei Vea Kaiser sind wir bei 20 Prozent Männer.
    Lieske: Also der männliche Debütant erregt mehr die Aufmerksamkeit des männlichen Kritikers. Wie inszeniert sich denn der männliche Debütant im Vergleich zu der Debütantin?
    Schuchter: Wesentlich selbstbewusster, würde ich sagen. Er wird auch so inszeniert. Also das ist ja nicht nur immer eine Eigeninszenierung, sondern das kommt ja von vielen verschiedenen Seiten. Da gibt es auch natürlich zwei verschiedene Schienen: Die eine ist die, in die Clemens Setz reinfällt, auch dieses ein bisschen Nerdige, das ganz gut ankommt, und dann haben wir aber schon noch diese Schiene, wie sie zum Beispiel Glavinic von Anfang an gefahren ist, diese, ja, hypertrophe Männlichkeit, die da inszeniert wird.
    Lieske: Also Ihr Befund ist auf der Autorenseite, die Inszenierung des eigenen Genders, der eigenen Maskulinität, der eigenen Femininität hilft dazu mit, Aufmerksamkeit zu erregen für das Buch, wobei Aufmerksamkeit schneller generiert wird, wenn der Debütant männlich ist. Was passiert denn nun, wenn eine Autorin kanonisiert ist, das heißt, ihr Werk ist als gültig betrachtet, ihr Werk hat möglicherweise sogar Ewigkeitscharakter wie Christa Wolf - wer hätte einen Roman von Christa Wolf besprochen?
    "Frauen erreichen schwerer den Status der Kanonisierung"
    Schuchter: Hier zeigt sich dann plötzlich, dass dieses Gefälle absolut kippt. Sobald eine Autorin etabliert ist wie zum Beispiel Christa Wolf, haben wir die gleichen Zahlen, wie wir sie allgemein haben, also dass ungefähr ein Viertel von Frauen besprochen wird, der Rest aber von Männern oder noch sehr viel stärker dieser Unterschied, abgesehen davon, dass es sehr viel schwieriger ist für Frauen, dass sie überhaupt in diesen Status der Kanonisierung hineinkommen. Das sieht man zum Beispiel bei den Debütantinnen und bei den Debütanten: Weibliche Debütantinnen gibt es schon sehr viele, allerdings dieser zweite Schritt dann, der zweite Roman, der dritte Roman hin zur Kanonisierung, wie wir es zum Beispiel bei Daniel Kehlmann hatten, wie wir es bei Setz hatten, der Erfolg bei Frauen wesentlich seltener.
    Lieske: Das ist ein bisschen wie bei den Universitäten: Es sind sehr viele Frauen am Start, aber weniger schaffen es nach oben.
    Schuchter: Ja, genau.
    "Männliche Kritiker beanspruchen für sich die Meinungshoheit"
    Lieske: Sie haben Printprodukte angeschaut, große überregionale Tageszeitungen - wenn wir jetzt mal noch die mediale Kritik dazunehmen - sehr beliebt sind ja Talkrunden im Fernsehen, der Buchclub in der Schweiz - wie sieht es da aus für die Kritikerin und den Kritiker?
    Schuchter: Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen der schriftlichen Literaturkritik, die ja monologisch ist, und denen im Fernsehen, vor allem, wenn es sich um Diskussionsformate wie "Das Literarische Quartett" in Deutschland handelt oder den Schweizer Literaturclub. Das sind Kommunikationsformen, die sind dialogisch und viel stärker an unserer Alltagskommunikation dran. Und da merkt man den Faktor Geschlecht sehr viel deutlicher, etwa wenn zum Beispiel männliche Kritiker sich stärker mit männlichen Protagonisten identifizieren. Oder sehr viel häufiger hat man es da, dass da Bücher als Männer- oder Frauenlektüre bezeichnet werden, bis hin zur Art der Kommunikation, zum Beispiel, dass Frauen, wenn sie sprechen in Talkrunden, häufiger unterbrochen werden, dass männliche Kritiker hier für sich die Meinungshoheit beanspruchen.
    Und auch in der Bewertung interessanterweise: Ich hab mir mal ein bisschen angeschaut, wie Kritiker und Kritikerinnen dann im Feuilleton besprochen werden oder auch Leserbriefe, und da gibt es doch deutliche Unterschiede. So gesteht man zum Beispiel einem Maxim Biller bissige Urteile zu oder verlangt sie sogar, bei einer Thea Dorn kommt das schon wesentlich schlechter an.
    Frauen holen bei Veröffentlichungen auf - aber nur im Taschenbuchbereich
    Lieske: Lassen Sie uns noch mal ein paar Folgeerscheinungen betrachten: Wie reagiert denn der Buchhandel, wenn die Kritik - wichtig ist ja vor allem immer noch die Kritik im Zeitungsfeuilleton -, wenn die in männlicher Hand ist, welche Auswirkung hat das auf den Buchhandel?
    Schuchter: Es ist zum Beispiel so, dass Frauen zwar aufholen, was die Veröffentlichungen angeht, aber nur im Taschenbuchbereich. Also das, was sowieso als trivial gilt und abgewertet wird, und das, was im Übrigen auch weniger ökonomisches Kapital bringt, weil ein Taschenbuch kostet weniger, da holen die Frauen eher auf. Der Hardcover-Bereich ist absolut in Männerhand.
    Das Gleiche, ein Bereich, der sehr häufig vergessen wird, sind Übersetzungen. Bei Übersetzungen ist es so, dass viel mehr Männer übersetzt werden als Frauen. Auch wenn man sich anschaut, renommierte Autorinnen eigentlich, wenn man sich den Deutschen Buchpreis anschaut. Autorinnen und Autoren, die den Deutschen Buchpreis bekommen haben, fast alle Männer sind da, ich glaube bis auf einen, bis auf Eugen Ruge, übersetzt worden, bei Frauen ist das Verhältnis sehr viel schlechter.
    Lieske: Hat es Sie überrascht, wie sehr Männlichkeit und Weiblichkeit diesen ja doch intellektuell sehr überbauten Diskurs der Literaturkritik durchdringt?
    Schuchter: Ja, schon, weil man merkt, wenn es um so ein Thema geht wie zum Beispiel Sexualität, wenn Geschlecht eine große Rolle spielt in einem Text, wie schwierig es da ist, die eigene Person rauszuhalten, weil es uns ja immer irgendwie betrifft.
    "Der renommierte Bereich bleibt in Männerhand"
    Lieske: Sie beschreiben eine noch sehr stabile Machtpyramide - welche Funktion hat denn das Internet in dem Ganzen? Kommt das Ganze etwas ins Schwanken?
    Schuchter: Na ja, man kann das natürlich als Demokratisierung sehen, das ist ja auch so, nur muss man sehen, diese ganzen Blogs, die es im Internet gibt, das ist ja schon wieder quasi diese Schiene, dass Frauen das zwar machen, aber nicht dafür bezahlt werden, dass sie also sehr viel mehr Eigenkapital aufbringen müssen, sehr viel mehr Gratisarbeit, und dieser renommierte Bereich, der also auch mehr Öffentlichkeit bekommt, der mehr ökonomisches Kapital akkumulieren kann, der bleibt trotzdem in Männerhand. Also es ist schon positiv, diese Demokratisierung, aber es wäre auch schön, wenn quasi dieser ökonomische Bereich und dieser prestigeträchtigere Bereich diese Demokratisierung erfahren könnte.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.