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Gender-Topographien

Gendertopographien: Der Titel von Claudia Liebrands Buch bringt zwei Begriffe zusammen, die auf den ersten Blick nicht recht zueinander zu passen scheinen. "Topographie", das meint die Beschreibung von Örtlichkeiten. Und "Gender", das bedeutet "Geschlecht". Allerdings in rein gesellschaftlicher, nicht in biologischer Hinsicht. Ein Mann, so lautet die Grundthese der noch jungen Gender-Forschung, ist nicht einfach nur ein Mann. Und eine Frau nicht einfach nur eine Frau. Menschen bekommen vielmehr erst durch die Art, wie sie in Szene gesetzt sind, ein Geschlecht zugewiesen: im Leben genauso wie im Film. Nach Meinung der Kölner Germanistikprofessorin und Filmwissenschaftlerin Claudia Liebrand trifft das allerdings nicht nur auf Personen, sondern auch auf Landschaften zu:

Gisa Funck | 23.04.2003
    Im Western kennen wir alle diese Szenerie, dass sich ein Cowboy aufs Pferd setzt und in die Weite der Prärie reitet. Das ist eine Aktion, die genderspezifiziert ist: der aktive und mobile Held dringt in einen weiblich semantisierten Raum ein, der unheimlich, rätselhaft und gefährlich ist. Man kann sagen, dass die Prärie hier den dunklen Kontinent Weiblichkeit figuriert, von dem schon Freud gesprochen hat.

    Sechs Hollywoodfilme aus den letzten sieben Jahren hat die Filmwissenschaftlerin in ihrem Buch ausgewählt, um sie exemplarisch nach Gender-Kritierien abzuklopfen. Unter der Kategorie "Liebesfilm" nimmt sie sich etwa den Englischen Patienten von Anthony Minghella vor.

    In diesem Kassenschlager aus dem Jahr 1996 ist es allerdings nicht die Prärie, die für den männlichen Helden so anziehend wirkt: es ist vielmehr die Wüste. Schon zu Beginn – bei den berühmten Flugaufnahmen – erkennt Liebrand hier in den Sanddünen ein Meer aus Rundungen. Und natürlich ist es für sie auch kein Zufall, dass Almásy - der Wüstenforscher und Hauptheld des Films - seinen entscheidenden Fund in einer Höhle macht, die von außen aussieht wie eine schlafende Frau. Die Wüste im Englischen Patienten ist für Liebrand eindeutig weiblich besetzt. Eine Geschlechtszuweisung mit langer Kinotradition, wie die Gender-Expertin nachweist:

    Die kulturelle Topik der Wüste ist natürlich komplex. Festzuhalten ist aber vor allem, dass die Wüste so etwas wie die prototypische Terra incognita ist. Sie ist ein unzugängliches Gelände, das gefährlich zu betreten und zu erforschen ist. In diesem Zusammenhang lässt sich wiederum auf das Freud-Diktum von der Weiblichkeit als unbekanntem, gefährlichem Kontinent rekurrieren. Es gibt eine ganze Reihe von Wüstenfilmen, die ohne Frauen auskommen. In Lawrence of Arabia gibt es viele Stunden Männer und Wüste, und die Frauenrolle muss nicht besetzt werden, weil die Wüste schon mitspielt.

    Tatsächlich dauert es auch im Englischen Patienten ziemlich lange, bis die Kamera eine Frau in den Sanddünen einfängt. Als Cathrine – die Ehefrau eines anderen Forschers – dann sogar beschließt, vor Ort zu bleiben, ist Almásy tief bestürzt. Die Erforschung der Wüste, das ist für ihn Klar, ist eine reine Männerangelegenheit:

    Almásy: "Clifton! Ihre Frau! Erscheint Ihnen das angebracht, sie zurückzulassen?!" - "Angebracht?!" - "Naja, die Wüste - sie ist...Für eine Frau ist das sehr anstrengend." - "Cathrine ist begeistert. Hat sie mir gestern erst gesagt. - "Na, gut - wenn Sie meinen..." - "Wieso habt ihr Typen eigentlich immer so angst vor Frauen?!"

    Nicht nur an dieser Stelle macht sich Minghellas Film nach Ansicht Liebrands über seine eigenen Rollenklischees lustig. Der Englische Patient bleibt auch sonst – wie alle Filme, die sie bespricht – auffällig widersprüchlich in seiner Gender-Aussage. Einerseits bedient er zwar gängige Rollenmuster. Andererseits aber unterläuft er sie auch ständig wieder. Und spätestens dann, als der Draufgänger Almásy nach seinem Flugzeugabsturz zum titelspendenden, "englischen Patienten" wird, kehren sich die Geschlechtsvorzeichen endgültig um, glaubt Liebrand:

    Dann haben wir den Körper des englischen Patienten. Dieser ist eine lebende Leiche, eine lebende Mumie; er ist tot und lebendig zugleich. Seine Haut ist sandfarben, braun; man kann sagen, dass er selbst ganz wüstenhaft wird und auf die Wüste verweist. Und das ist, wenn man die Bedeutungszuschreibung "Wüste - weiblich" ernst nimmt, eine Semantisierung, die ihn in die Nähe von Weiblichkeitszuschreibungen rückt; er ist dann ja auch ganz leidend, ganz passiv. Dies sind ebenfalls kulturelle Zuschreibungen, die für Frauen Geltung haben.

    Gender-Crossing, Genre-Überlappungen: seit den 80er Jahren zeigt sich das Mainstreamkino Hollywoods von der postmodernen Erkenntnis beeinflusst, dass man Geschichten mit Gültigkeitsanspruch nur sehr schlecht gradlinig erzählen kann. Es häufen sich darum nicht nur Filme, die das Geschichtenerzählen selbst zum Thema machen: Hollywood hält sich seitdem auch immer weniger an hergebrachte Genre-Regeln. Regelverstöße, die nach Ansicht von Liebrand zwangsläufig auch die alten Rollenmuster ins Wanken bringen:

    Gender und Genre sind immer interdependent. Beide haben nicht zufällig denselben lateinischen Wortstamm "Genus". Genres geben immer bestimmte Gender-Konfigurationen vor, und bestimmte Gender-Konfigurationen modellieren Genres. Wenn ich an der Gender-Schraube drehe, dann heißt das, dass ich notwendig das Genre verändere. Wenn ich an der Genre-Schraube drehe, verändere ich immer auch Gender. Es gibt also Wechselwirkungen.

    Der Blick auf die Geschlechtsverhältnisse - so Liebrands These - sagt also immer auch etwas darüber aus, ob sich Filme an ihre Genrevorgaben halten. Ob sie tatsächlich noch jene klassischen Western sind, Krimis oder Actionfilme, als die sie angepriesen werden. Wenn aus einem heterosexuellen Helden im Kino plötzlich ein Homosexueller wird wie in Talented Mr. Ripley, dann – so Liebrand – zeigt das auch, dass der Krimi eigentlich gar kein Krimi mehr ist. In Minghellas Film von 1999 ermordet Tom Ripley sein Opfer Dickie aus purer Eifersucht: die Romanvorlage von Patricia Highsmith wird im Film dadurch vom Thriller zum Schwulendrama, urteilt Liebrand. Da mag der Regisseur noch so oft jeglichen Hinweis auf Homoerotik abgestitten haben:

    Ich denke, dass der Film eine ganze Reihe von Bildern bereitstellt, die diese Boy-meets-Boy-Geschichte in Szene setzen. Es gibt zum Beispiel eine Einstellung nach Dickies Ermordung, wo der tote Dickie im Boot liegt und neben ihm, ihn innig umarmend, Tom Ripley. Alles ist in Blut getaucht. Und wir wissen: das ist das Paar, um das es wirklich geht.

    Auch in Pearl Harbour - dem derzeit dritterfolgreichsten Film auf DVD überhaupt - geht es um eine Männerfreundschaft, die nach Liebrands Analyse allzu innig ausfällt. Pearl Harbour handelt, wie der Titel schon sagt, vom zweiten Weltkrieg. Damit gehört er für Liebrand zu einer Sorte Film, in der männliche Verbundenheitsgefühle automatisch eine große Rolle spielen:

    Kriegsfilme sind natürlich besessen von Explosionen, von Penetrationen, von Bomben. Nicht in allen Kriegsfilmen ist allerdings das inszenierte Homosexualitätskonzept so auffällig wie in 'Pearl Harbour'. Natürlich versucht der Film Nationalgefühl, Patriotismus und Familienwerte etcetera zu predigen. Das Interessante ist aber, dass er etwas anderes praktiziert. Der Film predigt zwar Familienwerte, aber er erzählt uns gleichzeitig davon, wie schön schwule Beziehungen sind.

    Ähnlich wie in Talented Mr. Ripley entdeckt Liebrand auch in Pearl Harbour jede Menge homoerotischer Anspielungen. Der Angriff der Japaner auf Pearl Harbour kommt für sie einem homosexuellen Vergewaltigungsakt gleich. Die gemeinsame Leidenschaft der beiden Freunde Rave und Danny – das Kampffliegen – ist ein Vergnügen höchst phallischer Symbolkraft. Und Sätze wie: "Komm schon!" "Ich hab‘ ihn!" Oder: "Sie sind direkt hinter mir!" werden von ihr klar anzüglich gelesen. Das klingt nicht immer überzeugend. Der Schlüssigkeit ihrer Argumentation aber kann man sich nicht entziehen. Denn dass Rave und Danny sich tatsächlich auffällig oft küssen und umarmen, dass beide sich dieselbe Freundin teilen – und alle ihre Frauenverabredungen grundsätzlich als Lachnummer enden: das kann man auch so – ohne Genderblick - beobachten. Die entscheidende Kusszene zwischen Rave und seiner Freundin Ev gerät regelrecht zum Slapstick: Rave knallt sich dabei einen Champagnerkorken an die Nase:

    Rave: "Ich wollte Ihnen nochmal danken!" - Knallen eines Korkens - Rave: "Oh, Gott – tut das weh, das tut brutal weh!" Ev: (lacht) "Sie bluten ja!" Rave: "Tut mir leid! Ev: "Halten Sie still!" Rave: "Ich bekomme keine Luft mehr!" Ev: "Psst! Halten Sie still!" Rave: "Sie sind so wunderschön, dass es schon wehtut!" Ev: "Das ist nur ihre Nase!" Rave: "Ich glaube, es ist das Herz!"

    Vom typischen Hollywoodversprechen der einzig wahren Liebe zwischen Mann und Frau ist in Pearl Harbour überraschend wenig übrig geblieben. Ausgerechnet in diesem Film, der eigentlich für die Verteidigung der amerikanischen Kleinfamilie eintritt, hapert es beim Dialog der Geschlechter:

    Es ist bemerkenswert, wie heterosexuelle Liebe hier ironisiert wird. Schauen wir uns 'Pearl Harbour' an: Da ist alles, was mit romantischer Liebe zwischen Frauen und Männern zu tun hat, eine Anhäufung von Missverständnissen, von komischen Situationen und tapsiger Unbeholfenheit. Es wird ganz deutlich, dass heterosexuelle Liebe nach einem Code funktioniert, den man zitieren muss. Und das sind alles Sachen, die für Männerbeziehungen nicht gelten. Männerfreundschaften werden als emotional tief und anrührend dargestellt. Frauen-Männerbeziehungen sind hingegen schwierig, sind komisch, sind slapstickhaft, werden ironisiert, funktionieren nicht.

    Der Englische Patient , Talented Mr. Ripley und vor allem Pearl Harbour : das sind drei von sechs analysierten Filmen, die in Claudia Liebrands Buch alle mehr oder weniger eine auffälliger Widerspruch zwischen Gender-Botschaft und Gender-Darstellung kennzeichnet. Das macht die Lektüre so spannend, auch wenn die geschlechtlichen Zuschreibungen manchmal arg bemüht wirken. Und ob Geschlechtsunterschiede nun wirklich die beste Kategorie sind, unterschwelligen Filmbotschaften auf die Schliche zu kommen?! Nun ja, darüber kann man sicher streiten. Unstrittig interessant hingegen ist Liebrands Schlussfolgerung. Danach beschwören Hollywoodfilme zwar gern und oft tradtionelle Familienwerte: ihre Plots aber folgen längst ganz anderen Maßgaben des Liebes- und Zusammenlebens.