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Genealogie der Leidenschaft

Von den Gedanken des Philosophen Arthur Schopenhauers inspiriert, hat der britische Autor D.H. Lawrence vor hundert Jahren einen Roman über Liebe, körperliches Verlangen und Leidenschaft geschrieben, der auch heute noch modern wirkt.

Von Michaela Schmitz | 10.07.2011
    In seinem Roman "Sons and Lovers" beschreibt der britische Autor D.H. Lawrence die Geburt des Liebeskampfes aus dem Geist der Welt als Wille und Vorstellung. "Söhne und Liebhaber" stellt die Geschichte der Familie Morel als Genealogie der Leidenschaft dar. Im Begehren verschaffe sich der überpersönliche Wille zum Leben Geltung, so Arthur Schopenhauer in seiner Metaphysik der Geschlechtsliebe. Das leidenschaftliche Verlangen als wahnhafter Ausdruck des Fortpflanzungstriebes diene allein dem Überlebenswillen der Gattung - nur selten zum Vorteil des Liebenden.

    Freunde des Autors betonen die starke Wirkung des Philosophen auf den angehenden Schriftsteller. Schon 1907, in seinem zweiten Studienjahr an der Universität von Nottingham, habe sich Lawrence unter anderem mit dessen Metaphysik der Geschlechtsliebe beschäftigt, schreibt seine damalige Freundin Jessie Chambers später.

    Mittelpunkt seines 1913 erschienenen autobiografienahen Romans "Söhne und Liebhaber" ist die Mutter. Als junge Frau aus gutbürgerlichem Haus verliebt sich die intelligente Gertrude Coppard in einen Mann aus der Unterschicht. Der lebenslustige Bergarbeiter Walter Morel bezaubert die im puritanischen Milieu aufgewachsene Gertrude durch seine sinnliche körperliche Präsenz. Doch ihre Leidenschaft kühlt rasch ab. Das entbehrungsreiche Leben in der Bergarbeitersiedlung mit einem Mann, der nur mit Mühe die Zeitung buchstabieren kann, verschafft ihr keine Befriedigung.

    Die Welt schien ein trister Ort, an dem ihr nichts mehr bevorstand - jedenfalls nicht (...), bis die Kinder erwachsen wären. (...) Der Vater schenkte in einem Wirtshaus Bier aus und soff sich dabei voll, bis er sturzbetrunken war. Sie verachtete ihn und war doch an ihn gefesselt. (...) Ihre Mädchenzeit schien in weiter Ferne zu liegen, so dass sie sich fragte, ob diejenige, die jetzt schweren Herzens durch den Hintergarten in den Bottoms ging und diejenige, die zehn Jahre zuvor so leichtfüßig über den Wellenbrecher in Sheerness gehüpft war, wirklich ein und dieselbe Person waren. "Was habe ich damit zu schaffen?", fragte sie sich. "Was habe ich mit alledem zu schaffen? (...)" Manchmal packt einen das Leben, reißt den Leib mit sich fort, vollendet die eigene Geschichte und ist doch nicht wirklich, sondern lässt das Ich so zurück, als wäre es verwischt. "Ich warte", sagte sich Mrs Morel. "Ich warte, und das, worauf ich warte, tritt niemals ein."

    Zwischen den gegensätzlichen Eheleuten bricht ein aufreibender, manchmal sogar körperlich brutaler Kampf aus. Die vermeintliche Harmonie der Seelen löse sich oft nicht lange nach der Hochzeit in schreiende Disharmonie auf, bestätigt Schopenhauer. Aber aus der ursprünglichen Leidenschaft zu ihrem Mann sind bereits Kinder hervorgegangen - "according to the doctrine of Schopenhauer", wie es in einer vom Autor selbst durchgestrichenen Ergänzung einer frühen Manuskript-Fassung heißt. Mrs. Morels einzige Hoffnung richtet sich daher auf ihre Söhne. Als sie heranwachsen, erwählt sie sie zu ihren Liebhabern.

    Ihr ältester Sohn William entwickelt sich zu einem klugen und sportlichen jungen Mann von großer, kräftiger Statur. Er glänzt nicht nur als Klassenbester, sondern auch als Sieger lokaler Radrennen und Wettläufe. Auch in seinem Bürojob macht William schnell Karriere. Doch zur Sorge seiner Mutter besucht der attraktive Sohn auch gerne Tanzveranstaltungen, ganz wie sein Vater in jungen Jahren. Mrs. Morel ist eifersüchtig auf seine Damenbekanntschaften und hat Angst vor den Folgen.

    Seine Mutter, die über ihn wachte und auf ihn wartete, verspürte einen leichten Kälteschauer im Herzen. Würde er Erfolg haben? Ihrem Stolz auf ihn war ein Gran Sorge beigemischt. Sie hatte so lange auf ihn gewartet, dass sie es nicht ertragen könnte, falls er missriet. Sie wusste nicht, was sie von ihm wollte. Vielleicht wollte sie nur, dass er er selbst war, sich entwickelte und alles verwirklichte, was sie in ihn hineingelegt hatte. In ihm sah sie die Erfüllung ihres Lebens, das war alles. ( ... ) Manchmal entgleiste er und war genau wie sein Vater. Dann verließ sie der Mut vor lauter Bestürzung und Besorgnis. ( ... ) sie hatte große Angst, wegen eines seichten Flittchens könnte er auf die Nase fallen.

    Doch ihre Befürchtungen scheinen unbegründet. William hat zwar Dutzende von Techtelmechteln, aber keins davon kommt einer Liebesaffäre nahe. Und ihr Ältester versichert ihr, er werde nicht heiraten; oder doch erst, wenn er eine Frau wie sie kennenlerne. Auch Williams beruflicher Ehrgeiz zahlt sich aus. Eine Londoner Anwaltskanzlei bietet ihm eine außerordentlich gut dotierte Stelle an. Doch sein Fortgehen schmerzt die Mutter mehr, als sie sein Erfolg freut.

    In der Großstadt verkehrt William in gehobenen Kreisen. Trotzdem verliebt er sich in eine kleine Sekretärin. Die Leidenschaft für das kokette, ungebildete Mädchen kostet ihn sein ganzes Einkommen - aber noch mehr Lebenskraft. Er fühlt: Die ungleiche Verbindung ist sein Unglück. Aber er kann nicht von ihr lassen. Was ihn an sie bindet, deutet er der besorgten Mutter nur an.

    Auch die befriedigte Leidenschaft, unterstreicht Schopenhauer, untergrabe nicht selten die persönliche Wohlfahrt des Liebenden und zerstöre oft sämtliche Lebenspläne. Williams Vitalität jedenfalls leidet sichtbar unter der unglücklichen Beziehung zur schönen Lily. Der Liebeskampf fordert schließlich seinen Tribut: William bekommt eine Lungen- und Nervenentzündung. Er stirbt innerhalb weniger Tage. Mrs. Morel droht daran zu zerbrechen. Doch kurz nach seiner Beerdigung erkrankt auch ihr zweitältester Sohn Paul schwer. Ihre Sorge um ihn rettet sein und nicht zuletzt auch ihr Leben.

    Nun klammerte sich Mrs. Morel an Paul. Er war still und glänzte nicht. Er blieb seiner Malerei treu, und er blieb seiner Mutter treu. Alles, was er tat, tat er für sie. Abends wartete sie auf seine Rückkehr, und dann schüttete sie ihm ihr Herz aus: Worüber sie gegrübelt hatte, was ihr im Lauf des Tages widerfahren war. Er saß da und hörte ihr ernst zu. Die beiden teilten ein Leben.

    Paul ist ein ziemlich kleiner und zierlich gebauter Junge mit dunkelbraunem Haar und hellblauen Augen. Er entwickelt sich zu einem aufgeweckten jungen Mann ohne großen Ehrgeiz. Nach der Schule beginnt er als Bürogehilfe in der Stützstrumpfabteilung bei Jordans Fabrik für orthopädische Hilfsmittel. Seine Freizeit verbringt er zu Hause bei seiner Mutter und mit dem Malen. Bei Malwettbewerben gewinnt er mehrfach erste Preise.

    Auf einem gemeinsamen Ausflug nach Willey Farm lernt Paul die junge Miriam kennen. Die ländliche Idylle bezaubert ihn sofort. Das etwas sonderbare Mädchen fällt ihm am Anfang kaum auf. Miriam ist sehr fromm. Sie neigt dazu, allem und jedem eine religiöse Bedeutung zu geben. Das gefällt Paul. Aber ihre mystische Natur macht ihm gleichzeitig auch ein bisschen Angst. Trotzdem trifft er sich immer häufiger mit Miriam auf dem Bauernhof und in der Gemeindebibliothek.

    Keiner von beiden will ihre beginnende Liebe füreinander wahrhaben. Aber Pauls Mutter ist eifersüchtig und besorgt: Sein Verhältnis zu Miriam sei wie ein mit Büchern genährtes Feuer. Miriam raube die Seele ihres Sohnes und verdränge sie selbst aus seinem Herzen. Paul fühlt sich zwischen Miriam und seiner Mutter hin- und hergerissen. Und er empfindet Miriams unkörperliche, unsinnliche Liebe zunehmend als Bedrohung. Das keusche Mädchen sieht ihn als Jünger Christi, nicht als Mann. Ihre größte Sehnsucht ist die mystisch-erotische Vereinigung ihrer beider Seelen:

    Sie wollte ihm eine bestimmte Wildrose zeigen (...). Fast leidenschaftlich wünschte sie, zusammen mit ihm vor den Blüten zu stehen. Sie würden miteinander eins werden - etwas, das sie erschauern ließ, etwas Heiliges. (...)
    Es war ganz still. Der Strauch war hoch und ausladend. ( ... ) Stumm standen Paul und Miriam dicht beieinander und schauten. Stern um Stern leuchteten die Rosen ihnen entgegen und schienen etwas in ihren Seelen zu entfachen. (...) Paul sah Miriam in die Augen. Sie war blass und erwartungsvoll vor Staunen, ihre Lippen waren geöffnet, und offen standen ihre dunklen Augen vor ihm. Sein Blick schien in sie einzudringen. Ihre Seele bebte. Dies war die Einswerdung, die sie ersehnte. Wie gepeinigt wandte er sich von ihr ab und dem Strauch zu.


    Paul fühlt: Miriam sieht die Welt als Klostergarten. Für sinnliches Begehren und damit für ihn als ganze Person ist da kein Platz. Verzweifelt kämpft er gegen sein immer stärker werdendes körperliches Verlangen. Seine widersprechenden Gefühle drohen ihn zu zerreißen. Im einen Moment liebt, im nächsten Moment hasst er Miriam - und kommt doch nicht von ihr los.

    Wenn ein leidenschaftlich Liebender trotz allem Bemühen und Flehen unter keiner Bedingung Erhörung finden könne, erklärt Schopenhauer, vertrage sich Liebe schließlich sogar mit dem äußersten Hass gegen ihren Gegenstand. Auch bei Paul scheint sich eine Fortsetzung des Liebeskriegs im Dienste des Weltwillens auf Kosten des persönlichen Glücks anzubahnen. Nur zeitweise findet er in seiner von Miriam bewunderten Malerei Entspannung.

    Kunst könne zwar, laut Schopenhauer, als zeitweiliges "Beruhigungsmittel des Willens" wirken. Doch immer wieder bricht der Konflikt neu aus. Nach einer ersten großen Krise um die Osterzeit beginnt Paul fast verzweifelt, wie ein echter Liebhaber um sie zu werben. Doch seine Leidenschaft dringt nicht bis zur nonnenhaften Miriam durch. Im symbolisch überhöhten Bild der Kirschernte auf dem Hof wird die Unvereinbarkeit ihrer gegensätzlichen Naturen unübersehbar:

    Paul stieg hoch hinauf in den Baum, über die roten Dächer der Gebäude. Mit sachter, erregender Bewegung, die das Blut aufreizte, wiegte der unablässig stöhnende Wind den ganzen Baum. Der junge Mann, der unsicher in den schlanken Ästen hockte, schwang hin und her, bis er das Gefühl leichter Trunkenheit hatte, griff in die Zweige, an denen dicht wie Perlen die scharlachroten Kirschen hingen, und pflückte Handvoll um Handvoll der glatten, kühlen, fleischigen Früchte. Wenn er den Arm ausstreckte, berührten die Kirschen seine Ohren und seinen Hals, und ihre kalten Fingerkuppen fuhren ihm wie Blitze durchs Blut. Sämtliche Rottöne, von goldenem Zinnoberrot bis zu reichem Karmesinrot, glühten im Dunkel des Blattwerks auf und trafen seinen Blick. (...) Verwundert trat Miriam aus dem Haus. (...) "Wie hoch oben du bist!", sagte sie. Neben ihr, auf den Rhabarberblättern, lagen vier tote Vögel, Diebe, die erschossen worden waren. Paul bemerkte einige Kirschkerne, die ausgebleicht wie Gerippe, von denen das Fleisch gepickt ist, herabhingen. (...)
    Dann sank das Scharlachrot zu Rosa herab, Rosa zu Karmin, und rasch schwand alle Leidenschaft vom Himmel. Die ganze Welt war dunkelgrau. Hurtig kletterte Paul mit seinem Korb nach unten und zerriss sich dabei den Hemdsärmel.


    Erst als Miriam spürt, dass sie Paul ganz zu verlieren droht, ist sie bereit, ihm ihre Unschuld zu opfern. Gelegenheit finden sie in dem für eine Weile leer stehenden Cottage ihrer Großmutter. Und für einige glückliche Tage scheint Paul ein Zusammenleben als Mann und Frau plötzlich vorstellbar. Doch Miriams Befürchtung bewahrheitet sich: Selbst die erfüllte Leidenschaft verschafft Paul auf Dauer keine Befriedigung.

    Wieder einmal kehrt er zu seiner Mutter zurück. Aber nicht für lange Zeit. Ausgerechnet Miriam bringt ihn in Kontakt mit Mrs. Dawes. Die geschiedene, kinderlose Clara begehrt er vom ersten Moment an; auch wenn ihn die Ansichten der im Suffragettenmilieu verkehrenden Frau zeitweise befremden. Paul ist mittlerweile Abteilungsleiter der Stützstrumpfabteilung. Er verschafft der mittellosen Clara eine Anstellung bei Jordans. Sie sehen sich dort täglich und verabreden sich nach der Arbeit zu Spaziergängen. Schon nach wenigen Treffen quält Paul ein unwiderstehliches Verlangen nach der sinnlichen Frau. Sein Begehren bleibt nicht lange unerwidert. Bei Clara scheint er sofort zu finden, was er bei Miriam lange Zeit vergeblich gesucht hatte: die von ihm lange ersehnte Feuertaufe der Leidenschaft.

    Sie stiegen weiter den steilen, schlüpfrigen roten Pfad hinauf. Sogleich ließ sie seine Hand los und legte sie um ihre Taille. (...) Seine Fingerspitzen fühlten das Schaukeln ihrer Brüste. Alles war still und verlassen. Zur Linken zeigte sich in den Lücken zwischen den Stämmen der Ulmen und ihren Zweigen das nasse rote Ackerland. Rechts sahen sie die Wipfel der Ulmen in der Tiefe und hörten bisweilen das Gurgeln des Flusses. Manchmal erhaschten sie einen Blick auf den vollen, sanft dahingleitenden Trent und auf die mit kleinen Rindern gesprenkelten Flussauen. (...) Die Auen tief unter ihnen waren sehr grün. Still und furchtsam standen die beiden dicht aneinandergedrängt, ihre Körper berührten sich der ganzen Länge nach. Vom Fluss drunten ertönte ein rasches Gurgeln. (...) Paul (...) steuerte auf eine kleine Terrasse am Fuße eines Baumes zu. Dort wartete er auf sie, lachend vor Erregung. (...) Er grub seinen Mund in ihren Hals und fühlte ihren schweren Pulsschlag unter seinen Lippen. Alles war vollkommen still. An diesem Nachmittag gab es nichts als sie beide. Als sie aufstand, sah er (...) die nassen schwarzen Buchenwurzeln mit unzähligen scharlachroten Nelkenblütenblättern (...), die wie Blutspritzer aussahen. Und kleine, rote Spritzer fielen von ihrem Busen und rieselten an ihrem Kleid herab bis zu ihren Füßen.

    Während Pauls Zuneigung rasch abkühlt, wächst Claras Liebe zunächst noch an - ganz gemäß Schopenhauers These, dass im Gegensatz zur Frau die Liebe des Mannes von dem Augenblick an merklich sinke, wo sie Befriedigung erhalten habe.

    Doch auch Claras Liebesfeuer erlischt mit der Zeit. Sie fühlt sich von Paul nicht verstanden. Eines Tages fragt sie ihn ganz direkt, ob er glaube, dass der Liebesakt wirklich die Sache wert sei? Schließlich beginnt auch zwischen Clara und Paul ein beide Seelen aufreibender Kampf. Clara sehnt sich nach ihrem früheren Mann. Und während eines gemeinsamen Urlaubs am Meer wundert Paul sich plötzlich selbst: Warum fesselt sie mich so?

    Er muss Clara Recht geben: Wenn er anfange sie zu lieben, sei die Erregung meist so stark, dass sie Verstand und Seele mit sich reiße. Er selbst sei dann ein einziger großer Instinkt, nicht seinem Willen unterworfen, sondern in sich lebendig wie die Sterne oder die kraftvollen Gräser. Aus ihr selbst mache er sich in diesem Moment gar nichts.

    Hinter dem Liebeswahn, bestätigt Schopenhauer in seiner Metaphysik der Geschlechtsliebe, verberge sich in Wahrheit der Instinkt zur Erhaltung der Art. Aber weil sich die Gattung zum Individuum verhalte wie ein Unendliches zum Endlichen, habe der Liebende das Gefühl, in Angelegenheiten von transzendenter Wichtigkeit zu handeln. Das sei es, was den Verliebten so hoch über alles Irdische, ja über sich selbst emporhebe. Denn im Liebesakt überschreitet der metaphysische Lebenswillen der Natur das begrenzte Dasein des Subjekts. Auch Paul fühlt, während ihrer leidenschaftlichen Begegnung, ...

    (...) war für ihn nicht mehr Clara dort in der Dunkelheit, sondern nur eine Frau, etwas Warmes, das er liebte und fast vergötterte. Aber Clara war es nicht. (...) Die ganze Zeit über kreischten die Kiebitze im Feld. Als er wieder zu sich kam, wunderte er sich, was da, gebogen und lebensvoll, im Dunkeln so nahe vor seinen Augen war und mit welcher Stimme es sprach. (...) Die Wärme war Claras wogender Atem. Er hob den Kopf und sah ihr in die Augen. (...) Was war sie? Ein starkes, fremdes, wildes Leben, das zusammen mit dem seinen diese Stunde im Dunkeln durchatmete. Dies alles war so viel größer als sie selbst, dass er verstummte. Sie waren einander begegnet und hatten den Wuchs der Grashalme, den Ruf des Kiebitzes, das Rad der Sterne in ihre Begegnung eingeschlossen. (...) Und nach einem solchen Abend waren sie beide sehr still, hatten sie doch die Unermesslichkeit der Leidenschaft erfahren.

    Auch wenn Paul die Leidenschaft für Momente als kosmische Auflösung der Begrenztheit des Subjekts im Universum zu erleben scheint - Erlösung erfährt er im religiös überhöhten Pansexualismus letztendlich nicht. Vielleicht verzichtet er deshalb am Ende nicht nur auf Clara, sondern bringt sie sogar wieder mit ihrem Ehemann zusammen.

    Doch erst als seine krebskranke Mutter stirbt, scheint auch für ihn selbst ein Neuanfang möglich. Obwohl, oder vielleicht gerade weil mit ihrem Tod sein einziger echter Halt verloren gegangen ist. Noch einmal denkt er an eine Heirat mit Miriam. Doch die hat sich bereits für ein Leben als Lehrerin entschieden. In seiner letzten Hoffnung getäuscht, dem Selbstmord nahe, entschließt Paul sich trotz allem weiterzuleben.

    "I love and hate her", zitiert Schopenhauer in seiner Metaphysik der Geschlechtsliebe William Shakespeare. "Ich liebte und hasste sie", könnte als Motto über D.H. Lawrences Roman "Söhne und Liebhaber" stehen. "Sons and Lovers" ist eine Geschichte des Liebeskampfes, der sich von einer auf die andere Generation vererbt. Die Liebeshändel der Söhne entstehen dabei nicht zuletzt aus ihrer Unfähigkeit, sich von ihrer Mutter zu lösen.

    D.H. Lawrence beschreibt diesen Ur-Konflikt ganz im Einklang mit Befunden der Psychoanalyse wie dem Ödipuskomplex - obgleich er diese weder genau kannte, noch vorbehaltlos billigte, wie der Übersetzer in seinem Nachwort unterstreicht. Viel mehr ließ sich der junge Autor augenscheinlich von den Gedanken Schopenhauers zur Geschlechtsliebe inspirieren.

    Aber Lawrences Roman ist mehr als ein literarischer Beleg philosophischer Thesen. "Söhne und Liebhaber" setzt den Liebeskrieg bis in die Sprache hinein fort. Die Beschreibungen sind voller Kontraste, jäher Brüche und spontaner Richtungswechsel. Freund und Biograf Richard Aldington bescheinigte D.H. Lawrence, so etwas wie den Jazz-Roman erfunden zu haben. Bis in die einzelnen Sätze hinein ziehen sich die widersprüchlichen Aussagen zu Liebe und Hass, Glück und Schmerz. Lawrence überträgt den Liebeskampf auf sein Schreiben, indem er die der Sprache inhärenten Widersprüche und Sollbruchstellen offenlegt. Das Wechselbad der Leidenschaften bringt die Sprache selbst zum Zerreißen. Neben den heute eher harmlosen erotischen Szenen macht genau dieser Jazz-Effekt D.H. Lawrences "Söhne und Liebhaber" so exzentrisch und modern, dass sich auch nach fast hundert Jahren noch die Lektüre lohnt.

    D.H. Lawrence: "Söhne und Liebhaber". Erstmals vollständig aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Hans-Christian Oeser, Reclam Bibliothek 2011, 763 Seiten, 19,90 Euro.