Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Generalinspekteur der Bundeswehr
"Ich persönlich fühle mich wirklich als Europäer"

Die militärische Zusammenarbeit der EU-Länder funktioniere sehr gut, sagte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, im Dlf. Doch die Idee einer europäischen Armee, wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sie ins Spiel gebracht hat, sieht er skeptisch. Eine solche Armee setze viel mehr voraus.

Eberhard Zorn im Gespräch mit Klaus Remme | 11.11.2018
    Eberhard Zorn, Generalinspekteur der Bundeswehr
    Eberhard Zorn, Generalinspekteur der Bundeswehr (picture alliance/Klaus-Dietmar Gabbert/dpa-Zentralbild/dpa)
    Klaus Remme: General Zorn, willkommen zu diesem Interview.
    Eberhard Zorn: Ja, ganz herzlichen Dank für die Einladung.
    Remme: Wir sprechen mit Ihnen, dem ranghöchsten Soldaten des Landes, an einem besonderen Tag. Heute vor 100 Jahren ging der Erste Weltkrieg zu Ende. Man traf sich in einem Eisenbahnwaggon im Norden Frankreichs. Angela Merkel und Emmanuel Macron sind gestern dort hingefahren. Ich habe mal nachgeschaut. Das Abkommen wurde morgens zwischen 5 Uhr und 5.30 Uhr unterzeichnet und es wurde eine Waffenruhe binnen sechs Stunden vereinbart. Und, wenn wir jetzt nachrechnen, dann kann ich sagen: punktgenau 100 Jahre später, Herr General, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an diesen Tag vor 100 Jahren denken?
    Zorn: Ja, zunächst einmal darf ich einen persönlichen Punkt einbringen. Ich bin ja gebürtiger Saarländer, komme aus Saarbrücken und habe selber noch in meiner Kindheit erlebt, wie schwierig das Verhältnis war zwischen Frankreich und Deutschland. Mein Großvater ist geboren im Elsass, hat also die ganzen Wandlungsbeziehungen zwischen den beiden Ländern miterlebt. Man selber erlebt das dann in der Zeit natürlich anders. Insofern hatte ich also immer einen besonderen Bezug zu Frankreich und hatte auch schon früh in meiner Kindheit immer wieder den Bezug über die Grenze hinüber. Und wir haben mit der Schule seinerzeit Ausflüge gemacht, die üblichen Ausflüge der Schule, nach Verdun. Und das fand ich damals immer schon äußerst beklemmend. Und das war für mich eigentlich so ein Beispiel, wo ich sage, dieses, was die Staaten sich damals gegenseitig angetan haben – ich formuliere es mal so – darf nicht mehr wieder passieren. Insofern ist das für mich eine wirklich persönliche Erinnerung. Und, wenn ich das jetzt auf heute übertrage, Bundeswehr – wir haben das in diesem laufenden Jahr als einen Themenschwerpunkt auch genommen in unserer politisch-historischen Bildung auch in der Truppe.
    Remme: Sie haben diesen Bezug zu Frankreich beruflich dann ausgebaut, oder nicht?
    Zorn: Ja, das kam am Ende auch so ein bisschen zufällig. Also, ich bin 1978 zur Bundeswehr, hatte meine Verwendung in der Truppe im Süden Deutschlands, also in Baden-Württemberg, in Bayern, auch im Saarland. Und, als ich zur Generalstabsausbildung nach Hamburg gegangen bin, ergab sich das, weil ich eben Französisch gelernt habe in der Schule und auch ganz gut kann, dass sich die Chance ergab, dass ich nach Paris zu der französischen Generalstabsausbildung gehen konnte. Von daher hat sich dann die Karriere auch etwas danach entwickelt.
    Wir gehen zu kritisch mit Europa um
    Remme: Haben wir in den vergangenen Jahren vergessen, dass die Europäische Union nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu allererst ein Friedensprojekt war?
    Zorn: Also, wenn Sie sagen "wir", dann bezieht sich das natürlich auf die Gesellschaft.
    Remme: Ja.
    Zorn: Ich meine, dass wir teilweise als Gesellschaft etwas zu kritisch mit Europa umgehen. Und ich persönlich fühle mich wirklich als Europäer. Und ich darf das auch so sagen, ich bin stolz darauf, weil wir tatsächlich in diesem Europa etwas geschaffen haben, was seit dem Zweiten Weltkrieg eine der längsten Friedensperioden geschaffen hat. Die Kooperation, die wir heute haben, also zum Beispiel mit Frankreich, mit Großbritannien, mit den Niederlanden, mit allen unseren Partnern, ist beeindruckend. Und ich spüre das im militärischen Bereich quasi täglich.
    Remme: Jetzt leben wir in einer Zeit, die auf den ersten Blick nicht mehr viel gemein hat mit dem frühen 20. Jahrhundert. Gleichzeitig gibt es aktuelle Warnungen, die das gesellschaftliche Klima in Europa mit eben diesen Jahren vergleichen – die Umbrüche, die Verunsicherungen einerseits, die politische Trägheit vieler andererseits. Nicht weit von hier in der Ukraine ruhen die Waffen eben seit Jahren nicht. Wie besorgt sind Sie?
    Zorn: Also, ich bin von der Bedrohungslage her insoweit besorgt, dass wir tatsächlich weggekommen sind von den beiden Blöcken des Kalten Krieges und wir heute tatsächlich an vielen Stellen lodernde Feuer haben – ich formuliere das auch mal so –, die tatsächlich eine latente Bedrohungsgefahr um uns herum, um Europa herum schüren. Das ist eine Situation, die militärisch auch schwierig ist, die uns abverlangt, viel breiter zu denken, nicht in Blockkonfrontation der alten Zeit, sondern mit einem 360-Grad-Blick um uns herum. Es ist aber auf der anderen Seite der internationale Terrorismus, der sich ja von Afghanistan bis nach Afrika ausdehnt. Und es ist die Cyberbedrohung. Das sind für mich die drei Bereiche, die wir militärisch heute ins Auge fassen müssen.
    Remme: Sie kommen ganz aktuell aus Norwegen zurück, haben dort die NATO-Übung "Trident Juncture" beobachtet. Ein Manöver, das seit Wochen Schlagzeilen macht. Die Bundeswehr gehört zu den großen Truppenstellern bei diesem Manöver. Welchen Eindruck haben Sie gewonnen?
    Zorn: Also, der erste Eindruck ist der, dass es eine ungeheuer hervorragende und, ja, kraftvolle Arbeit war, die Truppe überhaupt einmal aus Deutschland – jetzt unsere Truppe – nach dorthin zu transportieren. Das ist eine Sache, die wir so in der Vergangenheit nicht geübt haben. Das heißt, mit Schiffen, mit Eisenbahnen, mit Fliegern … haben wir alles Material, alle Soldaten dorthin transportiert. Das ist ausgezeichnet gelungen. Die Motivation der Soldaten vor Ort habe ich überall als sehr hoch bewertet. Warum? Die Soldaten sind dort für diese Übung jetzt mit allem ausgestattet, was sie brauchen. Wir haben also für diese Übung alles zusammengetragen, was wir im Grunde brauchen für die Auftragserfüllung. Was auch beeindruckend war, war zu sehen, welche positive Resonanz wir bei der norwegischen Bevölkerung spüren. Und zwar ist das eine Übung im freien Gelände. So, wie wir das in den 80er-Jahren bei uns zu Hause teilweise auch hatten. Und dort waren die Norweger total begeistert, dass die NATO dort dieser Bündnisverpflichtung nachkommt.
    Remme: Jetzt muss man dazusagen: recht dünn besiedelt. Ich war mit Ursula von der Leyen dort. Vom Flughafen Oslo sind wir noch einmal zwei Stunden in die Wildnis gefahren. Insofern erklärt sich möglicherweise der Mangel an Protest, oder nicht?
    Zorn: Dafür kenne ich die Norweger zu wenig, aber auf jeden Fall, es gab gar keinen. Und Sie haben recht, es ist natürlich dünn besiedelt. Aber dort, wo wir an Ortschaften waren, war die Resonanz durch die Bank positiv.
    Remme: Sie haben das erwähnt, über 8.000 deutsche Soldaten wurden verlegt, tausende von Fahrzeugen, große logistische Herausforderungen. Gehört zur Ehrlichkeit, dass das nicht gelingen konnte ohne Anmietung ziviler Kapazitäten, etwas dänischer Fähren?
    Zorn: Das ist richtig. Wir haben dänische Fähren benutzt. Wir haben Transportflugzeuge genutzt, die wir aus auch einer zivilen Provider-Lösung letzten Endes genommen haben. Das ist aber ein Themenfeld, das zur Landes- und Bündnisverteidigung schon immer dazugehört hat. Also, auch in den Zeiten des Kalten Krieges war das so, dass wir tatsächlich auf zivile Unterstützungsleistung, gerade für Transport, haben zurückgreifen können. Das war also schon immer so, weil wir natürlich diese Kapazitäten so nicht ständig vorhalten können und auch nicht brauchen.
    Soldaten klagen über bürokratische Auflagen
    Remme: Sie sind jetzt seit, ich glaube, gut sechs Monaten Generalinspektor. Ich vermute, Sie haben inzwischen alle Truppenteile besucht?
    Zorn: Also, nicht alle. Das wären fast 300 Standorte in Deutschland. Aber ich habe alle Einsatzgebiete besucht, also von Afghanistan bis Afrika. Ich habe hier zu Hause in allen unseren Bereichen, also, die nennen wir Organisationsbereiche, Heer, Luftwaffe, Marine usw., die habe ich alle zunächst mal exemplarisch bei einem Antrittsbesuch aufgesucht.
    Remme: Das meinte ich, ja.
    Zorn: Und danach war ich dann aber sofort auch bei unangekündigten und angekündigten Besuchen.
    Remme: Darauf will ich hinaus. Sie machen Überraschungsbesuche. Das ist ungewöhnlich. Warum tun Sie das und wie läuft das ab?
    Zorn: Zum einen habe ich das in all meinen Führungsverantwortungen, die ich vorher schon mal getragen habe, häufig auch schon so gemacht und habe damit herausragende Erfahrungen gemacht, und zwar aus zweierlei Hinsicht. Die Truppe macht gute Arbeit. Das ist meine tiefe Überzeugung. Wenn ich mich dort anmelde, bereitet die Truppe mit erheblichem Aufwand einen solchen Besuch vor. Ich will also den Aufwand für die Truppe reduzieren. Das ist das eine. Zum anderen, wenn ich dort hinkomme, bin ich der Herr meiner Zeit. Ich definiere, was ich sehen will. Ich habe einen Plan, wenn ich dort irgendwo hingehe. Und ich kann dann auch meine Zeit entsprechend einteilen. Und das ist meine tiefe Überzeugung, das Wertvollste, was sie den Mitarbeitern gegenüber mitbringen können, auch den Soldaten, ist: Zeit mitbringen, Zeit für Gespräche.
    Remme: Aber wie stellen Sie sicher, dass das wirklich eine Überraschung ist?
    Zorn: Ich fliege häufiger mit dem Hubschrauber zu den einzelnen Standorten hin. Ich lande da nicht, wie das Usus wäre, in der Kaserne, sondern abseits auf einem zivilen Flugplatz – Flugfeld auch teilweise. Dort lasse ich mich dann von meinen Fahrzeugen abholen – da bleibt es also im kleinen Kreise – und fahre dann in die Kaserne. Das geht. Also, man merkt das ja dann, ob sie überraschend kommen oder nicht.
    Remme: So, und wie oft haben Sie dann bei diesen Besuchen gedacht: 'Oh Mann, das muss sich sofort ändern'?
    Zorn: Also, zunächst noch mal, die tatsächliche Tatsache ist, sie erleben dann sofort sehr selbstbewusste und in der Aufgabe vernünftig stehende Soldatinnen und Soldaten, die Ihnen sofort erzählen, was sie machen, die auch keine Scheu haben, Ihnen das zu erzählen.
    Remme: Und wo drückt der Schuh? Was ist der größte Missstand, der behoben werden muss?
    Zorn: Das ist eigentlich zu verorten in der Ist-Zeit heute. Es ist also so, dass die Soldaten darüber klagen, dass sie ungeheuer viele Regelungsdichte spüren, also viele bürokratische Auflagen.
    Remme: Machen Sie es mal konkret.
    Zorn: Also, das ist natürlich so, dass wir natürlich aus dem Ministerium heraus immer wieder Weisungen nach unten geben, die genau regeln, wie der Dienstalltag sein soll. Das verdichtet sich über die vielen Jahre, sodass man dann tatsächlich eine Summe von Vorschriften hat, die der Vorgesetzte eigentlich zu berücksichtigen hat. Wir verfolgen aber seit Jahren traditionell das Feld der Auftragstaktik. Das heißt, wir sagen jemandem, was ist das Ziel, wo willst du hin. Also, im zivilen Umfeld würde man Zielvereinbarung sagen. Die schließen wir und lassen ihm dann den Weg aber frei. Und da müssen wir wieder viel stärker hinkommen. Also, wir haben ihm teilweise den Weg sehr eingeengt, dem Vorgesetzten. Diesen Handlungsspielraum will ich den Leuten gerne wiedergeben.
    Remme: Wie oft begegnen Ihnen die Probleme, über die wir so oft lesen, hören und im Fernsehen beobachten können – Mangel und Mängel?
    Zorn: Das ist die zweite Thematik, die mir immer vorgetragen wird. Und das ist tatsächlich im Truppenalltag die Ersatzteilversorgung. Das ist ein Thema, das die Truppe täglich spürt. Es gibt in vielen Bereichen zu wenig Ersatzteile. Wir haben den Punkt natürlich jetzt aufgegriffen, aber, wenn Sie jetzt vor einem Jahr erst den Vertrag zum Beispiel geschlossen haben mit einer Firma, die diese Ersatzteile liefert, dann müssen die produziert werden, dann müssen die ausgeliefert werden. Im Moment bin ich zuversichtlich, das, was wir jetzt belastbar sagen können, ist, dass wir so im nächsten Jahr tatsächlich spürbar Ersatzteilversorgung verbessern werden. Die Verträge kommen dann tatsächlich zur Auslieferung, wenn Sie so wollen.
    Hubschrauber "ist länger bei der Bundeswehr als ich"
    Remme: Das wäre meine nächste Frage gewesen. Wir sind ein bisschen an einem Punkt, sei es durch die Ministerin, aber auch durch viele Militärs, wo ich sagen muss, wenn die Klagen kommen, über Schrumpfungsprozesse und viele Jahre der Kürzungen, dann kommt irgendwann der Punkt, wo wir sagen, ich kann es irgendwie auch nicht mehr hören. Seit Jahren steigt der Verteidigungsetat. Die Haushaltsbereinigungssitzung ist gerade zu Ende gegangen, wieder mehr für die Verteidigung. Wann kommt der Punkt, wo das nicht mehr als Erklärung, manche sagen als Entschuldigung, reicht?
    Zorn: Für mich ist diese Situation zweiteilig. Wenn ich die Langfristperspektive nehme, also das, was wir jetzt zum Beispiel auch mit dem Haushalt wieder sehen werden, da sind das langfristige Projekte, die der Modernisierung beispielsweise dienen. Also nehmen wir als Beispiel klassisch den Hubschrauber. Der schwere Hubschrauber, den wir heute haben, ist ein Hubschrauber, der ist länger bei der Bundeswehr als ich. Also da fällt es jedem sofort auf, dass dort dringend mal eine Modernisierung erforderlich ist. Das heißt also, da müssen wir tatsächlich dann sehen, Modernisierung ist die eine Seite. Vielfach werde ich gefragt, wo ist das Geld eigentlich in den letzten Jahren hingegangen. Das kann ich Ihnen auch sagen. Es ging in die Auslandseinsätze. Wir haben für die Auslandseinsätze eine ausgezeichnete Ausrüstung, die ist wirklich spitzenmäßig, auch im weltweiten Vergleich. Vom Schutzfaktor her der Fahrzeuge sind das die besten, die es weltweit gibt. Da haben wir in den letzten Jahren, das sind 20 Jahre etwa, seit 1995, haben wir investiert in diese Auslandseinsätze.
    Remme: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk und wir sprechen mit General Eberhard Zorn, dem Generalinspekteur der Bundeswehr. Unser Thema im Moment, die Ausrüstungsmängel bei der Truppe. Vieles soll sich ändern dadurch, dass mehr Geld zur Verfügung gestellt wird. Um es ganz konkret zu machen: U-Boote war lange Zeit ein Thema. Wie viel können denn momentan schwimmen oder gar tauchen?
    Zorn: Also, wir haben insgesamt sechs U-Boote im Bestand. Wir hatten einen Materialmangel im ersten Halbjahr, der sich maßgeblich ergeben hat aus dem Thema der Batterien – also, die Batterien für das U-Boot –, aber auch teilweise aus anderen Problemen oder aus normalen Werftliegezeiten. Wir werden zum Ende des Jahres wieder nach vorne kommen und ich hoffe, dass wir dann so Anfang des nächsten Jahres wieder drei U-Boote haben, die dann auch tatsächlich einsatzbereit sind.
    Remme: Okay, momentan, Stichtag 11. November?
    Zorn: Es sind mindestens zwei.
    Remme: Schwimmen und tauchen?
    Zorn: Ja.
    Remme: Jetzt sagen Sie, wir haben ein Gewicht gelegt auf Auslandseinsätze. Das war dem Umstand geschuldet, dass wir hier über Jahre in einer vermeintlichen Friedensdividende gelebt haben und in dem Moment, wo Sie sagen, da sind wir wirklich spitze ausgerüstet, kommt der Ruf zurück nach klassischer Bündnis- und Landesverteidigung. Dafür sind wir dummerweise nicht perfekt aufgestellt. Geht das eigentlich einfach so, den Schalter umlegen?
    "Das ist Resultat der Sparmaßnahmen"
    Zorn: Also, das geht in einer solchen Systematik, in der wir sind, so nicht. Das zeigt tatsächlich jetzt die zurückliegende Zeit. Wir haben das Material ja gehabt. Wir haben auch die Strukturen. Also, wenn wir jetzt schauen, ich nehme es mal am Beispiel des Heeres, wir haben heute die Struktur für drei Divisionen. Diese drei Divisionen werden wir auch noch 2030 in unserem Plan haben. Nur wir haben in diesen drei Divisionen weder 100 Prozent Personal noch tatsächlich 100 Prozent einsatzbereites Material. Das ist Resultat der Sparmaßnahmen. Das heißt, jetzt geht es darum, diese Strukturen, viele sagen hohle Strukturen, weil natürlich im personellen Bereich zum Beispiel etwa 13 Prozent der Dienstposten real nicht besetzt sind, zu füllen. Das heißt, das muss jetzt wieder aufgefüllt werden mit Blick nach vorne.
    Remme: Mit Schalter umlegen meinte ich jetzt auch gar nicht nur die materiellen Voraussetzungen, sondern ich denke da auch an einen Schalter in den Köpfen. Sie sind, ich glaube, Jahrgang 60, ich bin Jahrgang 61. Wir sind aufgewachsen in Zeiten des Kalten Kriegs. Sie haben eben gerade das Wort schon mal benutzt, Blockkonfrontation, Kalter Krieg. Das alles ist für uns etwas, das praktisch DNA ist. Wie ist das mit den Jüngeren, denjenigen, die deutlich unter 40 sind? Ist das eine Chance oder ein Problem, dass die ganz anders ticken?
    Zorn: Also, es ist für mich erst mal feststellbar, dass die jüngere Generation, also die, die heute so um 30 sind, das sind die, die jetzt die Einheiten führen, also die Kompaniechefs, die haben keine Bilder von dem, was wir beiden früher unter der Überschrift Bündnis- und Landesverteidigung hatten. Die haben sehr gute Bilder aus allem, was die Krisenreaktionseinsätze betrifft oder die Stabilisierungsmission, also Afghanistan, Afrika. Da haben die hervorragende Bilder und jetzt geht es darum, darauf aufzusetzen und ihnen in der Ausbildung zu vermitteln, was ist tatsächlich das andere, die andere Qualität von Landes- und Bündnisverteidigung. Und da war jetzt Norwegen ein sehr guter Schritt dorthin. Das ist nur eine Frage der Ausbildung und der Weiterbildung und Weiterqualifikation. Das haben wir aufgenommen. Das ist ein Thema jetzt, die sogenannte Agenda-Ausbildung, die sich dieses Themas widmet. Das heißt, wir werden jetzt also in den nächsten zwei bis drei Jahren sukzessive in der Ausbildung der Führungskräfte, aber auch der Truppe insgesamt, dieses Thema deutlich weiter vertiefen und dann auch da, denke ich, sehr schnell zu einem guten Ergebnis kommen.
    Remme: Also eher Chance als Problem?
    Zorn: Ja, eher Chance.
    Remme: Wenn ich an Trident Juncture denke, dann wird da natürlich Verteidigung geübt gegen einen – in Anführungsstrichen – fiktiven Gegner. Den Namen Russland spricht niemand aus, er ist trotzdem in vielen Köpfen. Russland fühlte sich angesprochen, hat reagiert. Machen wir uns hier nicht etwas vor, wenn wir die Dinge nicht klar beim Namen nennen?
    Zorn: Also, es ist eine gute Sitte beim Militär, dass wir bei keiner unserer Übungen tatsächlich mit realen Ländernamen arbeiten. Natürlich ist klar, dass wir mit Enhanced Forward Presence beispielsweise in Litauen mit unseren Kräften präsent sind, ist natürlich die Folge dessen, dass wir die Beschlüsse der NATO haben und die wiederum ihre Ursache finden in der Ukraine-Krise, in der Krim-Annektierung. Also natürlich gibt es schon eine reale Welt, die sich als Ursache dort verorten lässt und daraus resultieren diese Maßnahmen.
    Remme: Wenn sich also die Landesverteidigung als neue Aufgabe wieder stellt, brauchen Sie dann bei den Auslandseinsätzen Entlastung? Ich weiß, dass wir im Weißbuch nachlesen können, dass diese Dinge auf Augenhöhe zu behandeln sind, aber das eine ist das Papier und das andere die Leistungsfähigkeit.
    Zorn: Es sind tatsächlich unterschiedliche, ich nenne es, Systemkomponenten, die ich in den Auslandseinsätzen brauche und in der Landes- und Bündnisverteidigung. Rein jetzt von der Mengenlehre her, nur diese Auslandseinsätze eng genommen, sind das im Augenblick etwa 3.500 Soldaten, die wir dort stellen.
    Remme: Also Sie kriegen das gestemmt, die Zahl der derzeit laufenden Einsätze und die neuen Aufgaben?
    Zorn: Ja, also wenn ich dort jetzt einen Einsatz wegnähme, dann würde mich das im Kontext einer Panzerkompanie nicht unbedingt weiter nach vorne bringen. Also wir müssen beides tatsächlich gleichrangig betrachten und beleuchten und es sind unterschiedliche Personalgruppen, die ich hier adressiere.
    Bundeswehr "ist schon ein spezieller Arbeitgeber"
    Remme: Wir haben jetzt gesprochen über Negativschlagzeilen wie zum Beispiel die Mängel an Ausrüstung. Wir lesen das ja fast täglich und die Dinge kann man erklären, aber diese Erklärungen brauchen eben Zeit und sie sind mitunter schwierig zu verstehen. Wenn es solche Schlagzeilen nicht sind, dann sind es möglicherweise Nachrichten, wie aktuell über eine Ministerin, die in Schwierigkeiten kommt, mit dem Stichwort Beraterverträge. Ursula von der Leyen hat in ihrer Amtszeit versucht, sehr viel zu verändern, weil sie Missstände sah, die durch Modernisierung möglicherweise behoben werden müssen. Wie stehen Sie dazu? Wie haben Sie es erlebt in Ihren früheren Verwendungen? Hat die Zahl der Berater extrem zugenommen und ist das zu erklären?
    Zorn: Also, ich möchte es gerne an einem eigenen Beispiel darstellen, um zu zeigen, dass wir tatsächlich Beratung von außen brauchen, und zwar nicht nur Beratung, sondern tatsächlich auch Hilfeleistung, damit wir zu einem Ergebnis kommen. Ich habe mich im Jahre 2005 zum ersten Mal damit beschäftigt, wie man digital das Thema einsatzbereite Streitkräfte abbilden kann. Zur damaligen Zeit haben wir das mit Bordmitteln gemacht, auf Deutsch, jeder kannte Excel, Access-Datenbank, Lotus Notes – was auch immer – und hat es da hineingestellt. Es war nie zufriedenstellend. Wir hatten nie ein gleiches Lagebild. Es war immer von Hand, zu Fuß gemacht. Und als die Chance dann kam, dass wir gesagt haben, wir wollen Digitalisierung voranbringen, hatte ich für mich die Möglichkeit, auf eine Beratung zuzugreifen und mit einer Big Data-Anwendung am Ende nach einem halben Jahr tatsächlich ein positives Ergebnis erzielt. Heute guckt also meine Ebene, Ministerium, meine Inspekteure bis runter auf die untere Batallionsebene auf den Bildschirm und alle haben das gleiche Lagebild und wir können eine Prognose abgeben und wir haben tatsächlich, wenn ich das ausdrucke, ein tagesaktuelles Bild, personell wie materiell.
    Remme: Und das wäre durch Know-how im Haus nicht möglich gewesen?
    Zorn: Wäre nicht möglich, wir haben natürlich studierte Offiziere, die auch natürlich klug sind und Informatik studiert haben, aber da sie nicht in der regelmäßigen Praxis das Thema anwenden und vor allem in solchen Vergleichsmodellen auch unterwegs sind. Also, wir haben beispielsweise verglichen, wie machen das Nachbararmeen. Amerikaner, Franzosen, Engländer, haben uns best practices von dort genommen und das dann für uns umgesetzt. Das habe ich live am eigenen Körper erlebt – ich kann nur sagen, ein hervorragendes Ergebnis. Wenn die Bilanz stimmt, dann ist meines Erachtens die Beratung auch richtig investiert.
    Remme: Wird die Sache brisant für die Ministerin?
    Zorn: Ich hoffe nicht.
    Remme: Ich möchte gerne zum Ende des Interviews noch auf das Thema Personal zu sprechen kommen Einerseits, weil es sich als Aufgabe stellt, andererseits, weil Sie, damit in ihren beruflichen Stationen sehr viel zu tun hatten. Ein Fünftel der Offiziersanwärter bricht die Zeit, die sie bei der Bundeswehr ist, in relativ kurzer Zeit, in den ersten sechs Monaten, ab. Ein Viertel derjenigen, die an der Bundeswehruni studieren, hört auf zu studieren. Das können keine guten Zahlen für Sie sein.
    Zorn: Ich war ja mal Abteilungsleiter Personal und hatte das natürlich sehr stark im Fokus. Zum Einen müssen wir die Soldaten, die zu uns kommen, viel mehr dort abholen, wo sie aus der zivilen Welt letzten Endes zu uns kommen. Das heißt, das fängt an bei der körperlichen Fitness, das fängt damit an, dass wir ihnen die Umgebung Bundeswehr – es ist schon ein spezieller Arbeitgeber – besser nahebringen müssen. Wir müssen genauso gut schon in der Phase bevor diejenigen zu uns kommen, sie auch stärker an uns binden durch Information, was kommt auf sie zu, damit die Erwartungshaltung einfach auf das richtiges Level gebracht wird.
    "Die Armee der Europäer"
    Remme: Das scheinen mir aber Stellschrauben zu sein, mit denen man Prozentzahlen jetzt nicht, sagen wir mal, substanziell verändern kann. Ich will mit einigen Vorschlägen kommen. Sie können ganz kurz reagieren. Ich habe gelesen – und da haben Sie sich bereits positioniert –, bei der mitunter wieder aufflammenden Diskussion rund um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht sind Sie ausgesprochen skeptisch. Richtig?
    Zorn: Ja.
    Remme: Wie steht es dann mit der Rekrutierung von zum Beispiel EU-Bürgern für die Truppe?
    Zorn: Das haben wir analysiert, da sind wir noch nicht fertig mit der Analyse. Und zwar schlichtweg deswegen, wir müssen natürlich schauen, dass wir nicht bei unseren europäischen Partnernationen als Konkurrent auftreten.
    Remme: Also, Potenzial gering?
    Zorn: Das Potenzial ist gering. Und es ist ein Thema, was man sicherlich im Auge behalten kann für Spezialisten. Das ist für mich ein Punkt. Es ist auch noch nicht abschließend entschieden.
    Remme: Noch radikaler gedacht: die Schaffung von Voraussetzungen, um gezielt Nicht-EU-Bürger anzuwerben. Das ist im Moment gesetzlich nicht möglich, heißt aber ja nicht, dass das so bleiben muss – möglicherweise sogar ganz offensiv mit der "Belohnung" eines deutschen Passes?
    Zorn: Das ist natürlich ein großes politisches Thema. Ich persönlich halte unverändert für mich für bedeutsam, dass wir den Eid, wir Soldaten, den Eid auf die Bundesrepublik Deutschland schwören und damit auch diese Verfassungstreue und auch die Relation zu Deutschland als Staat darstellen.
    Remme: Potenzial?
    Zorn: Gering.
    Remme: Letzter Punkt, wo wir über Andere reden. Ist die Vision einer europäischen Armee, die Emmanuel Macron nicht nur vor einem Jahr, sondern jetzt wieder beschworen hat – und ich habe das Gefühl, bei ihm geht es um mehr als eine Vision – wirklich tragfähig? Sind diejenigen Soldaten, über die wir gerade geredet haben, die Sie gewinnen wollen, möglicherweise in ihrer beruflichen Laufbahn, die dann anfängt, später schon einmal Soldaten einer europäischen Armee?
    Zorn: Also, ich sehe realistisch gesehen eher die Armee der Europäer. Denn da sind wir heute schon mittendrin für mein Gefühl. Ich war innerhalb der deutsch-französischen Brigade als Bataillonskommandeur, da war schon ein Nukleus gebildet worden. Ich hatte die niederländische Luftlandebrigade bei mir integriert in meiner Division, aktuell läuft es auch in einem anderen Bereich. Wir haben mit Luftwaffe, Marine ähnliche Projekte. Also, eine hohe integrative Arbeit, die wir schon leisten. Nicht nur mit den Partnern, sondern querschnittlich. Das heißt, das Miteinander funktioniert, es klappt und es ist heute schon Realität. Also, das noch weiter zu steigern, das noch zu überlagern mit dem, was wir im europäischen Ansatz jetzt haben, eine europäische Verteidigungsunion zu bringen, wo wir auch dann im Rüstungsprozedere, im Miteinander der Kommandostrukturen noch deutlich besser werden, das ist für mich eigentlich das, was realistisch jetzt auch leistbar ist. Aber das Thema einer tatsächlichen Europaarmee setzt ja viel mehr voraus. Es setzt ja eine Gesamtstaatlichkeit voraus. Es setzt voraus, dass die Staaten Souveränitätsrechte abgeben an eine übergeordnete Organisation in erheblichem Umfang und dann natürlich auch von ihren Streitkräften her eine Europaarmee darunter setzen. Das sehe ich eher visionär. Insofern bin ich da im Moment ein Freund dessen, was jetzt vereinbart wurde innerhalb dieser PESCO Initiative und der europäischen Verteidigung.
    Remme: Müssen wir doch noch kurz erklären für diejenigen, die jetzt gerade fragen: PESCO? Was ist das?
    Zorn: Ja, das ist die permanente europäische Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen. Es ist eine Stärkung des europäischen Pfeilers in der Verteidigung und ist praktisch eine Ergänzung, wenn Sie so wollen, zu dem, was wir in der NATO schon machen. Die Europäer kommen jetzt ebenfalls hier zusammen.
    Remme: Europäische Armee? Zeithorizont? Jahrzehnte?
    Zorn: Jahrzehnte!
    Remme: Herr Zorn, ich bedanke mich für das Gespräch.
    Zorn: Vielen Dank.