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Generationswechsel in der SPD

Im November 1960 hatten die USA durch die Wahl des jungen Hoffnungsträgers John F. Kennedy ein Zeichen für einen Generationswechsel in der Politik gesetzt. Diesen Schwung wollte sich in der Bundesrepublik die SPD zunutze machen. Gegen den greisen Bundeskanzler Konrad Adenauer schickte die SPD einen Mann ins Rennen, der jugendlichen Kennedy-Charme versprühen sollte: Willy Brandt.

Von Winfried Sträter | 25.11.2010
    "Der Inhaber des Amtes, für das ich nominiert worden bin, steht unter dem im Grundgesetz vorgeschriebenen Eid, er werde seine Kraft dem Wohl des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, seine Pflicht gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben. Daran werde ich mich halten, so wahr mir Gott helfe."

    SPD-Parteitag in Hannover, letzter Tag, 25. November 1960. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, zitiert den Amtseid des Bundeskanzlers. Eine verwegen anmutende rhetorische Geste nach den für die SPD deprimierenden 50er-Jahren. Zu schwach war die oppositionelle SPD, um ernsthaft die Unionsparteien herausfordern zu können. Zwei Prozent hatte der Abstand zwischen Union und SPD bei der ersten Wahl 1949 betragen, 16 Prozent 1953, 18 Prozent bei der letzten Wahl 1957. Doch am Beginn der 60er-Jahre scheint sich die Lage zu ändern.

    Um aus dem Tal der ewigen Oppositionspartei herauszukommen, hatten sich die Sozialdemokraten 1959 mit dem Godesberger Programm erneuert. Nun musste auch personell eine ernsthafte Alternative zu Adenauer aufgebaut werden. Der brave Erich Ollenhauer, der SPD-Parteivorsitzende der 50er-Jahre, war dazu nicht in der Lage. Er blieb im Amt, aber ein anderer sollte gegen den seit 1949 regierenden Kanzler Adenauer antreten – Willy Brandt. Ihn kürte die SPD auf dem Parteitag in Hannover zum Kanzlerkandidaten. Ein Novum: So etwas hatte es zuvor noch nicht gegeben.

    "Der bisherige politische Stil ist gekennzeichnet durch sehr viel Selbstgerechtigkeit, Rechthaberei, kleinliche Schmähsucht, Überheblichkeit, Anmaßung und Machtgier. ... Was wir aber brauchen, wenn die Demokratie in unserm Volk Wurzeln schlagen soll .., sind Bescheidenheit, Redlichkeit, Offenheit, sind Duldsamkeit und Achtung vor der Meinung und dem Wert des anderen, ist Sinn für die gemeinsame Verantwortung."

    Brandt ahnte schon bei der Kür zum Kanzlerkandidaten, was auf ihn zukommen würde.

    "Ich werde von mir aus alles tun, um den gegenwärtigen Bundeskanzler für einen fairen, sachlichen Wahlkampf zu gewinnen."

    Es kam noch schlimmer, als Brandt erwartet hatte. Der Wahlkampf 1961 war einer der bösesten in der Geschichte der Bundestagswahlen. Brandt wurde wegen seiner Herkunft als uneheliches Kind persönlich diffamiert und als Vaterlandsverräter angegriffen, weil er 1933 vor Hitler geflohen und nach Norwegen emigriert war. Die Angriffe kamen in der Regel von konservativen Interessengruppen – manchmal aber auch von führenden Unionspolitikern. Franz Josef Strauß donnerte in seiner Aschermittwochsrede:

    "Wir haben das Recht, Herrn Brandt zu fragen: Was haben Sie zwölf Jahre lang im Ausland getan? Was wir in Deutschland getan haben, wissen wir!"

    Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Kai-Uwe von Hassel warf Brandt vor, er habe mit seiner Flucht 1933 seine Volks- und Staatsangehörigkeit verleugnet:

    "Ich kann diese Schicksalsgemeinschaft nicht verlassen, wenn es mir persönlich gefährlich erscheint, und ihr wieder beitreten, wenn das Risiko vorüber ist."

    Die Bonner Demokratie stand 1960 vor ihrer Bewährungsprobe. Noch hatte es im Bund keinen Regierungswechsel gegeben. Nun waren Regierung und Opposition programmatisch zusammengerückt, weil sich die SPD auf den Boden der Tatsachen stellte, die Adenauer und Erhard in den 50er-Jahren geschaffen hatten: Westbindung und soziale Marktwirtschaft. In dem Augenblick aber, in dem die Oppositionspartei im Prinzip regierungsfähig war, begann die Diffamierung ihres Spitzenkandidaten.

    Die politische Atmosphäre in der Bonner Republik war damals in einer Weise vergiftet, wie man sich das heute kaum mehr vorstellen kann. Fast ein Jahrzehnt sollte es noch dauern, bis der erste ordentliche Regierungswechsel stattfand.