Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Genforschung
Aufbruchstimmung bei erblichen Muskelleiden

Wer an erblichen Muskelerkrankungen leidet, lebt mit erheblichen Einschränkungen. Kleine Kinder erlernen das Sitzen nicht und können den Kopf nicht halten. Jugendliche verlieren ihre Beweglichkeit. Bei Erwachsenen fangen Arme und Beine an, wild zu zucken. Aber jetzt gibt es neue Therapieansätze - und damit auch neue Perspektiven.

Von Volkart Wildermuth | 07.05.2017
    Mona Hoffmann spielt mit ihrer Tochter Emma, Patientin mit spinaler Muskelatrophie
    Mona Hoffmann und ihre Tochter Emma, Patientin mit spinaler Muskelatrophie (Deutschlandradio / Volkart Wildermuth )
    Dr. Claudia Weiß: "Eine Aufbruchsstimmung spüren wir ganz deutlich." – Dr. Arpad von Moers: "Und natürlich wollen das alle haben." – Mona Hoffmann: "Ihr geht es jetzt wirklich besser, als je zuvor. Ist natürlich ihrem Alter entsprechend immer noch ein bisschen anders als gesunde Kinder. Aber sie ist perfekt, so wie sie ist." – Emma Hoffmann: "Emma Hoffmann."
    Emma ist zwei Jahre alt, plappert und spielt mit ihren Eltern Jan und Mona Hoffmann. Eine alltägliche Szene, aber alles andere als selbstverständlich. Emma sitzt festgeschnallt auf einem speziellen Stuhl mit Kopfstütze und Tisch. Sie kann ihren Kopf nicht lange halten und auch die Arme kaum heben. "Also wir haben eigentlich gemerkt, so mit fünf, sechs Monaten, dass ihre Bewegungen immer weniger wurden. Sie konnte sich damals drehen. Das hat von heute auf morgen so ziemlich aufgehört", sagt Mona Hoffmann.
    Spinale Muskelatrophie. Eine seltene Erbkrankheit. Das SMN1 Gen ist defekt. Es orchestriert in Nervenzellen des Rückenmarks die Umsetzung der genetischen Information. Ohne SMN1 sterben die Nerven ab, die Muskeln werden nicht mehr angesteuert und verkümmern. Kinder mit einer spinalen Muskelatrophie vom Typ 1 lernen nie selbstständig zu sitzen.
    Die meisten werden nicht einmal zwei Jahre alt, weil die Lungenmuskulatur versagt. Dank der Hilfe von Beatmungsgeräten liegt die Lebenserwartung heute höher. "Also mich hat das geistig sehr fertig gemacht. Ich bin auch in Depressionen verfallen und bin damit nicht so richtig zurechtgekommen", berichtet Mona Hoffmann.
    Neue Therapieansätze bei spinaler Muskelatrophie
    Die Zukunft: schwarz. Aber die Gegenwart, das ist Emma, ihr fröhliches Kind. "Mehr Milch, mehr gießen, selber essen", sagt Emma. Vater Jan Hoffmann sagt: "Sie weiß vor allem, was sie will." Emma: "Milch essen, Löffel essen, gekleckert! Mama helfen!"
    In menschlichen Zellen wird kein Gen eins zu eins umgesetzt. Zunächst werden Arbeitskopien der Gene angefertigt und auf vielfältige Weise optimiert. Erst daraus entsteht das fertige Protein.
    Für Emmas spinale Muskelatrophie gibt es bis heute keine echte Gentherapie. Doch auf der Ebene der Arbeitskopien haben Forscher einen Hebel gefunden. "Das ist schon eine sensationelle Errungenschaft. Jetzt, nachdem man jahrzehntelang erst mal die Ursachen geklärt hat der Muskelerkrankungen, und jetzt eben zum ersten Mal therapeutische Ansätze hat, die wirklich auch in der klinischen Betreuung der Patienten eine Veränderung zu erbringen scheinen."
    Der Neuropädiater Janbernd Kirschner vom Universitätsklinikum Freiburg ist sich mit seinem Kollegen Arpad von Moers von den DRK Klinken Westend in Berlin einig: Das ganze Feld der erblichen Nerven- und Muskelerkrankungen ist in Bewegung geraten: "Jetzt hier in diesem speziellen Gebiet, bei der spinalen Muskelatrophie ist schon ein ganz eklatanter Fortschritt erzielt worden und das strahlt sicher so in die anderen Felder rein."
    Auch bei Muskeldystrophie Duchenne sind neue Medikamente zugelassen und bei Chorea Huntington laufen Studien. Die Therapien folgen ganz unterschiedlichen Ansätzen und haben doch eines gemeinsam: Sie helfen den Patienten, trotz kranker Gene zurechtzukommen. Die Vorbereitungen haben viele Jahre gekostet, es gab Rückschläge, Erfolge aus Tierversuchen konnten bei menschlichen Patienten nicht wiederholt werden. Aber in den letzten zwei Jahren scheint sich das Blatt zu wenden.
    Die Patienten und ihre Familien träumen schon von Heilung, obwohl Langzeiterfahrungen noch nicht vorliegen, erklärt von Moers: "Alles braucht wieder mehrere Jahre, bis es durch alle Abläufe der Studien durch ist. Und so muss man immer wieder Hoffnung und Faktenlage nebeneinander stellen."
    Neues Medikament macht Hoffnung
    Nusinersen. Seit Januar 2017 in Deutschland für die Behandlung von Kindern mit spinaler Muskelatrophie verfügbar. Gehört zu den Antisense-Medikamenten. Die kurzen genetischen Sequenzen passen zu den Arbeitskopien des SMN2 Gens, einem verhinderten SMN1 Gen, das bei Gesunden ohne Bedeutung ist. Nusinersen kann die Arbeitskopie von SMN2 wieder flott machen. Keine perfekte Lösung, doch es entsteht genug SMN-Protein, um die Nerven mit dem Nötigsten zu versorgen und die Muskelkraft zu erhalten.
    "Man hat gesehen, dass die Patienten, die man mit dieser Medikation behandelt hat, motorisch sich deutlich besser entwickelt haben als die Patienten in der Placebo-Gruppe", berichtet von Moers, also die nur ein Scheinmedikament erhalten hatten. Diese Ungleichbehandlung war ethisch nicht mehr vertretbar. 2016 wurde die Studie abgebrochen und die Zulassung beantragt. In den USA ist Nusinersen inzwischen erhältlich. In Europa laufen die Verfahren noch, aber es gibt ein Härtefallprogramm für besonders schwer betroffene Kinder.
    Geniales Medikament?
    In der Neugeborenen-Intensivstation der DRK Kliniken Westend liegt Ryan Collin in einem Bettchen. Acht Monate ist er alt, viele davon hat er im Krankenhaus verbracht. Auch Ryan leidet an einer spinalen Muskelatrophie. Bei ihm ist die Lungenmuskulatur betroffen. Er wird über einen Schnitt in der Luftröhre beatmet, seine Milch bekommt er über eine Magensonde. "Also er hat immer gute Laune, egal was ist, er lacht uns immer an", berichtet seine Mutter Jeannette Wonsik. "Und dadurch wissen wir, dass wir die richtigen Entscheidungen auch treffen für ihn. Der macht uns Hoffnung, der kleine Mann."
    Ryan ist im Härtefallprogramm, er erhält Nusinersen. Damit das Medikament auch wirklich die Nerven im Rückenmark erreicht, muss es genau dorthin gespitzt werden. Trotzdem hat Jeannette Wonsik nicht gezögert: "Also anfangs haben wir gesagt, was haben wir noch zu verlieren? Wir probieren es."
    Der Spritze ins Rückenmark ist Routine für Ryans Ärztin Manuela Theophil. Sie sorgt für eine sterile Umgebung, überwacht Atmung und Kreislauf und gibt Ryan ein Beruhigungsmittel, damit er sich nicht bewegt: "Die eigentliche Prozedur ist, dass man in den Rückenmarkskanal punktiert unterhalb des Rückenmarks. Das Rückenmark wird somit nicht tangiert, dass es nicht verletzt werden kann. Das ist so das Prozedere.
    Nebenwirkungen sind auch bei Ryan bislang noch nicht aufgetreten. "Ihm geht es gut, mittlerweile macht er die Hände auf, bewegt die ganz gut, spielt ein bisschen mit seinem Mobile", erzählt seine Mutter. "Versucht den Kopf hin und her zu drehen und auch die Beine hoch zu bewegen. Und ich finde das einfach erstaunlich, dass so ein einfaches Medikament so viel Bewegung reinbringen kann. "Jetzt ist halt nur die Hoffnung, dass die Atmung auch noch was abbekommt."
    Theophil berichtet: "Die Eltern, die zur zweiten, dritten oder mehrmaligen Gabe kommen, die kommen einem lächelnd entgegen. Und wenn das Medikament hält, was es verspricht, ist es ein geniales Medikament. Schauen wir, was die Zeit bringt."
    Medikament nur für Härtefälle erhältlich
    Das Härtefallprogramm erfasst nur die schweren Formen der spinalen Muskelatrophie vom Typ 1. Es gibt mildere Varianten, auch da verlieren die Kinder nach und nach an Kraft, nur später und schleichender. Nusinersen hilft wahrscheinlich auch Ihnen, aber diese Kinder können es in Deutschland noch nicht erhalten.
    "Das ist für die Eltern sehr schwer erträglich", sagt Arpad von Moers. "Gerade auch in Kombination mit dem Eindruck, dass je früher desto besser der Behandlungserfolg ist. Manche sind laut verzweifelt, manche haben auch gedroht mit gerichtlichen Schritten, weil ihrem Kind eben eine Behandlung vorenthalten wird. Da ist sozusagen das ganze Spektrum an aggressiver aber eben vor allen Dingen verzweifelter Reaktionen dabei."
    "Man merkt es selber, wenn man nicht mithalten kann"
    Sebastian Fedder im Rollstuhl in einer Sporthalle
    Sebastian Fedder leidet an der Muskeldystrophie Duchenne (Deutschlandradio / Volkart Wildermuth )
    Rollstuhlhockey. Auf dem Feld rasen die Spieler mit zehn Stundenkilometern, drehen sich blitzschnell auf der Stelle, blocken dem Gegner den Weg. Für Sebastian Fedder ist das Training bei den Rocky-Rolling-Wheels in Hohenschönhausen der Höhepunkt der Woche: "Und natürlich, dass man sich überhaupt messen kann. Ich hab vorher auch, als ich noch ein bisschen fitter war, früher auch andere Sachen gemacht. Aber so eine Sportart, die wirklich auf einen ein bisschen zugeschnitten ist, ist schon etwas Besonderes. Und ich bin ja immer auch gern beim Eishockey und es hat auch ziemlich viel davon und von daher machte das ziemlich viel Spaß und ist auch echt faszinierend."
    Sebastian Fedder sitzt festgeschallt in seinem Rollstuhl. Rechts hat er noch genug Kraft, um den Schläger zu halten, die linke Hand steuert über eine kleinen Joystick. Noch.
    Muskeldystrophie Duchenne. Eine Form des erblichen Muskelschwunds. Trifft einen unter 3.500 Jungen. Ursache: eine Vielzahl unterschiedlicher Defekte im Dystrophin-Gen. Dystrophin ist wichtig für die Stabilität und die Kraftübertragung in den Muskelzellen. Mädchen haben zwei Kopien des Gens und erkranken deshalb nur sehr selten. Jungen mit einer Dystrophin-Mutation werden erst ungeschickt, dann können sie nicht mehr laufen. Nach und nach versagen immer mehr Muskelgruppen den Dienst. Im jungen Erwachsenenalter fallen dann auch Atmung und Herzmuskulatur aus.
    "Man merkt es ja auch selber, wenn man mit anderen Gleichaltrigen nicht so ganz mithalten kann", sagt Fedder. "Es steht natürlich auch immer im Raum. Und es führt natürlich auch dazu, dass man dann auch mal geknickt ist. Aber gut, in dem Alter haben andere Leute auch andere Probleme vielleicht. Da ist man auch nicht immer gut drauf."
    27 Jahre ist Sebastian Fedder alt. Nicht alle Patienten leben so lang. Entscheidend ist, wo und in welcher Weise das Dystrophin-Gen verändert ist. Da gibt es viele Möglichkeiten, schließlich handelt es sich um das größte bekannte menschliche Gen. Sebastian Fedder hat eine Punktmutation, nur ein einziger der 2,5 Millionen genetischen Buchstaben ist falsch.
    "Diese Veränderung führt dazu, dass quasi ein Stoppzeichen zu früh entsteht und dazu führt, dass quasi die Produktion des Proteins vorzeitig abgebrochen wird", erklärt Prof. Janbernd Kirschner, Leitender Oberarzt in der Klink für Neuropädiatrie und Muskelerkrankungen der Universitätsklinikum Freiburg. Und da wurden eben spezielle Medikamente entwickelt, die quasi dieses Stoppzeichen - man könnte bildlich sagen abdecken - und dazu führen, dass das Protein doch zum Teil ganz produziert werden kann."
    Krankenkasse bewilligt individuellen Therapieversuch
    Ataluren. Ein kleines Molekül, das der Zelle hilft, das falsche Stoppsignal im Dystrophie-Gen zu ignorieren. Das gelingt nicht bei jedem Ablesevorgang, aber bei einem nennenswerten Teil. In einer Studie zeigten die Versuchsteilnehmer zunächst keine Verbesserung. Auf längere Sicht scheint das Medikament aber doch einen positiven Effekt zu haben. Seit 2014 ist Ataluren in Europa vorläufig zugelassen, bis eine größere Studie klare Ergebnisse bringt. Die US-amerikanischen Behörden zögern noch.
    "Darüber hatten wir dann gelesen und da hatten wir dann mal nachgefragt und haben dann einfach mal bei der Krankenkasse als individueller Heil- bzw. Therapieversuch dann das beantragt", sagt Fedder. "Und die haben dann, muss ich selber sagen, hab ich ehrlich nicht mit gerechnet, es dann auch erst mal bewilligt."
    Jan Fedder war elektrisiert. Dabei ist Ataluren nur für Patienten vorgesehen, die älter als fünf Jahre sind und noch laufen können. Sebastian Fedder dagegen sitzt schon im Rollstuhl. Aber die Neuropädiaterin Claudia Weiß von der Berliner Charité setzt sich für ihn ein: "Bei diesem Patienten habe ich ebenfalls der Krankenkasse geschrieben, dass es aufgrund des Wirkmechanismus und erster, noch nicht veröffentlichter Daten, durchaus Sinn macht, auch diese Patienten zu behandeln, um die Armkraft und auch die Lungenfunktion möglichst lange zu erhalten." Auch im Fall eines dreijährigen Jungen, eigentlich zu jung für die Ataluren Behandlung, konnte Claudia Weiß die Kasse überzeugen. Der bürokratische Aufwand ist hoch.
    "Also man wird davon jetzt nicht wieder fit, muss man ganz klar sagen. Aber ein Fortschreiten soll da schon verhindert werden", erklärt Fedder. "Und da hab ich schon das Gefühl, dass es für mich schon was bringt. Und da würde ich mich dann im Sportverein noch ein bisschen mehr aktiver einbringen und da ein bisschen den Trainer machen. Und da freue ich mich drauf."
    Studien mit einer großen Masse von Patienten unmöglich
    Blutbestandteile von Studienteilnehmern werden im Labor untersucht.
    Für aussagekräftige Studien fehlen die Patienten - zu selten sind die Genkrankheiten (dpa/picture-alliance/Waltraud Grubitzsch)
    Bei einem einzelnen Kranken sind die Effekte objektiv kaum zu belegen. Aber Sebastian Fedder hat unbeabsichtigt ein kleines Experiment vorgenommen. Einmal blieb er unerwartet lange auf einem Ausflug und musste deshalb eine Dosis Ataluren auslassen. "Und da muss ich schon sagen, hatte ich das Gefühl zumindest, dass doch alles ein bisschen schwerer fällt und alles nicht so super funktioniert hat, was ich dann halt noch selber machen kann."
    Wenn es um ein neues Medikament gegen die Zuckerkrankheit geht, werden Studien mit hunderten, manchmal tausenden von Patienten gemacht. Das ist bei den seltenen Erbkrankheiten schlicht nicht möglich. Hier erhalten manchmal nur wenige Dutzend Patienten das neue Medikament. Claudia Weiß: "Das ist ein ganz großes Problem. Das ist nicht genug, um das Nebenwirkungen-Spektrum zu erfassen. Das ist nicht genug, um über eine Wirksamkeit bei einer großen Masse an Patienten wirklich etwas aussagen zu können."
    Wie schwierig es ist, die Situation realistisch einzuschätzen, hat sich bei der Muskeldystrophie Duchenne gerade erst wieder gezeigt. Ein Medikament hatte in Tierversuchen überzeugt, auch bei den ersten Patienten schien es etwas zu bewirken. Am Ende ließ sich aber kein Effekt nachweisen. Von Moers: "Es gibt da noch keinen goldenen Pfad, sondern das muss man immer wieder neu gucken: Welches Risiko gehen wir ein, welches Risiko gehen die Familien mit ein? Und das wird sicher in dem Bereich der seltenen Erkrankungen immer wieder Situationen geben, wo man sich einfach entscheiden muss. Okay – wir machen das jetzt, ohne dass wir eine wirklich ganz sichere Datenlage haben."
    Neue Konzepte reif für Einsatz an Patienten
    Bei den erblichen Muskelerkrankungen haben klassische Gentherapien bislang wenig erreicht. Inzwischen gibt es flexiblere Ansätze: Antisense-Medikamente und andere Wirkstoffe zur Rettung defekter genetischer Arbeitskopien. Die Erfolgsmeldungen der jüngsten Zeit zeigen, die Konzepte sind reif für den Einsatz an Patienten.
    Bei der Muskeldystrophie Duchenne bleibt aber ein ganz grundlegendes Problem: Ataluren und ein weiteres in den USA zugelassenes Medikament helfen potenziell etwa einem Viertel der Kranken. Der Rest hat andere Mutationen im Dystrophin-Gen, von denen einige nur bei einer Handvoll von Menschen auftreten. Klassische Medikamente lassen sich für so kleine Gruppen praktisch nicht entwickeln.
    Für sie heißt der neue Hoffnungsschimmer: CRISPR Cas. Hinter der Abkürzung verbirgt sich ein Werkzeug, das sich Forscherinnen bei Bakterien abgeschaut haben. Es besteht aus zwei Teilen: aus einer Schere für die Erbsubstanz und einem kurzen Molekül, das der Schere sagt, wo sie ansetzen soll. Gentechnologen haben CRISPR inzwischen zu einem hochpräzisen Skalpell für Operationen am Erbgut weiterentwickelt.
    Genetiker Cohn: Tränen bei Therapieerfolg
    "Irgendwann gab es dann mal einen Artikel in einer englischen Zeitschrift, dem Daily Telegraph, der darüber gesprochen hat, was das für eine revolutionäre Veränderung ist, diese Technologie. Und ich habe dann am Tag später über 30 E-Mails von Eltern von meinen Patienten gehabt. Und das war dann der Moment, wo ich beschlossen habe, die Forschung in meinem Labor komplett umzuändern." Der Genetiker Roland Cohn spezialisierte sich auf CRISPR.
    Am "Hospital für die kranken Kinder" im kanadischen Toronto konnte er mit der neuen Methode verschiedene genetische Defekte in Zellen von Duchenne-Patienten korrigieren, darunter auch eine Art Stottern im Dystrophin-Gen, das die genetische Information schwer lesbar macht: Eine Verdoppelung oder Duplikation, wie Genetiker sagen: "Als ich das erste Mal gesehen habe, dass wir die Duplikation von einem unserer Patienten bzw. ist eigentlich der Sohn von sehr guten Freunden von mir, entfernt haben und das Dystrophin Protein in voller Länge bekommen, ist schon ein sehr emotionaler Moment für mich. Sind mir schon die Tränen runter gelaufen, als ich das Bild gesehen habe."
    Gerade weil die Patientengruppen so klein sind, entsteht eine ganz enge, gegenseitige Bindung zu den Forschern. Das motiviert, gefährdet aber auch die Objektivität. "Wir haben alle paar Monate in unserem Labor ein Meeting, wo wir über die ethischen Komplikationen unserer Forschung sprechen und haben auch zum Beispiel dafür gesorgt, dass wir die Patientenzellen, mit denen wir arbeiten, nicht mehr mit Namen nennen, sondern es sich halt um Nummern handelt, um ein bisschen das Persönliche aus der Wissenschaft herauszunehmen und auch den Druck für die Wissenschaftler, die bei mir im Labor arbeiten und auch für mich selber ein wenig herunterzuschrauben."
    Patienten als Versuchskaninchen?
    In der Petrischale schneidet CRISPR zuverlässig. Derzeit laufen Versuche mit Mäusen, in denen einzelne Duchenne-Mutationen nachgestellt wurden. Die Tiere erkranken ähnlich wie die Menschen. "Und wir sind jetzt gerade dabei, diese Mäuse mit den CRISPR-Konstruktionen zu therapieren. Also ich kann Ihnen soweit sagen, dass wir, das sind alles vorläufige Ergebnisse, sind noch nicht abgeschlossen, aber das sieht alles sehr vielversprechend aus."
    Die Anwendung am Menschen ist noch Jahre entfernt. Sebastian Fedder macht sich keine großen Hoffnungen, dass CRISPR ihm selbst noch zugutekommen wird. "Also es ist immer die Frage: Wann steigt man da ein? Wenn man relativ früh einsteigt – ich will jetzt nicht das Wort Versuchskaninchen benutzen – aber im Endeffekt ist es teilweise so."
    Gerade wenn es um sehr seltene Duchenne-Mutationen geht, müsse man für mögliche CRISPR-Therapien wohl ganz neue Studienkonzepte entwickeln. Zumal zweifelhaft sei, ob sich so bereits verlorene Funktionen zurückholen lassen. Vielleicht gelingt es irgendwann, bei älteren Patienten wie Sebastian Fedder wenigstens die besonders wichtigen Fähigkeiten zu stabilisieren. Etwa die Beweglichkeit der Hand, um den Rollstuhl zu steuern.
    Roland Cohn: "Ich habe im November eine Gruppe von älteren Dychenne-Patienten getroffen, die waren alle über 20, und es war ein unglaubliches Erlebnis für mich, als sie mir gesagt haben: Solange ich noch meine Hand oder meinen Arm bewegen kann, wäre das schon genug für mich. Natürlich möchte jeder wieder aufstehen und laufen. Aber ich denke, dass verschiedene Patienten in verschiedenem Alter verschiedene Wünsche haben, im realistischen Bereich jetzt gesehen."
    Fedder entgegnet: "Es ist mir schon wichtig und es würde mich freuen, wenn wirklich ein Medikament rauskommt, wo man sagen kann: Der Fortschritt wird komplett aufgehalten oder vielleicht kehren sogar Funktionen zurück. Aber wenn es nicht so ist, kann man es nicht ändern und dann konzentriere ich mich trotzdem lieber auf die Sachen, die ich noch machen kann und mache mich da dann nicht verrückt."
    "Selbst wenn es nur Einbildung ist, ist es super!"
    "Es ging endlich eine Woche später los, nachdem sie die Punktion bekommen hatte, ging es los, dass wir eine Veränderung bemerkt haben. Sie wurde ein bisschen aktiver mit ihren Armen. Selbst wenn es nur Einbildung ist, ist es super!", berichtet Mona Hoffmann, die Mutter von Emma. "Wo ist er hin? Da ist er" Wo ist er hin? Kugel, oh, runtergefallen. Wo ist er hin? Danke. Danke, die auch noch."
    "Das sind halt Situationen, die ohne Medikament nicht möglich wären, dass wir halt die Kraft aufbringen, die Knete halt durch die Gegend zu schmeißen. Auch wenn es nicht weit ist, aber es sind schon deutliche Fortschritte", freut sich Vater Jan Hoffmann.
    "Wir können im Moment noch nicht sagen, ob es damit zu einer normalen oder annähernd normalen Entwicklung der Kinder kommen wird", erklärt Neuropädiaterin Claudia Weiß. "Das ist nicht sehr wahrscheinlich, muss man ehrlicherweise sagen. Aber wir erhoffen uns zumindest, dass der Krankheitsverlauf deutlich milder verläuft."
    Neugeborenen-Screening auf Muskelatrophie?
    Einen schmerzlosen Hörtest, durchgeführt bei einem neugeborenen Mädchen durch eine Krankenschwester.
    Neugeborene werden schon im Krankenhaus durchgecheckt - hier ein Hörtest (dpa-Zentralbild)
    Claudia Weiß rechnet damit, dass dank Nusinersen mehr Kinder wie Emma trotz ihrer spinalen Muskelatrophie lernen, selbstständig zu sitzen, vielleicht sogar zu stehen. Die Atemmuskulatur könnte stärker und damit die Lebenszeit länger werden. All das ist im Moment: Hoffnung. Aber Hoffnung, die Eltern und Ärzte beflügelt. Niemand weiß, ob Nusinersen die Krankheit auf Dauer in Schach halten kann. Aber die Studien haben eines gezeigt, betont Arpad von Moers:
    "Je früher, desto besser. Das heißt, dass die Patienten, die sehr früh behandelt werden, wahrscheinlich mehr profitieren als die, bei denen es später anfängt. Und es gibt da so eine kleine Gruppe von Patienten, die direkt seit Geburt behandelt werden. Und diese Gruppe, die entwickelt sich halt ganz erstaunlich gut, im Verhältnis zu den Kindern die wir sonst mit spinaler Muskelatrophie kennen."
    Bei diesen Kindern war das Risiko bekannt, weil ihre älteren Geschwister schon an der Krankheit litten. Meist aber tritt sie ganz unerwartet auf. Bevor die Symptome auffallen, geht viel Zeit verloren. "Das würde bedeuten, das würde perspektivisch bedeuten, dass man erwägen muss, tatsächlich die spinale Muskelatrophie in eine Art Neugeborenen-Screening aufzunehmen", gibt Weiß zu bedenken.
    "Das ist ja eine wichtige Voraussetzung, dass es eine Erkrankung ist, die durch eine frühe Behandlung entscheidend beeinflusst werden kann", sagt von Moers. "Und damit ist eigentlich das wichtigste Kriterium erfüllt, um eben diesen Aspekt, umso früher desto besser ist der Erfolg, auch umsetzen zu können."
    Neugeborenen-Screening. Am dritten Lebenstag wird ein Blutstropfen abgenommen, um darin nach Hinweisen auf 13 behandelbare Erkrankungen zu suchen: Phenylketonurie, Hypothyreose, seit 2016 auch Mukoviszidose.
    125.000 Dollar für eine Injektion
    Wenn sich bestätigt, was Nusinersen heute verspricht, dann können sich Claudia Weiß und Arpad von Moers vorstellen, dass die spinale Muskelatrophie hier Nummer 14 wird. Dann müssten aber die Kinder über viele Jahre mit dem Antisense-Medikament versorgt werden. Und das wird teuer. Der Hersteller Biogen verlangt in den USA 125.000 Dollar für eine Injektion. Im ersten Jahr summiert sich das auf eine dreiviertel Million pro Kind, die Erhaltungsdosis soll später die Hälfte kosten. Neuropädiater Janbernd Kirschner: "Es ist natürlich so, dass die Anzahl der Patienten, die behandelt werden, relativ gering ist, und trotzdem die Entwicklungskosten immens hoch sind. Sodass es nicht zu vermeiden ist, dass auch die Preise pro Patient dann recht hoch sind."
    Wie sich Kosten und Gewinn tatsächlich zueinander verhalten, wissen letztlich nur die Unternehmen. "Bisher, denke ich, ist das für das Gesundheitssystem eigentlich kein Problem, gerade wenn man das auch in Relation setzt zu anderen Kosten, die im Gesundheitssystem entstehen", sagt Kirchner. "Aber natürlich, wenn für mehr und mehr seltene Krankheiten solche Medikamente entwickelt werden, könnten die Gesamtkosten auch hier steigen."
    Die "heilbarste der unheilbaren Gehirnkrankheiten"
    Huntingtonsche Krankheit. Bei dieser Erbkrankheit werden die Patienten im Alter von 30, 40 Jahren erst ungeschickt, dann beginnen die Glieder unwillkürlich zu zucken, bis sie manchmal für Stunden in einer Haltung festsitzen. Die Symptome werden immer stärker, innerhalb von zehn bis 20 Jahren sterben die Betroffenen. Die Krankheit wird dominant vererbt. Das heißt: Jeder Patient konnte an einem Elternteil sehen, was auf ihn selbst zukommt.
    "Ich bin ein geborener Optimist. Aber es gibt gute Gründe, bei Huntington optimistisch zu sein." Edward Wild, Neurologe am University College London, hat Huntington in einem Artikel einmal als die "heilbarste der unheilbaren Gehirnkrankheiten" bezeichnet. Anders als bei Alzheimer oder Parkinson ist die Ursache von Huntington seit mehr als 20 Jahren bekannt: Eine Veränderung in einem Gen auf Chromosom 4, welche das daraus abgeleitete Protein zum Gift für Nervenzellen macht.
    Ionis-HTTRx. Dieses Antisense-Medikament bindet an die Arbeitskopie des Huntington-Gens und führt zu dessen Abbau durch die Zellen. Es entsteht viel weniger giftiges Protein und die Nerven überleben. HTTRx muss ähnlich wie Nusinersen in die Rückenmarksflüssigkeit gespritzt werden. Tierversuche zeigen: Das Medikament kann das Fortschreiten der Symptome stoppen, zum Teil sogar zurückdrängen.
    "Die ersten Spritzen haben wir Patienten im September 2015 verabreicht", berichtet Wild. "In diesen 18 Monaten wurden die Dosierungen mehrmals erhöht, ohne dass es Nebenwirkungen gab. Wir geben ein Medikament, das die Aktivität von Genen im Gehirn beeinflusst. Dass es hier keine nennenswerten Probleme gab, ist wirklich ein wichtiger Schritt voran."
    Die Studie läuft noch bis Ende 2017. Erst dann wird sich zeigen, ob HTTRx auch im menschlichen Gehirn greift und ob das einen Einfluss auf die Bewegungsstörungen hat.
    Neue Perspektiven schaffen
    Mona Hoffmann: "Sie ist auf jeden Fall kräftiger, ein bisschen aktiver mit ihrer Armfunktion. Sie kann jetzt eben auch ein bisschen länger einen Löffel halten, was sie vorher einfach nicht konnte. Umrühren in der Tasse klappt auch ganz gut irgendwo raufhauen mit dem Gegenstand Mama helfen." Ihr Mann Jan erzählt: "Hoffnung ist immer ziemlich schwer. Was erhofft man sich? Dass die Lebensqualität besser wird als ohne Medikament. Dass die Lebenserwartung von ihr deutlich gesteigert wird und sie, wenn sie dann irgendwann mal erwachsen wird, auch ordentlich am Leben teilnehmen kann."
    Jan und Mona Hoffmann fassen für Emma neue Perspektiven ins Auge. Bei der spinalen Muskelatrophie sind die Effekte am offensichtlichsten, aber Nusinersen steht für eine breitere Bewegung von der Petrischale hinein in die Klinik. Auch Erbkrankheiten wie Duchenne und Huntington wirken nicht mehr unüberwindlich. Falls die Wirkstoffe am Ende doch nicht überzeugen, gibt es noch andere: Kleine Moleküle, Antisense-Medikamente und Gentherapien.
    Etliches ist in der klinischen Prüfung, zum Teil mit ersten positiven Signalen. Auf lange Sicht hat vielleicht CRISPR das Zeug, viel zu verändern. All diese Beispiele zeigen: Es ist möglich, den Nerven- und Muskelzellen zu helfen. Und wenn das nur bei einer Krankheit gelingt, war es in den Augen von Ed Wild die Mühe wert.
    "Diese Krankheiten sind sehr selten. Man könnte sagen, das sind hoch spezialisierte Therapien für Nischenanwendung, das ist doch egal. Aber da bin ich ganz anderer Meinung. Wir bringen diese Krankheiten aus dem Feld des Unheilbaren in den Bereich der möglichen Behandlungen. Und jedes Mal, wenn uns das gelingt, ist das ein Sieg für die Menschheit."