Freitag, 19. April 2024

Archiv

Genozide
Italiens Scheinheiligkeit im Umgang mit dem Völkermord

In Italien hat man den Genozid an den Armeniern durch die Türken schon im November 2000 offiziell zum Völkermord erklärt – und schaut deshalb mit einem Kopfschütteln gen Norden wegen der jetzt erst beschlossenen Resolution im Deutschen Bundestag. Indes: Die eigenen Gräueltaten während der Kolonialzeit bleiben weiterhin ein Tabu-Thema.

Von Karl Hoffmann | 13.06.2016
    Historische schwarz-weiß-Aufnahme von 1922: Ein Auto fährt durch eine ihm zujubelnde Menschenmenge.
    Italiens Diktator Benito Mussolini wollte in Äthiopien eine eigene Kolonie errichten. (dpa/picture alliance)
    Nur kurzzeitig fand die Armenien-Resolution im Deutschen Bundestag Widerhall in den italienischen Medien.
    "Endlich gibt Deutschland mal etwas zu, endlich gesteht Deutschland, schuldig zu sein, endlich sagt man, dass man an dem Völkermord teilhatte."
    Erklärte Alberto Faustini, Chefredakteur mehrerer Tageszeitungen in Südtirol im italienischen Rundfunk. Einer Höreranfrage, ob es nun nicht an der Zeit sei, auch andere Völkermorde zu verurteilen, ging er aus dem Weg. Vergangenheitsbewältigung ist in Italien tabu. Noch immer gilt der Spruch: "Italiani brava gente" – wir Italiener sind ein nettes Volk. Die Wahrheit sieht anders aus.
    "Heute am 9. Mai 1936 wird das Schicksal Äthiopiens besiegelt. Italien hat jetzt endlich sein eigenes Reich."
    Verkündete Diktator Benito Mussolini seinem Volk in Rom. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hatte Italien als letztes europäisches Land versucht, sich eigene Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent zu sichern. Mit blutigen Feldzügen wurden die letzten noch zu erobernden Gebiete überzogen. 20 Jahre lang dauerte es, bis die Einwohner Libyens in die Knie gezwungen waren. Danach ging man an die Eroberung des Königreichs Äthiopien. Mit unvorstellbaren Opfern unter der einheimischen Bevölkerung, wie der Historiker Angelo del Boca herausgefunden hat.
    "Die Gesamtzahl der Opfer während der sieben Monate des Eroberungskrieges und der fünfjährigen Besatzungszeit kann man auf etwa 200.000 beziffern. Aber das sind nur vorsichtige Schätzungen. Was die Feldzüge in Libyen zwischen 1911 und 1932 anbelangt, muss man von weit über 100.000 Opfern ausgehen. Zur Hälfte Krieger, die ihr Land verteidigten, der Rest Zivilisten."
    Haile Selassie, der im Exil lebende Herrscher des Königreiches Äthiopien, sprach sogar von 700.000 Opfern, als er 1938 vor der Versammlung des Völkerbundes in Genf die von italienischen Truppen begangenen Kriegsgräuel anprangerte.
    "Ich bin nach Genf gekommen, um vor aller Welt die infamen Methoden der italienischen Luftwaffe anzuklagen, die mit Giftgas unsere friedliche Bevölkerung angreift. Die Welt wird ein Urteil sprechen über unsere Angreifer."
    Genau das passierte aber nicht, obwohl die Vorwürfe völlig gerechtfertigt waren. Nachdem die abessinischen Truppen wie vorher bereits die Beduinenstämme in Libyen sich immer wieder erfolgreich gegen die Eroberer aus Italien wehrten, griff die römische Heeresführung zu drastischen Mitteln gegriffen. Feldmarschall Pietro Badoglio, befahl auf Anweisung des Duce den verbotenen Einsatz von Senfgas, die Errichtung von Konzentrationslagern und die willkürliche Ermordung selbst von Frauen und Kindern, um den Widerstand zu brechen.
    Völkermord in Äthiopien
    Erfüllungsgehilfe war General Rodolfo Graziani, der später den Beinamen Schlächter von Äthiopien bekam und dessen Schlachtruf Bände spricht: "Der Führer will Äthiopien. Er bekommt es mit oder ohne Äthiopier." Taten, die niemals gesühnt wurden, wie der Historiker del Boca erklärt.
    "Die Hauptverantwortlichen für den Völkermord in Afrika kamen ungestraft davon. Mussolini wurde zwar hingerichtet, aber nicht wegen der Kriegsverbrechen in Afrika. Graziani wurde der Prozess gemacht, aber nicht wegen der Massenmorde in Libyen und Äthiopien."
    Graziani saß nach dem Krieg als Kollaborateur der Faschisten nur vier Monate in Haft. Feldmarschall Badoglio hatte mit den Alliierten schon 1943 einen Waffenstillstand ausgehandelt. Sie verhinderten im Gegenzug, dass er wie auch viele andere Faschisten für Kriegsverbrechen büßen musste. Dabei waren Badoglio wie Graziani zusammen mit weiteren 1.200 Italienern in der Liste von Kriegsverbrechern der Vereinten Nationen aufgeführt.
    Sie kamen aber weder vor das Nürnberger Militärtribunal, noch wurden sie ausgeliefert in jene Länder, die die Schauplätze italienischer Gräueltaten waren, unter anderem auch Jugoslawien.
    Von den mehr als 5.000 in Italien abgeurteilten Kriegsverbrechern wurden bis auf etwa 200 ausnahmslos alle begnadigt, galten posthum sogar als Helden. Feldmarschall Badoglio starb 1951 und wurde in seinem Heimatort Grazzano mit allen Ehren beigesetzt.
    Dem Schlächter von Äthiopien, General Graziani, hat man noch vor vier Jahren ein Ehrenmal in seinem Wohnort Affile vor den Toren Roms errichtet. Resigniert erklärte der Historiker del Boca:
    "In Italien herrscht eine komplette Verdrängung der italienischen Kolonialgeschichte und ihrer Verbrechen, Völkermorde und Unterdrückungen. Die italienischen Historiker wurden in ihrer Arbeit stets mehr behindert als gefördert."