Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Geologie
Das Rätsel der Tiefherdbeben

Im Mai 2013 ereignete sich vor der Küste Kamtschatkas ein sogenanntes Tiefherdbeben. Diese Art Erdbeben finden meist Hunderte Kilometer tief im Erdmantel statt und richten deshalb in der Regel keine Schäden an. Nun wollen Wissenschaftler das Phänomen besser verstehen - auch, weil es eigentlich gar nicht existieren dürfte.

Von Dagmar Röhrlich | 08.09.2014
    Am 24. Mai 2013 bebte die Erde im Ochotskisches Meer: Und während noch im 7.000 Kilometer entfernten Moskau die Hochhäuser schwankten, fiel auf der nahen Kamtschatka-Halbinsel kein einziges Haus zusammen. Der Grund:
    "Es war ein sehr tiefes Erdbeben, es ereignete sich rund 600 Kilometer unter der Oberfläche, im Erdmantel. Aber es war stark: Mit einer Magnitude von 8.3 ist es das größte bislang aufgezeichnete Tiefherdbeben überhaupt",
    erklärt Emile Okal von der Northwestern University in Chicago. Am Bebenherd riss das Gestein über 180 Kilometer Länge und 50 Kilometer Breite hinweg auf. Dabei dürfte es Tiefherdbeben eigentlich gar nicht geben:
    "Erdbeben sind, was wir einen spröden Bruch nennen: Sie entstehen meist in den oberen 70 Kilometern der Erdkruste, wenn sich tektonische Spannungen zwischen zwei Krustenplatten ruckartig entladen. Sie sind das Äquivalent zu brechendem Glas. Aber wenn Sie Glas erhitzen, wird es formbar. Mit Steinen ist es ebenso: In 609 Kilometern Tiefe, wo sich das Ochotsk-Beben ereignet hat, sollten die Gesteine plastisch wie geschmolzenes Glas reagieren und nicht mehr brechen."
    Und als wäre das Ochotsk-Beben an sich nicht schon ungewöhnlich genug: Es wurde von einem sehr bizarren Nachbeben der Magnitude von 6,7 begleitet. Zhongwen Zhen von der University of California in San Diego:
    "Ein Beben diese Stärke sollte eigentlich rund acht Sekunden dauern. Aber das hier war nicht einmal zwei Sekunden lang. Normalerweise öffnet sich bei einem Erdbeben der Riss mit rund drei Kilometern pro Sekunde, in diesem Fall waren es acht Kilometer pro Sekunde, also fast dreimal so schnell."
    Damit durchbrach dieses Nachbeben ein spezielles Tempolimit: Bis vor kurzem waren Seismologen überzeugt, dass ein Erdbeben langsamer sein müsse als ein bestimmter Wellentyp, den es auslöst - die sogenannten Scherwellen. Die scheint dieser Riss jedoch überholt zu haben. Damit zählte er zu den seltenen Superschnellen Erdbeben:
    "Superschnelle Erdbeben sind die seismische Entsprechung zum Überschallflug. Die sechs Ereignisse dieser Art, die wir zuvor kannten, waren flache Beben, ereigneten sich an Störungen in der Erdkruste, bei denen zwei Platten horizontal gegeneinander versetzt werden."
    Dieses Nachbeben ereignete sich jedoch im Erdmantel, unter der Last von 640 Kilometern Gestein. Klar ist: Tiefherdbeben entstehen an Subduktionszonen, wo die Meereskrustenplatte ins Erdinnere sinkt. Genauer: in einer Übergangszone im Erdmantel, in der Drücke und Temperaturen so hoch sind, dass sich die Struktur der Gesteine verändert: Das heißt, die Atome in den Kristallen werden dichter gepackt. Dadurch schrumpft das Volumen - und genau das könnte Tiefherdbeben auslösen. Emile Okal:
    "In den Daten des Magnitude 8,3-Erdbebens von Ochotsk sehen wir Hinweise auf eine Implosion. Wir vermuten Folgendes: Die Meereskrustenplatte, die an den Subduktionszonen in den Erdmantel sinkt, bleibt kühler als ihre Umgebung. In ihr verzögern sich deshalb die Veränderungen im Kristallgitter: Sie sinkt unverändert in Bereiche ab, in denen sie metastabil ist. Ein kleiner Impuls reicht, und schlagartig ändert sich die Kristallstruktur. Das löst die Implosion und die das Erdbeben aus."
    Was dann passiert, dazu schlägt der Seismologe Thorne Lay von der University of California in Santa Cruz folgende Theorie vor:
    "Stellen Sie sich den immensen Druck und die enormen Temperaturen vor, unter dem das Gestein steht, wenn sich das Gestein diesseits und jenseits der Bruchzone gegeneinander bewegt: Das kann die Bruchfläche so weit aufheizen, dass Schmelzen entstehen, die den Prozess dann so weit schmieren, dass sich auch im Erdmantel ein Bruch über 180 Kilometer hinweg ausbreiten kann."
    Vor dem Ochotsk-Beben war nur ein weiteres Tiefherdbeben mit modernen Methoden analysiert worden: das von Bolivienbeben aus dem Jahr 1994. Obwohl sich beide in vergleichbarer Tiefe ereigneten, sind sie sehr verschieden. So war das Bolivienbeben extrem langsam:
    "Es sieht so aus, als ob es beim Bolivienbeben keinen scharfen Bruch entlang einer Störung gegeben habe, sondern als sei ein ganzes Gesteinspaket vollkommen zerschmettert und durchgearbeitet worden und sehr viel Schmelze entstanden. Das Ochotsk-Beben entwickelte sich hingegen entlang einer klaren Bruchfläche, verhielt sich eher wie ein flaches Erdbeben."
    Vielleicht sind für die verschiedenen Ausprägungen der Tiefherdbeben die Eigenschaften des ehemaligen Meeresbodens entscheidend. Das vermuten die Seismologen: Vor Kamtschatka sinkt sehr alte und kalte Meereskrustenplatte in den Erdmantel ab, während die vor Südamerika - geologisch gesehen - jung und warm ist. Und so warten die Forscher auf das nächste Ereignis, um ihre Theorien zu prüfen.