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Geologische Abspaltung Großbritanniens
Der Ur-Brexit

Das Verhältnis Großbritanniens zum europäischen Kontinent bröckelt gerade gewaltig. Doch die politische Krise ist im Vergleich zum ersten Brexit wohl noch harmlos: Vor circa 160.000 Jahren brach die geologische Verbindung zum Kontinent: Forscher vermuten, dass damals eine Flutwelle den nördlichen Teil Europas abspaltete und die neue Insel entstehen ließ.

Von Tomma Schröder | 05.04.2017
    Ärmelkanal zwischen Calais und Dover - Landkartenausschnitt
    "Wenn der Steindamm nicht gebrochen wäre, dann wäre Britannien nie eine Insel geworden" - zwischen Calais und Dover verband ein großer Damm aus Kreidefelsen die Insel und den Kontinent einst. (imago stock&people / Steinach)
    Zwischen Calais und Dover sind sich Großbritannien und der europäische Kontinent eigentlich ganz nah. Doch selbst hier, wo sich heute eine rund 30 Kilometer breite Meerenge befindet, war man sich schon einmal näher. Ein großer Damm aus Kreidefelsen verband die Insel und den Kontinent einst. Um herauszufinden, wie diese Verbindung zwischen Europa und Großbritannien in die Brüche ging, untersuchte ein Team um Sanjeev Gupta vom Imperial College London den Meeresboden im Ärmelkanal mithilfe von seismischen Messungen.
    "Wir haben entdeckt, dass ganz in der Nähe des Eurotunnels riesige Löcher im Meeresboden sind. Sie wurden in den Stein reingewaschen und sind bis zu einhundert Meter tief. Und was interessant ist: Sie treten komplett isoliert auf und bilden eine Reihe, die genau quer zu der Straße von Dover verläuft."
    Die erste Episode des Ur-Brexits
    Vermutlich liegen diese Löcher genau dort, wo sich einst der Kalksteindamm von Frankreich nach Großbritannien zog, meint Gupta. Sie sind Hunderttausende von Jahren alt und wurden vermutlich durch das Schmelzwasser eines eiszeitlichen Sees verursacht.
    "Wir vermuten, dass dieser See in der südlichen Nordsee an einigen Stellen übergelaufen und über den Damm geflossen ist. Es sind also riesige Wasserfälle an diesem Steindamm entstanden, die an seinem Fuß diese tiefen Löcher in den Boden gegraben haben."
    Diese Theorie passt zu vorherigen Hypothesen, die nahelegten, dass der Damm zwischen Calais und Dover vor circa 450.000 Jahren allmählich überflutet und erodiert wurde. Doch Sanjeev Gupta und sein Team sehen darin nur die erste Episode des Ur-Brexits. Um die Verbindung zum Kontinent endgültig zu kappen, war ein zweites, wohl weitaus dramatischeres Ereignis notwendig.
    "Als wir uns die Topografie des Meeresboden angesehen haben, haben wir auch ein riesiges Tal entdeckt, das sich mitten in der Straße von Dover erstreckt. Dieses Tal hat sich 20 bis 30 Meter tief in den Stein gegraben und muss durch riesige Fluten geformt worden sein. Es überschneidet sich mit den tiefen Löchern der Wasserfälle. Und an der Art der Überschneidung können wir sehen, dass diese Flut zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt sein muss."
    "Unsere Forschung zeigt den Brexit 1.0"
    Die Forscher vermuten, dass der erodierte Damm vor etwa 160.000 Jahren gebrochen sein muss. Den genauen Grund für die gewaltige Flut kennen sie noch nicht. Aber sie sind sich sicher, dass sie katastrophale Auswirkungen gehabt haben muss. Sie veränderte auch den Flusslauf des Rheins erheblich und hatte Folgen für ganz Nordwesteuropa. Folgen, die bis heute spürbar seien, meint der Geologe:
    "Es ist schon eine interessante Botschaft, dass Britanniens Identität als eine Inselnation das Ergebnis eines zufälligen geologischen Ereignisses ist. Wenn dieser Steindamm nicht gebrochen wäre, dann wäre Britannien nie eine Insel geworden. Die ganze britische Geschichte wäre eine andere gewesen. Man kann sagen: Unsere Forschung zeigt den Brexit 1.0, und im Moment befinden wir uns im Brexit 2.0." (lacht)
    Auch wenn er sich vor allem mit dem ersten Brexit beschäftigt, kann sich Sanjeev Gupta einen Kommentar zum politischen Nachfolger nicht ganz verkneifen und verweist darauf, dass seine Studie ohne die Zusammenarbeit mit den europäischen Nachbarn nicht möglich gewesen wäre:
    "In some ways it makes me a little sad because North West Europa does collaborate very well."