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George Steiner
Rabbi und Lehrer der europäischen Kultur

Der amerikanische Literaturwissenschaftler George Steiner ist zeitlebens ein souveräner und streitbarer Geist gewesen. In seinem neuen Buch "Ein langer Samstag. Ein Gespräch mit Laure Adler" huldigt der Mann, der sich stets als Lehrer empfunden hat, einer Welt, für die das Denken die Essenz des Lebens ist.

Von Thomas Palzer | 17.05.2016
    Der amerikanische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller George Steiner
    Der amerikanische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller George Steiner (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
    George Steiner ist zeitlebens weniger textfrommer Philologe gewesen, denn ein souveräner und streitbarer Geist, jemand, der Stellung bezogen hat. Der Daseinsstil, den der leidenschaftlich ins Denken verliebte Intellektuelle gepflegt hat, lässt sich als europäisch kennzeichnen – als eine Mischung aus kontinentaleuropäischer Metaphysik und englisch-analytischer Skepsis. Als europäischer Geist bezieht sich der jüdische Steiner damit freilich selbst in eine Geschichte mit ein, die neben dem humanistischen Gymnasium und den Menschenrechten auch den Holocaust zu verantworten hat.
    Wie all das derselbe Boden hat hervorbringen können und wie es zusammengeht, das ist eine Frage, die den enzyklopädisch gebildeten Steiner zeitlebens beschäftigt hat. Dass die Frage nach wie einer Antwort harrt, ändert im übrigens wenig daran, dass man eine Gegenwart, die so in Sport und Quote vernarrt ist wie die unsere, gern mit mehr so feinen und erlesenen Geistern wie Steiner bevölkert sähe.
    Inzwischen ist Steiner 87 Jahre alt und am Ende seines Lebens angekommen. Zeit, Bilanz zu ziehen. Die französische Journalistin Laure Adler hat Steiner über Jahre hinweg immer wieder in seinem Landhaus aus rotem Backstein in Cambridge besucht. Herausgekommen ist ein langer Samstag, wie es der Meisterdenker und Kosmopolit nennt - in Anspielung auf seine eigene Rede von der Gegenwart als langem Nachmittag der abendländischen Kultur.
    Materialisiert hat sich das Gespräch als schmaler, aber geschliffener Gesprächsband, in dem all die Motive zur Geltung kommen, um die sich Steiners Denken hartnäckig dreht und gedreht hat: um das Problem der Sprache, um Kafka, Heidegger und um das Judentum.
    "Ich weiß, dass Israel ein unentbehrliches Wunder darstellt. Möglicherweise werden meine Kinder und Enkel dort eines Tages ihre einzige Zuflucht finden. Ich weiß all das. Und ich kann es nicht akzeptieren, weil ich glaube, dass der Jude eine Aufgabe hat: ein Pilger, ein Gast zu sein. Überall Gast zu sein, um dem Menschen langsam und gemäß seiner Mittel, zum Verständnis zu verhelfen, dass wir alle Gast sind auf dieser Erde."
    Steiner lässt das gesamte 20. Jahrhundert in biografischen Anekdoten, intellektuellen Gedankenblitzen und essayistischen Einschüben vor dem inneren Auge des Lesers auferstehen – eine Tour de force durch die Gedankenwelten, von denen die letzten hundert Jahre geprägt worden sind – von der Psychoanalyse, vom Marxismus, vom Strukturalismus und Dekonstruktivismus. Gestreift werden aber auch Tendenzen in der gegenwärtigen Pädagogik oder die Diskussion um das vermeintliche oder wirkliche Ende der Buchkultur.
    "Wenn der Computer und die ersten Computersprachen ... in Indien erfunden und entwickelt worden wären und wenn die ersten Formeln der Programmiersprachen auf der hinduistischen Grammatik basierten, wäre die Welt jetzt eine andere. Der Planet sähe anders aus.
    Zwischen der neuen Auffassung einer Minimalsprache und der natürlichen Struktur des Angloamerikanischen existiert eine fantastische Übereinstimmung. Warum macht das Deutsche die Leute halb wahnsinnig, in der Philosophie hingegen alles möglich?"
    Verknüpfung von Denken und Sprache
    Denken und Sprache sind für Steiner dialektisch verknüpft, denn es ist das eine, das das andere formt und ihm sein Gepräge gibt. Sprache wie Denken sind Phänomene, die nicht universell sind, sondern geschichtlich. Jede Sprache, die gesprochen wird, eröffnet eine andere Wirklichkeit, die aber ihrerseits von keiner Sprache erschöpft werden kann. Mit jeder Sprache, die der Menschheit verloren geht, geht darum ein unerhörter Reichtum an Perspektiven, an Denk- und Sichtweisen verloren. Das Geheimnis der Existenz besteht ja in der jeweiligen Empfindung. Diese Verarmung im Linguistischen stellt für den großen Gelehrten nur ein Hinweis unter vielen dar, die insgesamt auf eine fast metaphysisch zu nennende Verarmung des zeitgenössischen Menschen hinweisen. Steiner ist kein Kulturpessimist, aber er bleibt angesichts des Optimismus, den die Gegenwart sich selbst gegenüber verordnet hat, skeptisch.
    Das Problem des Schweigens und der Stille
    Doch zum Problem der Sprache gehört zwingend das Problem des Schweigens und der Stille – gehören also jene Bereiche, zu denen die Sprache nicht vordringt, etwa Mathematik und Musik. Steiner selbst wollte in Chicago ursprünglich Naturwissenschaften studieren, weil seine mathematischen Fähigkeiten jedoch nicht genügten, wandte er sich enttäuscht der Philosophie und Literatur zu. Das Glück des Lesens entdeckte er danach.
    Ist die Stille als logischer Schatten der Sprache selbst Teil der Sprache?
    "In Princeton habe ich als junger Mann eine Episode erlebt, die für mich entscheidend war: Die Tür stand offen, und eine Gruppe von Mathematikern arbeitete mit atemberaubender Geschwindigkeit an der Tafel, sie schrieben mit Kreide algebraische topologische Formeln. Japaner waren darunter, Russen, Amerikaner. Absolute Stille. Da sie nicht dieselbe Sprache hatten, konnten sie sich nicht mittels gesprochener Worte verständigen. Aber sie verstanden einander in der Stille ihrer Gedanken. Das war eine enorme Offenbarung für mich."
    Kreative Schöpfung der Sprache
    Stille und Schweigen kommen für den Gelehrten aber vor allem auch in der Sprache der Sexualität zum Tragen, im Argot des Sexuellen bzw. in dessen Tabuisierung:
    "Jede Sprache hat ihren Eros, ihren sexuellen Jargon, ihre erotischen Geistesblitze. Aber es gibt auch jene, die sagen, in der wirklichen Liebe müsse Schweigen herrschen. Einige Kulturen favorisieren erotische Ausdrücke, in anderen sind sie völlig tabu."
    Für George Steiner ist die kreative, schöpferische Beziehung zwischen Denken und Sprache ihrerseits abhängig von dem biologischen Geschlecht, das diesem Prozess jeweils zugrunde liegt. Steiner erweist sich hier als Anhänger der Sprechakttheorie, die in jeder Äußerung immer zugleich eine Handlung erkennt. Frauen benutzen ein anderes Vokabular als Männer – und dasjenige Vokabular, das beiden zur Verfügung steht, wird von jedem Geschlecht auf seine Weise benutzt. Besonders offensichtlich wird das am Donjuanismus der Sprache, am sexuellen Argot, wie Steiner es nennt, der fragt, warum es keinen weiblichen Casanova gegeben habe.
    "Man weiß noch so gut wie nichts über den Zusammenhang des parasympathischen Systems mit den Hirnzentren, die den Sprachgebrauch regeln. Und doch ist der Mensch ein Tier, das spricht ... Es geschieht äußerst selten, selbst bei großen Schriftstellern, dass den erotischen Ressourcen einer Zivilisation etwas hinzugefügt wird. Proust gelingt es mit dem Ausdruck "faire cattleya". Cattleya ist eine Orchideengattung mit großen, farbenfrohen Blättern. Das ändert alles. Nabokov gelingt es mit Lolita; seitdem gibt es Lolitas an allen Straßenecken. Vorher hatte niemand sie gesehen. Eine wunderbare Bereicherung der Wahrnehmung."
    George Steiner versteht sich als Rabbi und Lehrer der europäischen Kultur. In dieser Eigenschaft ist er ein beharrlicher Vertreter zweifelhafter Techniken wie dem Auswendiglernen - und beharrlicher Fan zweifelhafter Bücher wie der Bibel, die man zu seinem Bedauern immer weniger liest und immer wenige kennt. In der modernen Erziehung erkennt er geplante Amnesie.
    "Wenn ich bin, was ich bin, dann deshalb, weil ich kein Schöpfer war. Das erfüllt mich mit tiefer Trauer. Gern würde ich sagen, dass sich da eine biografisch bedingte Seite zeigt, die große jüdische Tradition, auf die ich mich so oft berufe.
    Mein Vater war überzeugt, dass etwas zu schaffen zwar gut sei, aber auch verdächtig. Lehrer zu sein ist der höchste Auftrag. Das Wort 'rabbonim' (Rabbi) hat im übrigen die Bedeutung Lehrer. Ein absolut weltlicher Begriff, der nichts Heiliges an sich hat. Ein rabbonim sein."
    Die Essenz des Lebens
    Zu Beginn seiner erstaunlichen Karriere sollte Francis George Steiner eine Reportage über den Vater der Atombombe schreiben. Stattdessen wurde er dank dieses Robert Oppenheimer Fellow in Princeton. Das Buch ist eine Huldigung an eine Welt, für die das Denken die Essenz des Lebens ist. Es ist eine Welt, die allmählich hinter dem Horizont zu versinken scheint.
    George Steiner: "Ein langer Samstag. Ein Gespräch mit Laure Adler".
    Aus dem Französischen von Nicolaus Bornhorn. Hamburg 2016: Hoffmann & Campe, 159 Seiten, geboren, 15,99 Euro.