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Archiv


Geräusche aus dem Zettelkasten

Arno Schmidt hat häufig im Radio gelesen und somit die akustische Darstellung seiner Texte gebilligt. Der Hörer macht die Erfahrung, dass Schmidts Texte alles andere als spröde oder schwer verständlich sind, egal, wie abweisend das Druckbild mit den vielen Satzzeichen auch wirken mag.

Von Monika Künzel | 18.01.2014
    Er hört die Musikalität seiner Sprache, hört, wie lebendig und nah am gesprochenen Wort sie klingt. Es soll Schmidt-Leser geben, die – nachdem sie eine Schmidt-Lesung gehört haben – ihre Schmidt-Lektüre daheim laut fortsetzen. Mit dem Schauspieler Ulrich Wildgruber realisierte der Komponist und Regisseur Klaus Buhlert ein ehrgeiziges und anspruchsvolles Unterfangen: Arno Schmidts Trilogie "Nobodaddy’s Kinder2 als Radiofassung. Ermöglicht eine akustische Umsetzung einen zusätzlichen Werkzugang? Eine der Fragen, die der Literaturwissenschaftler Jörg Drews mit Klaus Buhlert, Ulrich Wildgruber und Bernd Rauschenbach von der Arno Schmidt Stiftung anhand zahlreicher Klangbeispiele und Lesungen in dieser Archivsendung diskutierte. Wir erinnern zum 100. Geburtstag von Arno Schmidt an diesen legendären Arno-Schmidt-Abend im Literaturhaus München im Herbst 1998.
    Stimmen für Arno Schmidt
    Die Bedeutung des Schriftstellers Arno Schmidt steht - bezogen auf die Literatur nach 1945 - nicht nur für Bewunderer seit mehreren Jahrzehnten außer Frage. Einer, der Schmidts Werke früh schätzen lernte wusste, war neben Alfred Andersch der weniger bekannte Schriftsteller Werner Riegel. 1955 schrieb Riegel in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Zwischen den Kriegen":
    "Wer ist Arno Schmidt? Ich will mein Ergebnis vorweg nehmen: Schmidt ist der bedeutendste deutsche Erzähler der Gegenwart. Ich wüßte ihn nicht anders zu bezeichnen, obwohl keiner seiner Erzählungen Erzählungen genannt werden kann; es ist eine Belletristik, so paradox modern, daß man ihr nur mit barocken Begriffen beikommen kann."
    Arno Schmids Leserkreis ist längst über den jener kleinen elitären Gemeinde in den 50er und 60er Jahren hinausgewachsen: Die Auflagen seiner Bücher sind heute so hoch, wie sie sonst nur von klassischen Volksschriftstellern oder aktuellen Bestseller-Autoren erreicht werden. Dieser Erfolg freilich kam posthum. Arno Schmidt war kein Hörspielautor. Für verschiedene Hörfunk-Nachtprogramme schrieb er statt dessen über "vergessene Kollegen" wie James Fenimore Cooper, Gustav Frenssen, Heinrich Albert Oppermann, Johann Karl Wezel, Karl Philipp Moritz, Christoph Martin Wieland, Karl Ferdinand Gutzow und andere. Das alles ist Literaturgeschichte. Warum aber beschäftigen sich akustische Medien im Jahr 1998 mit Arno Schmidt?
    Eine Antwort lautet: Es gilt, einen Erzähler für diese Medien zu entdecken oder auch wiederzuentdecken. Eine weitere Antwort: Arno Schmidts Erzählkunst präsentiert sich in den akustischen Medien, die sich für Sprachkunstwerke eignen, auf neue und ganz eigenständige Weise. Hier wird deutlich, dass Arno Schmidts erzählerische Qualität erheblich auf geschriebener, verdichteter Sprechsprache basiert.
    Herbert Kapfer in: Begleitheft zu:
    Audio Book : Arno Schmidt
    Nobodaddy"s Kinder
    Hörspielbearbeitung: Klaus Buhlert und Herbert Kapfer
    Regie: Klaus Buhlert
    Sprecher: Ulrich Wildgruber, Corinna Harfouch, Juliane Köhler und Jaqueline Macaulay
    erschienen in: DER Hörverlag
    Arno Schmidt
    Nobodaddy"s Kinder
    Mit e. Nachw. v. Hans-Ulrich Treichel.
    2005 Suhrkamp
    Den im Jahr 1953 publizierten Kurzroman "Aus dem Leben eines Fauns" verstand Arno Schmidt als nachgelieferten Einleitungsband zu einer mit "Brand's Haide" fortgesetzten und mit "Schwarze Spiegel" (beide 1951) abgeschlossenen Trilogie, die er 1963 unter dem Titel "Nobodaddy's Kinder" noch einmal im Verbund publizierte. In ihr entfaltet der Autor - für die Zeit zwischen dem totalen Krieg des "Dritten Reichs" bis zum (imaginierten) Atomkrieg in direktem Anschluss an das Ende des Zweiten Weltkriegs - ein giftiges Panorama von Kleinbürgermentalität und -gehabe.
    Schmidt hören!
    Auch (oder vielleicht: gerade) der Nicht-Schmidt-Leser weiß von Arno-Schmidt-Texten zumindest soviel: sie wimmeln von Kommata, Doppelpunkten, Ausrufe- und Fragezeichen, Semikolons und Punktfolgen und Gedankenstrichen, und kaum ein Wort wird so geschrieben, wie es laut Duden "richtich" sein soll. Texte also, die man weder vorlesen noch hören kann, ohne daß Entscheidendes verlorengeht. Richtig? - Gemach.
    Zum einen hat Arno Schmidt selbst oft (und hervorragend) im Radio gelesen, und somit die rein akustische Darbietung seiner Texte sanktioniert. Zum anderen gewinnt der Hörer auch etwas: die Erkenntnis, dass Schmidts Texte alles andere als spröde oder schwer verständlich sind, egal wie abschreckend ihm das Druckbild auf den ersten Blick erscheinen mag. Er hört plötzlich die Musikalität der Schmidtchen Sprache, hört, wie lebendig und nah am gesprochenen Wort sie ist. Und wenn er dann einmal die Lesung im gedruckten Buch verfolgt, wird der lesende Hörer bemerken, dass Schmidts exzessive Zeichensetzung in Wirklichkeit gar kein Lesehindernis als vielmehr Hilfsmittel zur Artikulation und damit auch zum Verständnis des Textes ist. Mit der Interpunktion bestimmt Schmidt Tempo, Pausen, Rhythmus, Betonung, Lautstärke und sogar Tonfall und Melodie seiner Sätze, ja bisweilen selbst die Mimik der Sprechenden. - Es soll Schmidt-Leser geben, die (nachdem sie einmal andere Schmidt haben vorlesen hören) - ihre Schmidt-Lektüre daheim im stillen Kämmerlein laut betreiben. Das wäre zumindest nicht der falscheste Weg, sich Schmidt zu nähern.
    Bernd Rauschenbach im Begleitheft zu Arno Schmidts Hörbuch NOBODADDY"S KINDER
    "Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser". Ziel der 1986 gegründeten Gesellschaft ist die Förderung und Verbreitung des Interesses am Werk des deutschen Schriftstellers Arno Schmidt (1914–1979) »Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser«.
    Veranstaltungen zu Arno Schmidts 100. Geburtstag: Arno Schmidt Stiftung
    2014 jährt sich der Geburtstag von Arno Schmidt zum 100. Mal. Aus diesem Anlass erscheint – pünktlich zu Schmidts Geburtstag am 18. Januar – in der edition text + kritik eine Sonderlieferung des Bargfelder Boten mit dem Titel "Im Meer der Entscheidungen". Sie enthält Aufsätze des ausgewiesenen Arno-Schmidt-Kenners und Gründers des Bargfelder Boten Jörg Drews und wird von Axel Dunker herausgegeben.
    Bargfelder Bote. Materialien zum Werk Arno Schmidts (abgekürzt BB) ist eine literaturwissenschaftliche deutsche Fachzeitschrift, die sich mit Werk und Leben des deutschen Schriftstellers Arno Schmidt (1914–1979) beschäftigt. Mehr bei Wikipedia
    Materialien zum Werk Arno Schmidts, herausgegeben von Jörg Drews: Der Bargfelder Bote
    Weitere Links:
    Ulrich Wildgruber, (1937 bis 1999) Schauspieler. Seine Biografie im Lexikon zum deutschsprachigen Lexikon CineGraph
    Bernd Rauschenbach, Literaturwissenschaftler bei Wikipedia
    Jörg Drews (1938 bis 2009), war ein deutscher Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker bei Wikipedia
    Klaus Buhlert ist ein deutscher Komponist, Hörspielregisseur und Hörspielautor bei Wikipedia
    Arno Schmidt
    Das große Lesebuch
    Herausgegeben von Bernd Rauschenbach
    2013 FISCHER Taschenbuch
    In der Auseinandersetzung mit der europäischen und amerikanischen Avantgarde hat Arno Schmidt eigene, äußerst originelle und vielfältige Formen des Erzählens entwickelt. Seit dem Erscheinen seiner Erzählung Leviathan (1949) zählt er zu den bedeutendsten Schriftstellern der deutschen Nachkriegsliteratur.
    Das große Lesebuch versammelt eine Reihe von kürzeren Texten Arno Schmidts, die das Werk in seiner gesamten Vielfalt darstellt und den Erzähler ebenso präsentiert wie den Essayisten, den Sprachvirtuosen ebenso wie den scharfen Analytiker. Die Mischung von bekannten und unbekannten Texten lädt dazu ein, dieses gewaltige Werk neu zu entdecken.
    Bernd Rauschenbach, leitender Vorstand der Arno-Schmidt-Stiftung, hat die Texte für das Lesebuch zusammengestellt und mit einem biographischen Nachwort ergänzt.
    Arno Schmidt
    "Und nun auf, zum Postauto!!"
    Briefe von Arno Schmidt. Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag. Hrsg. v. Susanne Fischer u. Bernd Rauschenbach
    2013 Suhrkamp
    "So! : ich hätte s wieder mal überlebt. ... Das Ergebnis? Je nun; ich bin da realistisch ... Besseres, als ich bereits vorgelegt habe, werde ich wohl nicht mehr vermögen." So Arno Schmidt an seinen Schriftstellerkollegen Hans Wollschläger nach Abschluss der Arbeit am Roman "Kaff auch Mare Crisium". Überraschend offen äußert sich der einzelgängerische Autor seinen wenigen Freunden gegenüber, spitz und oftmals geradezu maliziös sind seine Formulierungen, wenn er sich etwa an seinen Verleger Ernst Krawehl wendet. Doch welchen Ton er auch anschlägt, immer schon wusste er um sein "großes Talent, Briefe zu schreiben".
    Mehr als 150 Briefe Arno Schmidts versammelt dieser Band, die meisten davon bislang unpubliziert. Unter den Empfängern finden sich Mutter und Schwester, Kriegs- und Schulkameraden, Verleger und Autoren. Die Korrespondenz gibt pointiert formulierte Einblicke in den entbehrungsreichen und ungeheuer disziplinierten Alltag und dient dabei immer auch der Selbstvergewisserung als Schriftsteller: Arno Schmidt erzählt in seinen Briefen anschaulich und witzig vom Leben und vom Schreiben.